"Für uns ist die Musik wie ein Freund", sagt Tariq Hashimi, 19 Jahre alt. Sein Zimmer in Kabul war voller Musikinstrumente: eine Tabla, bestehend aus zwei kleinen Kesseltrommeln, zwei Rubabs – aufwendig verzierte Schalenhalslauten aus Maulbeerbaumholz, ein Keyboard. Er nahm sie alle auseinander und versteckte die Einzelteile. "Es ist sehr hart, seinen Freund zu verlieren", sagt er.
Svenja Beller
Roman Pawlowski
"Musik ist mein ganzes Leben", sagt Ramiz Safar, ebenfalls 19 Jahre alt. Er versteckte all seine Instrumente in schwarzen Plastiksäcken: drei Rubabs, drei Tablas, ein Harmonium und drei Trommeln. Die Plastiksäcke versteckte er unter der Treppe seines Elternhauses, den Raum unter der Treppe verbarg er hinter einer Holzfassade. "Ich hatte solche Angst."
"Wenn ich spiele, vergesse ich alles, auch die schlechten Tage", sagt Huma Rahimi, 25 Jahre alt. Sie schickte ihre Sitar – eine beeindruckend große Langhalslaute mit einem getrockneten Flaschenkürbis als Resonanzkörper – weit weg zu Verwandten, die versteckten das Instrument in einem unbewohnten Haus. "Ich vermisse ihren Klang", sagt Huma.
Niemand darf diese Instrumente finden, denn sie gefährden das Leben von Tariq, Ramiz und Huma. Das war schon immer so, aber seit dem 15. August 2021 lauert die Gefahr nicht mehr, sie schlägt wild um sich. An diesem Tag eroberten die Taliban Kabul. Und an diesem Tag starb die Musik in Afghanistan. Sie verstummte in den Radios der Taxifahrer in Kabul, in den Wohnzimmern, den Bürogebäuden und den Hochzeitssälen. "Es ist die Stadt der Toten", sagt Huma.
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Die Taliban verboten weltliche Musik, und sie setzen das Verbot durch. Die Moralpolizei lässt beschlagnahmte Musikinstrumente zerstören. Ein Foto des afghanischen Nachrichtensenders Tolonews zeigte, so meldet es dpa, einen brennenden Haufen mit Dutzenden Musikinstrumenten, darunter Gitarren, auch Lautsprecher. Musik, so wurde ein hochrangiger Talibanfunktionär zitiert, führe die Jugend in die Irre und zerstöre die Gesellschaft.
"Für uns ist die Musik wie ein Freund. Es ist hart, einen Freund zu verlieren"
Tariq Hashimi
Tariq, Ramiz und Huma sind Mitglieder des Afghanistan National Institute of Music (ANIM), des ersten Musikinstituts des Landes. Inzwischen trennen sie mehr als 6000 Kilometer Luftlinie von ihren Instrumenten, denn sie leben nun in Braga im Norden Portugals. Sie sind jetzt ein Musikinstitut im Exil. An einem Freitagabend sind sie mit zwei weiteren Musikern zu Proben verabredet, denn in einer Woche werden sie mit ihrer Gruppe "Taranam" ein Konzert in Lissabons renommiertem Kunstmuseum Gulbenkian geben.
Es gäbe genug Stühle in dem Raum eines Kinder- und Jugendheims, in dem sie proben dürfen, aber sie setzen sich in einem Halbkreis auf den Boden. "Unsere Instrumente sind nicht für Stühle gemacht", erklärt Huma. Noten benutzen sie nicht. Als sie zu spielen beginnen, lächeln sie einander an.
Die Melodien, die sie zusammenweben, erinnern an Musik aus Nordindien, und das nicht zufällig, denn musikalisch sind Indien und Afghanistan seit langem verbunden. Im 19. Jahrhundert holte Schir Ali, Herrscher des damaligen Emirats Afghanistan, indische Musiker an seinen Hof, viele afghanische Musiker lernten von indischen Meistern. Für die nächsten drei Stunden werden Huma und ihre Freunde in den daraus hervorgegangenen Melodien leben, sie werden alles vergessen, den Krieg, die Flucht, die Angst, sie werden einfach spielen.
Das ANIM war einst ein Leuchtturm für Freiheit und Gleichberechtigung in Afghanistan, in einem Land, in dem die Menschen sich schon nicht mehr daran erinnern können, wie es ist, frei und gleichberechtigt zu leben. In den 80er Jahren führte die Sowjetunion Krieg gegen die islamistischen Mudschahedin, in den 90er Jahren bekriegten sich die Mudschahedin untereinander. 1996 ergriff erstmals die radikalislamische Terrororganisation Taliban die Macht, 2001 beschlossen die USA nach dem Angriff auf das World Trade Center, in Afghanistan einzumarschieren und führten daraufhin zwanzig Jahre lang einen aussichtslosen Krieg gegen den Terror.
"Wenn wir nach Afghanistan zurückkehren, bringen wir die Musik zurück. Unsere Leute brauchen uns. Vor allem die Mädchen"
Huma Rahimi
Auch Ahmad Sarmast, 61, hatte sein Musikinstrument in Afghanistan zurückgelassen, eine Trompete, die er von seinem Vater geschenkt bekommen hatte. Sarmast hatte das ANIM gegründet, es war sein Traum. Der Sohn eines Musikers studierte Musik- und Ethnomusikwissenschaft am Moskauer Konservatorium und emigrierte danach nach Australien, wo er, so erzählt er es, als erster Afghane überhaupt seinen Doktor in Musik machte. Auf Einladung des Bildungsministeriums kehrte er 2008 nach Afghanistan zurück, und mit sich brachte er die Musik.
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"Für mich hatte Musik immer eine transformative Kraft", sagt er. Diese Kraft wollte er mit der Gründung eines nationalen Musikinstituts nutzen. 2010 wurde es eröffnet: für Musiktalente, für Straßenkinder, Reiche und Arme, Jungen und Mädchen – so etwas hatte es bis dahin nicht gegeben in Afghanistan. Niemand musste Schulgeld bezahlen, alle wurden gleich behandelt. "Es geht nicht nur um Kunst, es geht um Menschenrechte", sagt Sarmast.
Er warb Spenden ein, um Instrumente anzuschaffen, er knüpfte Kontakte, gewann Lehrer aus den USA und Indien. Gut zehn Jahre später hat das Institut viele professionelle Musikerinnen und Komponisten hervorgebracht und blickt auf Konzerte und Kooperationen in knapp fünfzig Ländern zurück, auch mit Deutschland, etwa mit der Hamburger Elbphilharmonie. Mit Studierenden des Musikinstituts Weimar-Jena spielten Mitglieder des ANIM unter dem Namen "Safar" zusammen, das Auswärtige Amt förderte die Kooperation.
Dasselbe Auswärtige Amt sah 2021 keine Möglichkeit, die 273 Institutsmitglieder in Deutschland aufzunehmen. Als die Taliban an die Macht kamen, war schnell klar, dass sie würden fliehen müssen. Tariq, Ramiz und Huma gingen monatelang nicht vor die Tür. Ramiz erhielt einen Drohanruf der Taliban, weil er regelmäßig mit einer Musikgruppe im Fernsehen aufgetreten war. Jeden Tag fürchtete er, sie würden ihn finden. Er und die anderen waren in ihrem Heimatland nicht mehr sicher. Musik bedeutete jetzt Lebensgefahr.
Ahmad Sarmast aktivierte alle seine Kontakte, organisierte Reisepässe für diejenigen, die keine hatten. Im Oktober oder November 2021 flogen sie nach Katar. Das Emirat zahlte für Flüge, Verpflegung und Unterkunft – es unterhält aber auch gute Beziehungen zu den Taliban: So konnten die Terroristen ihr einziges Auslandsbüro in Doha eröffnen. Die Institutsmitglieder konnten nicht in Katar bleiben. Ahmad Sarmast hat alle möglichen Regierungen um Aufnahme gebeten, erzählt er, von der Absage aus Deutschland sei er wegen der langjährigen Beziehung besonders enttäuscht gewesen.
Das Auswärtige Amt hat im Bundesaufnahmeprogramm für besonders gefährdete Menschen aus Afghanistan festgelegt, jene aufzunehmen, "die sich durch ihren Einsatz für Frauen- und Menschenrechte oder durch ihre Tätigkeit in den Bereichen Justiz, Politik, Medien, Bildung, Kultur, Sport oder Wissenschaft besonders exponiert haben und deshalb individuell gefährdet sind". Das Aufnahmeprogramm läuft aber jetzt erst schleppend an. Bislang gewährte Deutschland Einzelnen Asyl – nicht aufgrund von Gruppenzugehörigkeit. "Wir haben im August 2021 mehrere Listen mit Personen erhalten, die als Lehrende oder Schülerinnen und Schüler Mitglieder von ANIM gewesen sein sollen. Diese Listen überschnitten sich teilweise, enthielten aber auch viele Unterschiede", hieß es im Auswärtigen Amt auf Anfrage. Diejenigen, die "einer massiven Gefährdung ihrer körperlichen Unversehrtheit unmittelbar ausgesetzt waren und einen Bezug zu Deutschland hatten", seien aufgenommen worden, zum Beispiel Mitwirkende des Projekts "Safar". Alle anderen nicht.
Kein einziges Institutsmitglied aber sei von der deutschen Regierung außer Landes gebracht worden, sagt Ahmad Sarmast. Portugal habe als einziges Land eine Aufnahmezusage geschickt – ein Land, das deutlich kleiner und ärmer ist als Deutschland. Die ersten Monate kamen viele Institutsmitglieder in einem ehemaligen Militärkrankenhaus am Rande Lissabons unter, wo sie unter prekären Bedingungen lebten.
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"Wir haben noch nicht einmal Kleidung bekommen", erzählt der 25-jährige Ebrahim Mohammadi, Lehrer für Santur, ein trapezförmiges Saiteninstrument, das mit Holzschlägeln gespielt wird. Mohammadi und viele andere fühlten sich allein gelassen: Sie bekämen kaum Portugiesischunterricht und keine ärztliche Versorgung, die finanzielle Hilfe von 150 Euro im Monat reiche nicht zum Überleben. "Der portugiesische Flüchtlingsrat kümmert sich nicht um uns", sagt er. Für viele sei das ein Grund gewesen zu gehen. Weit mehr als hundert Lehrende und Studierende haben das Institut seit der Ankunft in Portugal verlassen, Mohammadi schätzt ihre Zahl auf 170, viele sind in der Hoffnung auf bessere Lebensbedingungen nach Deutschland gegangen. Ob sie dort bleiben können, ist unklar.
Auch Ebrahim Mohammadi trennte sich von ANIM und arbeitet nun in einem Vorort von Lissabon in einer Druckerei, Santur spielt er nur noch am Wochenende. Gut hundert Institutsmitglieder und vier Lehrer folgten der Einladung an das Konservatorium in Braga, einer knapp 200.000 Einwohner großen Stadt im Norden Portugals. Aber die Gruppe schrumpft weiter: "Gerade letzten Monat sind wieder zwei Lehrer nach Deutschland gegangen", erzählt Ahmad Sarmast. "Sie sahen hier keine Zukunft. Sie sind offenbar wegen besserer sozialer Unterstützung gegangen, was ich für einen großen Fehler halte."
"Musik ist mein ganzes Leben. Ich hatte solche Angst!"
Ramiz Safar
Im Zentrum Bragas schmiegen sich die für Portugal so typischen gefliesten Altbauten zwischen Kathedralen und Monumenten aus dem Mittelalter aneinander, die meisten Institutsmitglieder aber, die sich zum Bleiben entschieden haben, wohnen in den Hochhaussiedlungen am nördlichen Stadtrand. Sie erleben hier neue Freiheiten: Huma ist oft allein in der Stadt unterwegs, verschleiert ihre Haare nicht mehr und geht ins Fitnessstudio – alles Dinge, die sie in Afghanistan nicht machen konnte.
Tariq und Ramiz wohnen in einem siebenstöckigen Hochhaus, zu fünft in drei Zimmern, Ramiz und sein Zimmerkollege haben rote Luftballons an die Wand geklebt. In Ramiz’ Bett breitet ein großer grinsender Pandabär seine Arme aus, den hat er vom Roten Kreuz in Lissabon geschenkt bekommen. Er und Tariq haben sich das Kochen beigebracht – mit dem portugiesischen Essen tun sie sich schwer, besonders mit Bacalhau, dem in Portugal beliebten getrocknetem Kabeljau. Sie vermissen das Essen ihrer Heimat, viel mehr noch aber vermissen sie ihre Familien. "Ich telefoniere jeden Tag mit meiner Mutter", sagt Ramiz. "Wenn sie meine Stimme nicht gehört hat, kann sie nicht schlafen." Und wenn er mit seiner kleinen Schwester telefoniere, dann scherze er manchmal, dass sie nur halb so lange brauche, um ihren Schulabschluss zu bekommen, wie er – "damit sie sich besser fühlt". Die bittere Wahrheit ist: Mädchen müssen die Schule nach der sechsten Klasse verlassen, so wollen es die Taliban.
"Ich habe nie damit gerechnet, dass wir alle Afghanistan würden verlassen müssen"
Ahmad Sarmast
Priorität ist nun, die Familien rauszubekommen", sagt Ahmad Sarmast in seinem Büro im Zentrum von Braga. Es ist ein kleiner kahler Raum in einem modernen Coworking Space in einem Einkaufszentrum, auf dem Flur stehen Plastikbäume, durch die Wand dringen portugiesische Gespräche aus dem Nebenraum. Von hier aus organisiert Sarmast die Flucht der Eltern und Geschwister der Institutsmitglieder, 370 Menschen, denn auch sie sind in Afghanistan nicht mehr sicher. Vor kurzem habe die portugiesische Regierung die lang ersehnte Zusage geschickt, auch sie aufzunehmen, erzählt Sarmast.
"Ich habe nie damit gerechnet, dass wir alle Afghanistan würden verlassen müssen", sagt er. Und das, obwohl ihn seine Arbeit als Institutsleiter vor etwas mehr als acht Jahren fast das Leben gekostet hätte. Am 11. Dezember 2014 verübten die Taliban einen Selbstmordanschlag auf einen gemeinsamen Auftritt des Musikinstituts mit einem Theaterkollektiv. Ein Afghane und ein Deutscher kamen ums Leben, Sarmast war zwischenzeitig taub, nach Operationen in Afghanistan und Australien ist sein Gehör auf der linken Seite zu 65 und auf der rechten Seite zu 95 Prozent wieder hergestellt. Seitdem leidet er unter einer posttraumatischen Belastungsstörung, bis heute nimmt er deswegen Schlaftabletten. In einer Mitteilung der Taliban nach dem Anschlag war er als eines der Ziele genannt worden.
Ein Jahr zuvor hatten Institutsmitglieder ein Konzert in der New Yorker Carnegie Hall gespielt, er habe geweint, so wie er immer weine, wenn seine Schülerinnen und Schüler spielten. "Diese Tour hat uns zum Ziel gemacht", glaubt er. "Wir sind dadurch sehr bekannt geworden." Er und das Institut wurden in der Folge international vielfach ausgezeichnet, Ahmad Sarmast ist Ehrenmitglied der britischen Royal Philharmonic Society, die New Yorker Juilliard School verlieh ihm einen Ehrendoktortitel, ANIM erhielt 2018 den Polar-Musikpreis, der auch der Nobelpreis für Musik genannt wird.
Ahmad Sarmast hätte in Australien bleiben können, wo auch seine Frau und seine Kinder leben. Er hätte die Sicherheit wählen können. Aber er kehrte zurück nach Afghanistan. "Ich hatte Angst, aber es ist immer besser, aufrecht auf den Beinen zu stehen, als am Boden zu knien", sagt er.
"Jeder unserer Auftritte ist ein Schlag ins Gesicht der Taliban", sagt Huma. Auch sie hat viel gegeben, um Musik spielen zu können. Ihr Vater schickte sie in ein Kinderheim in Kabul, da es in ihrer Heimatregion keine Schule für Mädchen gab. Sie schloss sich dem ANIM an, auch wenn sich die Mutter große Sorgen machte. Ihre Musikkarriere ist in Afghanistan eine absolute Ausnahme. Huma studierte drei Jahre lang klassische indische Musik in Delhi, reiste mit dem ANIM in zahlreiche Länder und flüchtete mit ihren zwei Brüdern nach Portugal. "Wir halten hier unsere Musik am Leben", sagt sie. "Wenn wir nach Afghanistan zurückkehren, bringen wir die Musik zurück. Unsere Leute brauchen uns, vor allem die Mädchen."
Dieser Text erschien zuerst am 23. August 2023.
Unter diesem Link kann man dem ANIM spenden: https://www.anim-music.org/donate-1