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chrismon: Was versteht man unter Identitätspolitik?
Marina Martinez Mateo: Identitätspolitik hat eine lange und ziemlich komplexe Geschichte, auch im politischen Denken: Heute meint Identitätspolitik aber meist ein Streiten um Sprache und um die Akzeptanz einer Vielfalt von Körpern und Lebensformen. In den Zeitungen ist häufig von "woken" Linken und vermeintlich übertriebenen Sprachkonventionen zu lesen, das meiste davon scheint mir kaum den Kern des Anliegens zu treffen. Trotzdem sehe auch ich Probleme, vor allem die Schwierigkeit, breite Bündnisse zu bilden. Die bräuchte es aber dringend, um gegen die aufstrebenden Rechten und Autoritären vorzugehen.
Sprechen die Erfolge nicht für die Identitätspolitik?
Auf jeden Fall! Aber ich finde es trotzdem wichtig, sich auch die Grenzen dieser Erfolge vor Augen zu führen. Es stimmt, dass die Sprache sensibler geworden ist und dass sich Vielfalt viel stärker gesellschaftlich abbildet als noch vor dreißig Jahren, zum Beispiel in der Popkultur. Doch zugleich hat sich für viele Menschen einiges auch nicht wirklich gebessert. Häusliche Gewalt hat nicht nur mit Sprache zu tun oder mit dem Abbilden von Vielfalt. Die Situation von Geflüchteten in Deutschland hat sich in den vergangenen Jahren sicher nicht verbessert – eher im Gegenteil. Anstatt sich auf den eigenen Erfolgen auszuruhen, sollte man sich fragen, ob die Mittel der Identitätspolitik hilfreich sind, um diese Probleme anzugehen.
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Marina Martinez Mateo (Hg.): "Linda Martín Alcoff: Das Problem, für andere zu sprechen". Reclam Verlag, Stuttgart 2023. 91 S., 7 Euro.