Pflegeheime
Warum wir Alternativen zum Pflegeheim brauchen
Immer mehr Menschen sind "alt" in diesem Land – brauchen wir mehr Altenheime? Christine Hannemann ist Wohnforscherin und fordert: selber früher denken, flexibler planen und bunter fördern
Bewohnerin im Rollstuhl auf dem Flur in einem Pflegeheim
Für viele hochbetagte Menschen die einzige Alternative: Das Heim
Werner Krueper / picture alliance / epd-bild
Tim Wegner
06.06.2024
4Min

Christine, gerade wird wieder viel über die wachsende Zahl an Pflegebedürftigen gesprochen. Brauchen wir mehr Alten-, oder sagt man richtiger Pflegeheime?

Christine Hannemann: Einmal zur Begriffsklärung: Tatsächlich ist das beides mittlrweile gängig. Doch egal, ob wir jetzt Alten- oder Pflegeheim sagen - wenn wir hochbetagte Menschen befragen, dann kommt in der Regel diese Antwort: Auf keinen Fall in ein Heim. In der Realität ist es ganz anders. Weil sich viele Menschen viel zu spät damit beschäftigen, wie ihre Lebenssituation im Alter sein soll, bleibt ein Umzug als einzige Möglichkeit. Sozial wird das Heim als Lebensstation abgelehnt, in der Realität ist das ganz anders.

Unabhängig davon, was sie später tatsächlich machen – warum wird das Altenheim, ich bleib jetzt mal bei dem Begriff, so abgelehnt? Es doch eine Erleichterung, wenn ich mich um nichts mehr kümmern muss?

Na ja, das ist schon ein harter Bruch für viele Menschen, gerade für die, die bis dahin sehr selbstbestimmt gelebt haben. Es ist eine Art separierter Wohnform, mit Eingangskontrollen, Essenszeiten, viele Regeln im Alltag. In der Coronazeit haben wir gesehen, wie schnell diese Einrichtungen fast zu einem Gefängnis wurden. Für mich ist das einer dieser vielen krassen Gegensätzen oder Ambiguitäten: Auf der einen Seite will man das nicht mehr, auf der anderen Seite gibt es keine Alternative.

Warum gibt es so wenig Alternativen?

Weil wir in alten Denkkategorien verhaftet sind und die heißen eben: Eigenheim oder abgeschlossene Kleinwohnung. Und zum Ende hin eine kasernierte Unterbringung in Altenheimen.

War das schon immer so?

Die historische Wurzeln liegen in der Zeit der Industriealisierung. Damals entwickelte sich der moderne Lebensstil, mit Auslagerungen von bestimmten Lebensbereichen. Arbeit und Wohnen wurden getrennt, ebenso wie Krankenpflege oder Bildung oder eben auch die Betreuung von Senior*innen. Besonders ausgeprägt wurde es nach dem zweiten Weltkrieg. Das bezeichne ich als Wohnforscherin einerseits mit einer Reduktion all dessen, was mit Wohnen zu tun hat, andererseits ist es natürlich auch ein Fortschritt, dass wir Schulen, Krankenhäuser und eben auch Senioreneinrichtungen haben, in denen hochbetagte Menschen unterkommen können.

Prof. Dr. habil. Christine HannemannChristian Koch

Prof. Dr. habil. Christine Hannemann

Christine Hannemann ist Soziologin und Wohnforscherin und leitet an der Fakultät Architektur und Stadtplanung der Universität Stuttgart das Fachgebiet Architektur- und Wohnsoziologie. Ihre Forschungsschwerpunkte sind der Wandel des Wohnens, Urbanität(en) als Lebensform, alternative Wohnkonzepte sowie Architektur und Stadtplanung als Beruf und als Feld empirischer Sozialforschung.

Aber jetzt sind wir im 21. Jahrhundert – brauchen wir neue Konzepte?

Auf jeden Fall. In der Industrialisierung war dies ein sozialer Fortschritt, heutzutage ist das überholt. Das Zusammenleben von Jung und Alt müsste eigentlich von Anfang an neu gelernt werden, ganz im Sinne des Mehrgenerationenwohnens.

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Das ist zeitgemäßer?

Ja, unbedingt. In der postmodernen Stadtentwicklung herrscht längst wieder die Überzeugung, dass wir eben nicht alles separieren dürfen: Hier die Hochhaus- und da die Eigenheimsiedlung, hier Arbeit, dort Bildung – und genau das gilt auch für die Wohnformen. Wir brauchen eine Zusammenführung statt Separierung.

Gerade ist das, übrigens das erste (!), Einsamkeitsbarometer der Bundesregierung erschienen. Wohnen kommt als Messbarometer aber gar nicht vor. Erstaunlich, oder?

Sehr erstaunlich, ich thematisiere immer die Einsamkeit, wenn ich über Wohnen rede, denn das hängt untrennbar miteinander zusammen. Menschen, die gemeinschaftlich wohnen, fühlen sich weniger einsam. Und das gilt ja nicht nur für alte Menschen. Genau das fand ich jetzt am Einsamkeitsbarometer auch so interessant: Einsamkeit ist ein gesamtgesellschaftliches Phänomen. Es geht uns alle an. Insofern wünsche ich mir als Wohnforscherin eben auch, dass wir nicht nur über neue Wohnmodelle für alte Menschen, sondern für alle Generationen reden.

Ich erlebe hier in der Wohnlage immer wieder Menschen, die neue Modelle, auch erfolgreich, ausprobieren. Doch all das findet in einer Blase statt. Es sind Ausnahmen. Warum ist das so?

Zum einen ist das eine Art individueller Trägheit. Selbst wenn es Modelle zum Wohnungswechsel gibt, dann werden sie kaum angenommen. Doch wichtiger und ausschlaggebender ist eben der fehlende politische Wille, diese neuen Modelle sowohl durch finanzielle Förderung aber eben auch durch moderne Verwaltungsvorschriften zu bestärken. Ich weiß von einem wirklich sehr gut durchdachten Wohnprojekt für hochbetagte Menschen, das scheiterte daran, das die Gruppe eine bestimmte Anzahl von Auto-Parkplätzen vor dem Haus hätten bauen müssen. Niemand von denen konnte oder wollte noch ein Auto fahren. Das ist absurd. Der Grund sind vollkommen veraltete Bauvorschriften. Da muss die Verwaltung ran!

Noch mal zurück zu den Altenheimen – es gibt ja auch sehr schicke Seniorenresidenzen. Dorthin gehen die Menschen oft früher, solange sie noch fit sind. Ist das eine gute Idee?

Für die, die das finanzieren können, kann das eine sehr gute Idee sein. Gleichwohl ist das für mich nur eine Möglichkeit, die leider für die Mehrzahl der "alten" Menschen, vor allem aus finanziellen Gründen, keine Relevanz hat.

Gerade wurdest Du für Euer neues Buch zusammen mit Nicola Hilti und Christan Reutlinger mit dem "Bruno-Kreisky-Preis für sozial-ökologisches Wohnen und Zusammenleben" ausgezeichnet. Herzlichen Glückwunsch! Ist das bezeichnend für die deutsche Wohnforschung, dass es so einen Preis nur in Österreich gibt?

Ja, es ist bezeichnend, dass es einen solchen Preis bisher nur in Österreich gibt. Diesen Preis gibt es allerdings auch erst seit 2022. Mal wieder ist Österreich insbesondere Wien, das leuchtende Beispiel für die gesellschaftliche Wertschätzung von Wohnforschung. Für Deutschland ist es leider bezeichnend, dass die gesellschaftlichen Aspekte des Wohnens zu wenig Aufmerksamkeit haben. Damit meine ich beispielsweise, dass es kaum Professuren gibt, die das Privileg haben die gesellschaftliche und soziale Bedeutung des Wohnens zu erforschen, um damit essentielle Orientierungswissen für Politik und Verwaltung bereitzustellen.

Zwei Tipps:

1: Christine Hannemann zu Gast bei "Jung&Naiv" - drei Stunden lang reden Thilo Jung und sie zum Thema: gutes Wohnen, besser Wohnen. Wirklich interessant!

2. Diesen Podcast hatte ich neulich schon empfohlen - aber gerade jetzt erschien die neueste Folge von "Wohnprojekte im Gespräch" : Wohnen im Alter. Ein Modell in Hamburg. Beispielhaft.

Eine erste Version dieses Beitrags erschien am 06.06.2023.

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Kolumne

Dorothea Heintze

Wohnen wollen wir alle. Bitte bezahlbar. Mit Familie, allein oder in größerer Gemeinschaft. Doch wo gibt es gute Beispiele, herausragende Architekturen, eine zukunftsorientierte Planung? Was muss sich baupolitisch ändern? Wohnlage-Autorin Dorothea Heintze lebt in einer Baugemeinschaft in Hamburg und weiß: Das eigene Wohnglück zu finden, ist gar nicht so einfach. Alle zwei Wochen.