Stolperstein vor dem Theater in Greifswald erinnert an den Schauspieler Kurt Brüssow. Die Autorin hat die Pflegepatenschaft übernommen
Dieser Stolperstein liegt vor dem Theater in Greifswald und erinnert an den Schauspieler Kurt Brüssow, der von den Nazis nach Auschwitz verschleppt wurde. Anke Lübbert hat die Pflegepatenschaft übernommen
Anke Lübbert
Kein Gedenken in Greifswald
80 Jahre Kriegsende einfach ignorieren?
Ohne Gedenkveranstaltungen keine Erinnerung, ohne Erinnerung kein Verstehen. Doch meine Heimatstadt Greifswald verzichtet auf eine offizielles Gedenken - anders als andere Städte in Mecklenburg-Vorpommern
Anke LübbertPR
07.05.2025
3Min

Am 8. Mai 2025 jährt sich das Kriegsende zum 80. Mal. In Greifswald gibt es keine Gedenkveranstaltung, keine Andacht, keine Ansprache. Nichts. Stattdessen läuft die Festivalsaison - gerade geht es mit Kultur und Kunst aus Nordereuopa um den "Nordischen Klang". Ab Mitte Mai wird das Stadtjubiläum gefeiert, 775 Jahre Greifswald. Von diesen 775 Jahren dauerte der Zweite Weltkrieg nur sechs Jahre. Ich hätte mir trotzdem gewünscht, die Feierlichkeiten wären für ein kurzes Innenhalten unterbrochen worden, wenigstens einen Moment. Um an die unfassbaren Leiden durch den Krieg zu erinnern, auch an die Mechanismen der Entmenschlichung, der Ausgrenzung, des sich über andere Erhebens - an all das, was zur Katastrophe geführt hat. Diese Mechanismen sind leider zeitlos.

Wie wichtig es ist, diesen Teil der Geschichte zu erinnern, wurde mir klar, als ich für chrismon die Geschichte meines Großvaters aufgeschrieben habe. Er hat vermutlich zwei Männer wegen ihrer Homosexualität denunziert. Während der Recherche bin ich auf die Geschichte von Kurt Brüssow gestoßen, ein Schauspieler aus Greifswald, der vom Hausmeister des Theaters als schwul denunziert wurde. Einer der wenigen Stolpersteine in Greifswald erinnert an sein Leiden - ich habe die Pflegepatenschaft übernommen.

Lesetipp: Ihr Name war Selly Baruch - ein Stolperstein im Hamburger Grindelviertel erinnert an sie

In anderen Städten gibt es ein anderes Bewusstsein.

Letzte Woche beispielsweise war ich in Stralsund, wo zum Welttanztag Performances an den Stolpersteinen aufgeführt wurden: An jedem Stein eine andere Choreographie. Der Zug der Tänzerinnen und Zuschauer zog vorbei an Stralsunds Weltkulturerbekulisse: knallende Sonne, zartes Grün, Flieder und Kastanienblüten zu ziegelrotem Backstein und Kopfsteinpflaster. Vorpommern im Frühling.

Zwischendurch wurde der Deportierten und Gedemütigten, Ermordeten und Verhöhnten gedacht. Ich stand am Rand, neben mir eine Gruppe von Jugendlichen in dunklen Hoodies. "Ihh guckt mal da, LGBTQ", rief einer angesichts einer regenbogenfarbenen Tasche unter den Zuschauern, und unter Kotzgeräuschen: "Ich muss hier weg."

Und als die Lebensgeschichte einer der Stralsunder Juden gedacht wurde, rief ein Mädchen dazwischen: "Hä, worum gehts denn da?", "Der ist auch vergast worden", informierte sie ihr Kumpel und alle brachen in Gelächter aus. Ich zischte ihnen zu, dass ich ihr Lachen unpassend fand und ärgerte mich sofort darüber, weil ich vielleicht gerade, eine Chance vergeben hatte. Ich hätte sie besser gefragt, was sie über diese Geschichte eigentlich wussten. Ich glaube nämlich nicht so viel. Im Lehrplan steht der Zweite Weltkrieg und die Nazizeit erst in der 9. Klasse und wird dann oft eher förmlich abgehakt.

Gedacht wird dem Ende des Krieges jedes Jahr auch in Demmin. Von Greifswald aus eine halbe Stunde Fahrt; eine meiner Töchter und ihre Freunde fahren zum Stadtfest.

Das Aktionsbündnis 8. Mai organisiert es seit Jahren zum 8. Mai eine Mischung aus Demo und Party, um einem Fackelaufmarsch von Neonazis etwas entgegenzustellen, zu zeigen, dass der 8. Mai ein Tag der Befreiung war. Um das so sehen zu können, muss man etwas über diese Zeit wissen. Und dafür darf das Erinnern nicht aufhören.

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Kolumne

Christian Kurzke

Christian Kurzke stammt aus Ostdeutschland und arbeitet heute bei der Evangelischen Akademie in Dresden. Anke Lübbert wurde in Hamburg geboren, lebt jedoch seit vielen Jahren mit ihrer Familie in Greifswald. Beide schreiben sie im Wechsel über Politik und Gesellschaft aus ihrer Sicht. Alle zwei Wochen