"Schaue ich wirklich so hinfällig aus?", fragt der grauhaarige Herr, dem zum ersten Mal im Leben ein Sitzplatz in der voll besetzten Straßenbahn angeboten wird, wahrscheinlich von einer jungen Frau mit Migrationshintergrund. Viele Männer tun sich schwer, Hilfe anzunehmen. Sie bringen ihre Partnerinnen zur Verzweiflung, weil sie über ihre emotionalen Probleme erst reden, wenn sie sich für eine "Lösung" entschieden haben.
Niemand kann sich darauf vorbereiten, hinfällig zu werden, die Gedächtniskraft verlieren, sich nicht mehr orientieren können. Aber wenn die Schwäche da ist, akzentuiert sie Geschlechterdifferenzen. Ein kräftiger Mann und seine zierliche Partnerin kommen gut miteinander aus, so lange er seine physische Überlegenheit zügeln kann.
Wenn sich ein Paar einigen könnte, wer als Erster dement wird, wäre es praktisch, wenn sich die Frau vorne anstellt. Denn wenn die verantwortliche Steuerung des Verhaltens nachlässt und die archaischen Formen der Machtausübung durch Körperkraft um sich greifen, kann der körperlich Überlegene viel eher das Notwendige durchsetzen.
"Der desorientierte Mann ist nicht dankbar für Hilfe"
Im entgegengesetzten Fall treffen zwei ungünstige Einflüsse zusammen. Männer tun sich schwerer, Hilfe anzunehmen und eigene Schwäche zu realisieren. Der desorientierte Mann ist nicht dankbar für Hilfe. Er ist wütend auf sich und auf alle, die ihm die Botschaft der eigenen Schwäche überbringen. Er verlangt von den Menschen, die ihn lieben, gemeinsam mit ihm seine Schwäche zu verbergen und dafür zu sorgen, dass sie nach außen unsichtbar bleibt.
Er wütet gegen den Gedanken, dass professionelle Pflege ins Haus kommt, auch wenn seine Ehefrau völlig erschöpft ist, weil sie ihn nicht mehr aus den Augen lassen kann. Er ist überzeugt, dass er sein Auto noch so gut lenken kann wie eh und je; die paar Blechschäden liegen an der Rücksichtslosigkeit anderer oder daran, dass die Beifahrerin ihn durch ihr Gezeter abgelenkt hat.
Wolfgang Schmidbauer
Die Partnerin muss ohne das Verständnis, die Einfühlung, die Unterstützung auskommen, die sie bisher erlebte. Ihr Mann ist nicht so sehr mit seiner eigenen Schwäche beschäftigt wie mit der Kränkung, dass er nicht mehr kann wie bisher – und wenn seine Partnerin so wenig wie die Ärzte in der Lage ist, diesen Zustand zu heilen, dann soll sie wenigstens helfen, ihn zu verleugnen.
Paare wachsen zusammen. In diesem Prozess greifen unterschiedliche Persönlichkeiten mit ihren Stärken und Schwächen ineinander und prägen den Alltag im günstigen Fall so, dass sich jede Seite durch ihr Gegenüber unterstützt und bestätigt fühlt. Dieser Austausch ändert sich aus äußeren und inneren Gründen. Kinder ziehen aus, ein Partner gibt seine Berufstätigkeit auf, einer will nach einem Unfall nicht mehr Auto fahren; Knieschmerzen erschweren gemeinsame Wanderungen.
Der Idealzustand einer modernen Partnerschaft sind zwei Gleichberechtigte, die sich darüber einigen können, dass ihr Austausch für beide akzeptabel ist. Ich habe Beziehungen kennengelernt, in denen der Mann auf dem Nachhauseweg einkauft, nach Feierabend die Wohnung putzt, kocht und abspült, während seine klinisch depressive, aber nicht behandlungswillige Partnerin auf dem Sofa liegt und fernsieht, seit sie am späten Vormittag aufgestanden ist. Wer das als "ungerecht" ablehnt, unterschätzt die profunde Dynamik des erotischen Austauschs und unterwirft Liebesbeziehungen zweckmäßigen Prinzipien, die deren Wesen nicht erfassen.
Die Verteilung von Rollen entlang der Dynamik von "helfen" und "sich helfen lassen" bleibt oft über lange Zeit stabil. Sie entfaltet beträchtlichen Widerstand gegen Veränderungen, weil sie das Selbstgefühl festigt. Alter und chronische Krankheit stellen Paare hier vor unlösbare Probleme.
"Er will einfach nicht wahrhaben, dass ich es nicht mehr alleine schaffe", sagt die zierliche Ehefrau über ihren 77-jährigen, korpulenten Mann, der sich nach einem Schlaganfall erholt hat, aber nicht mehr gut gehen kann und viel mehr vergisst als früher. Wenn er stürzt, kann sie ihm nicht aufhelfen. Er weigert sich standhaft, eine Gehhilfe zu benutzen. Der Rollator sei etwas für Frauen, damit sehe er lächerlich aus. Er werde aufpassen und nicht mehr hinfallen.
Es ist ein beklagenswerter Anblick, wie der bis vor wenigen Jahren fitte und sportliche Mann mit seiner Behinderung kämpft. Er hangelt sich lieber vom Tisch zum Stuhl und vom Stuhl zur Bettkante, als seine Hilfsbedürftigkeit anzuerkennen und Lösungen zuzulassen, die ihn beschämen, aber seine Ehefrau entlasten würden.
Bisher hatten die beiden ein extrem vertrautes Verhältnis. Sie reisten viel, waren ein eingespieltes Team. Sie kümmerten sich gemeinsam um den Garten. Der Ehemann war praktisch begabt und hilfsbereit; wenn es im Haus oder auch bei seinen Geschwistern etwas zu reparieren gab, wurde er gerufen und machte sich nützlich. Andere Kontakte hatte er kaum, während seine Frau ihren Bekanntenkreis pflegte. Zu allen Einladungen gingen sie zusammen, es wäre nie jemandem eingefallen, nur sie einzuladen und nicht auch ihn.
"Älter werden heißt: ein neues Geschäft antreten"
Nun verließ er das Haus nur ungern und begründete es mit seiner Gehbehinderung. Er vergaß immer mehr, fragte jeden Morgen zehnmal, was sie heute vorhätten. Ihre Überredungskünste versagten, als er wieder Auto fahren wollte. Sie setzte sich neben ihn. Nach dem dritten Beinahe-Unfall drohte sie, sich von ihm zu trennen, wenn er nicht aufgebe. Sie schämte sich und fühlte sich schuldig, als er mit zitternden Fingern seinen Führerschein aus der Brieftasche kramte und ihn ihr aushändigte.
Er konnte nicht mehr ohne sie sein. Wenn er döste und hochschreckte, wusste er nicht, wo sie lebten; sie musste es ihm sagen. Er vertraute nur ihr. Sie durfte nicht alleine ausgehen und ihn mit einer Pflegekraft zurücklassen. Wenn sie ihn allein ließ, zog er los und suchte sie. Dann musste sie wiederum ihn suchen, wenn sie zurückkam.
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Sie stellte sich ganz auf ihn ein und war oft sehr erschöpft. Was würde werden, wenn sie einmal nicht mehr konnte? Krank wurde? Er hatte Blut im Stuhl und sollte für einige Tage zur Abklärung in ein nahes Krankenhaus. Sie atmete auf, dass ihr die Last abgenommen war, besuchte ihre Freundinnen, ging in eine Ausstellung. Als sie heimkehrte, fand sie ihn im Pyjama in der Küche. Er säuberte mit einem Wischlappen eine Platzwunde an der Stirn, er war irgendwo gefallen, er mochte nicht in dem Krankenhaus sein, die Schwestern waren unfreundlich, sie hatten gedroht, ihn in die Psychiatrie zu überführen, das musste er sich doch nicht gefallen lassen.
Das Telefonat war demütigend. Der Stationsarzt sagte, ihr Mann sei dement und in einem normalen Krankenhaus nicht zu behandeln. Es war kaum ein Trost, dass der Darmbefund negativ war – kein Tumor.
Können Erwachsene ihre Scham überwinden, Hilfe anzunehmen? Goethe sagte in "Maximen und Reflexionen": Älter werden heißt selbst ein neues Geschäft antreten; alle Verhältnisse verändern sich, und man muss entweder zu handeln ganz aufhören oder mit Willen und Bewusstsein das neue Rollenfach übernehmen. Dieser Lernprozess widerspricht unserem Narzissmus.
Das ganze Bildungssystem läuft auf Anerkennung für Autonomie hinaus – wie aber dann auf einmal Abhängigkeit ertragen? Hier stehen der Erwachsenenbildung neue Aufgaben ins Haus, denn das "neue Geschäft" zu erlernen, sollte so früh beginnen, dass die Geisteskräfte noch ausreichen und nicht die Depression eines oder beider Partner diesen Prozess lähmt.
Eine erste Version dieses Textes erschien am 25. Oktober 2017.
Männer sind Monster, besonders wenn sie alt werden?
Schon die Einleitung dieses Artikels lässt mich schaudern: Es wird festgestellt, dass es in einer Partnerschaft besser ist, wenn die Frau dement ist als der Mann.
Der erste Paukenschlag ist die Aussage, dass ein „kräftiger Mann“ und seine „zierliche Partnerin“ solange gut miteinander auskommen, wie er „seine physische Überlegenheit zügeln kann“. Es geht dann weiter mit “archaischen Formen der Machtausübung durch Körperkraft”. Welches Weltbild spricht daraus?
Ohne Belege wird verallgemeinert: Der Mann (wer immer das ist) „tut sich schwer, Hilfe anzunehmen“, “ist nicht dankbar”, „ist wütend auf sich und alle“, „wütet gegen professionelle Pflege…auch wenn seine Ehefrau völlig erschöpft ist“, beschwert sich über „Gezeter“ seiner Beifahrerin.
Dazu führt er lediglich ein Beispiel einer „zierlichen Ehefrau“ mit ihrem „korpulenten Mann“ an.
Herr Schmidbauer scheint ein Problem mit “zierlichen” Frauen und kräftigen, korpulenten Männern zu haben und diskreditiert die vielen Frauen, die sich aus christlicher Nächstenliebe um ihren Ehemann kümmern, und gleichzeitig die Männer, die sich um ihre dementen Frauen kümmern, die in dem Artikel überhaupt nicht vorkommen außer in Form einer “klinisch depressiven” Partnerin.
Nebenbei: Schon im ersten Absatz wird eine Szene geschildert, von der wir überhaupt nicht wissen, ob sie ein Gedankenkonstrukt oder real ist, dass „der grauhaarige Mann“ über Hinfälligkeit sinniert, weil ihm ein Platz in der Straßenbahn angeboten wird, „wahrscheinlich von einer jungen Frau mit Migrationshintergrund“.
Unwürdig einer christlichen Zeitschrift.
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Zu "Fall nicht, Liebste"
Konnte ich noch über seine Beschreibung alltäglicher Pflege-Krisen wissend lächeln und aus eigenen Erfahrungen aufseufzen, so recht zustimmen werde ich Herrn Schmidbauer nicht.
Das Leben des alternden Paares dadurch erleichtern zu wollen, der Frau zuerst die Pflegebedürftigkeit zu wünschen, ist wahrlich eine ganz besondere Idee. Und auch noch so hübsch theoretisch! *Ironie aus*
Naja. irgend einen aufmerksamkeitsheischenden Aufhänger braucht man zum Thema.
Nein, werter Herr Schmidbauer, Alter und chronische Krankheit stellen uns nicht vor unlösbare Probleme. Doch stürzen sie uns, zumal als alterndes, langjährig eingespieltes Paar, in eine Krise besonderer Wucht. Hier wirkt die Erkenntnis unserer Endlichkeit - unerbittlich.
Können wir uns auf unsere Pflegebedürftigkeit vorbereiten, oder auf die des Partners, der Partnerin? Herr Schmidbauer ist da gespalten in Ja und Nein.
Meine Erfahrung: Wir als alterndes Paar befinden uns zusammen in fast gleicher Situation. Ich bin unheilbar krank, du alterst unaufhaltsam - oder umgekehrt.
Humor kann helfen.
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