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Ein Mann wird befördert. Darauf hatte er lange gewartet. Seine Frau ist stolz und glücklich. Sie werden bald eine größere Wohnung beziehen und eine neue Spülmaschine kaufen können. Zur Feier des Erfolgs gehen sie mit ihren beiden Töchtern essen. Eine glückliche Familie – allerdings schärfen die Eltern ihren Kindern ein, von nun an vorsichtig zu sein. Denn der Vater hat eine gefährliche Arbeit angenommen.
Das zeigt sich gleich an seinem ersten Tag als Ermittlungsrichter. Er erhält den Auftrag, ein Urteil zu schreiben, ohne die Akte gelesen zu haben. Das drückt auf sein Gewissen. Er schläft schlecht. Seine Frau versucht, ihn zu trösten. Das Urteil könnte die Todesstrafe zur Folge haben. Da er sich dem Auftrag nicht entziehen kann, unterschreibt der Mann das Urteil.
Unruhen brechen aus. Junge Menschen gehen auf die Straße. Sie wollen in Freiheit leben. Männer in Uniform und in zivil gehen brutal gegen sie vor. Die jungen Leute werden vor aller Augen zusammengeschlagen, abgeführt, manche auch erschossen. Der Mann hat nun viel zu tun. Ein Urteil nach dem anderen muss er ausstellen. Die Verurteilten werden hingerichtet oder verschwinden in Kerkern. Sein Gewissen scheint den Mann nicht mehr zu belasten. Was ihn beim ersten Mal gequält hat, ist zur Routine geworden.
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Zu Hause bereitet seine Frau wunderbare Mahlzeiten zu. Sie pflegt, lobt und tröstet ihren Mann. Er opfert sich doch für ihr Land und ihre kleine, glückliche Familie auf. Nur die beiden Mädchen werden schwierig. Sie beginnen, ihren Eltern zu widersprechen. Eine Freundin hat mitdemonstriert, ganz friedlich. Sie wurde zusammengeschlagen und schwer verletzt, schließlich verhaftet. Niemand weiß, wo sie ist. Den Nachrichten des staatlichen Fernsehsenders glauben die Jugendlichen nicht mehr, auch nicht den strengen Beteuerungen der Eltern. Sie sehen das Unrecht mit eigenen Augen.
Was den Film "Die Saat des heiligen Feigenbaums" des inzwischen im Exil lebenden Regisseurs Mohammad Rasulof so bedeutend macht, ist, wie er den Makrokosmos der iranischen Diktatur mit dem Mikrokosmos einer normalen Kleinfamilie verbindet. Anfangs glaubten Vater und Mutter – und als Zuschauer glaubte man es fast auch –, sie könnten als Familie glücklich sein, auch wenn draußen die Gewalt herrscht. Aber die Machtverhältnisse der Gesellschaft bestimmen auch ihr Binnenleben: Vater und Mutter vertreten die Propaganda der Regierung, fordern Gehorsam und Unterwerfung, lügen ihre Kinder an, verbünden sich gegen sie, bis der Vater seine Hand gegen alle erhebt.
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Rasulof erzählt eine Geschichte aus dem Iran der Gegenwart. Doch sie ist universell gültig. Kurz vor dem Gang ins Kino hatte ich das neue Buch von Ines Geipel gelesen. In "Fabelland. Der Osten, der Westen, der Zorn und das Glück" (2024) analysiert sie das Gewalterbe der DDR und seine Wirkungen bis heute. Es ist ein kluges, dringliches und persönliches Buch. Denn ihre Eltern waren Mitarbeiter des Geheimdienstes der DDR, der Vater sogar Spion im Ausland. Nie haben sie darüber mit ihren Kindern gesprochen, nicht währenddessen, nicht danach. Das ist kein Einzelschicksal. Die Illoyalität von Eltern gegenüber ihren Kindern war ein Kennzeichnen dieser Diktatur. Es ist ein Kennzeichen jeder Diktatur.
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Wie wächst man auf, habe ich mich beim Lesen gefragt, wenn man den eigenen Eltern nicht vertrauen, mit ihnen nicht ehrlich sprechen kann. Wenn die Treue der Eltern zum Regime größer ist, größer sein muss als die Treue zu ihren Kindern, weil die Familie nur ein Miniatur-Abbild der Gesellschaft ist. Beim Lesen habe ich mich an einen Besuch in dem berüchtigten früheren Jugendwerkhof Torgau erinnert. Dort saßen auch Kinder von Kadern ein. Das ist nicht verwunderlich. Denn wenn Söhne und Töchter anfingen, das Regime zu kritisieren und ihre Meinung öffentlich zu äußern, stellten sie auch die Macht ihrer Eltern infrage. Und diese mussten für sich selbst schlimme Folgen befürchten. Nicht wenige haben dann entschieden, die eigenen Kinder zu opfern.
Gegenwärtig wird viel über die Demokratie diskutiert und die Gefahren, die ihr drohen. Der Film von Mohammad Rasulof und das Buch von Ines Geipel erinnern an einen elementaren Unterschied zwischen Demokratie und Diktatur: In einer Demokratie ist es grundsätzlich möglich, dass Eltern und Kinder einander vertrauen, selbst wenn sie unterschiedlicher Meinung sind und sich streiten. Diktaturen dagegen vergiften auch das Leben in den Familien. Es liegt also im allerelementarsten Interesse aller, die Demokratie zu verteidigen.