Toleranz
Vielstimmig wie ein Orchester
Die Fähigkeit, Fremdes zu tolerieren und Widersprüche auszuhalten, macht uns stark. Und wir brauchen das, um uns in einer komplexen Welt zurechtzufinden, sagt chrismon-Herausgeber Yared Dibaba
Yared Dibaba Illustration
Justine Lecouffe/Inky Illustration
Thomas Leidig
03.12.2024
3Min

Als ich vor etlichen Monaten für die Moderation eines Konzerts des WDR-Funkhausorchesters den Saal ­be­trat, empfing mich ein Klangchaos. Es war das typische Einspielen: Streichinstrumente, Blech­bläser, Schlagwerk und Harfe – jeder Klang schien in eine andere Richtung zu gehen. Doch in diesem vermeintlichen Chaos entstand etwas Uner­wartetes: ein Klangteppich von faszinierender Schönheit.

Ambiguitätstoleranz ist die Fähigkeit, Widersprüche auszuhalten und sie als Chance zu sehen. In einer Welt, die oft nach klaren Antworten verlangt, erscheint ­diese Fähigkeit wie ein Geschenk. Doch genau ­diese ­Fähigkeit ist in einem Orchester wie in ­unserem Alltag unerlässlich.

Das Konzert stand unter dem Motto "Lieder der Liebe" und vereinte Melodien aus Klassik, Film und Pop. Das Publikum schmolz dahin. Die Sängerin Jana Marie Gropp verlieh den Stücken mit ihrer klaren und warmen Stimme emotionale Tiefe, und das WDR-Funkhaus­orchester unter der Leitung von Rumon ­Gamba sorgte mit seiner Disziplin für Präzision. Es war ein Abend, der die Liebe in all ihren musikalischen Facetten zelebrierte.

Aber nicht nur die Musik ist mir besonders in Erinnerung geblieben. Sondern auch das, was hinter den Kulissen geschah. Die Mitglieder des Orchesters sind so vielfältig wie die Instrumente, die sie spielen – in Geschlecht, Alter, Herkunft und Sprache. Jede Person bringt ihre eigenen Erfahrungen und Eigenheiten mit. Es wäre leicht, in dieser Vielfalt Potenzial für Konflikte zu sehen, doch das Gegenteil ist der Fall.

Wenn wir lernen, Widersprüche auszuhalten, schaffen wir es stabil zu bleiben

Diese Unterschiede machen das Orchester lebendig und sorgen dafür, dass aus einem Kuddelmuddel ein harmonisches Ganzes wird. Es ist faszinierend, dass gerade in einem Orchester, das auf den ersten Blick widersprüchlich wirkt, eine solche Harmonie entsteht. Vielleicht liegt es ­daran, dass jedes Mitglied gelernt hat, die Vielfalt zu tolerieren und das Fremde als Bereicherung zu sehen. Hier geht es nicht darum, die eigenen Vorstellungen aufzugeben, sondern sie in einen größeren Zusammenhang zu stellen. Diese Fähigkeit, Ambiguität zu tolerieren, wird uns in der Zukunft stark machen.

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Unsere Welt verändert sich rasant, und mit diesen ­Veränderungen kommen immer mehr Gegensätze und Widersprüche auf uns zu. Wenn uns alles Unbekannte aus der Bahn wirft, wird es schwer, unseren Platz zu finden. Wenn wir lernen, Widersprüche auszuhalten, schaffen wir es vielleicht eher, inmitten von Ungewissheiten stabil zu bleiben und kreative Lösungen zu finden.

In einer Zeit, in der die Welt oft polarisiert erscheint, können wir von einem Orchester lernen, unterschiedliche Stimmen zusammen­zubringen, ohne dass eine die andere übertönt. Vielfalt und Unterschiedlichkeit können eine Quelle der Stärke sein. Ambiguitätstoleranz ist nicht nur in der Kunst wichtig, sondern auch im Alltag. Sie hilft uns, in ­einer kom­plexen Welt unseren Platz zu finden, ohne uns von Unterschieden überwältigen zu lassen. Sie erlaubt es uns, inmitten des Chaos einen Klangteppich zu entdecken, der schöner ist, als wir es uns hätten vorstellen können.

Das Konzert des WDR-Funkhausorchesters hat mir gezeigt, wie wichtig es ist, Toleranz zu kultivieren – nicht nur in der Musik, sondern in allen Bereichen des Lebens, ­also auch in der zwischenmenschlichen Begegnung. Wenn wir lernen, Vielfalt als Bereicherung zu sehen, und zu ­tolerieren, dass manches mehrdeutig und widersprüchlich ist, können wir gemeinsam Großartiges schaffen – etwas, das über das hinausgeht, was wir allein erreichen könnten. Das ist vielleicht die größte Lektion, die uns die Musik lehren kann.

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