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Nur ein Fall von vielen: Eine junge Hebamme kauft sich mit ihrer Familie ein Häuschen in einer Wohnsiedlung in Süddeutschland. Im bisher leerstehenden Gartenhaus möchte sie eine eigene Praxis aufmachen, denn gerade findet in der Siedlung ein Generationenwechsel statt. Die Erbauerfamilien sind alt, gestorben. Die Zahl der Familien mit kleinen Kindern steigt. Hebammenpraxis? Fehlanzeige.
Es ist also eine sehr gute Idee, genau hier eine Hebammenpraxis zu eröffnen. Doch die immer noch gültigen Verwaltungsvorschriften stammen, wie die ganze Siedlung, aus den 1960er Jahren und da beherrschte die autogerechte Stadt oder auch das autogerechte Dorf das Mindset in der Stadtplanung. Danach muss jedes Gewerbe eine bestimmte Anzahl von Parkplätzen vorweisen. Wir schreiben bald 2024 und gerade junge Eltern in Vorortsiedlungen nutzen häufig ein Lastenfahrrad. Egal, die überkommenen Vorschriften sind immer noch gültig. Aus der Traum von der Hebammenpraxis.
Für die Stadtplanerin Christina Simon-Philipp ein typischer Fall. Sie untersucht im Zentrum für nachhaltige Stadtentwicklung an der Hochschule für Technik Stuttgart die Zukunft des Einfamilienhauses und weiß: Der eigentliche Fehler im System sei nicht die Wohnform selbst, sondern ihre "fehlende Erforschung": "Eigenheimsiedlungen sind ein blinder Fleck in der Stadtentwicklung." Jahrzehntelang galt das Einfamilienhaus als "Selbstläufer" mit Erfolgsgarantie für alle Beteiligten. Warum also über Nachhaltigkeit und eine alternative Zukunft nachdenken?
Das Team um Christina Simon-Philipp denkt nach. Zusammen mit der Wüstenrot-Stiftung hat die Stuttgarter Professorin eine Webseite veröffentlicht: „Leben vor der Stadt“, heißt sie: "Eine neue Zukunft für bestehende Einfamilienhäuser."
Das Team möchte raus aus der wissenschaftlichen Blase, raus auf die Straße. Leute befragen, neue Ideen sammeln. Die Webseite ist ein Ideenpool mit Texten, die einladen: zum Stöbern, Nachdenken, Mitmachen.
Auch heute noch entstehen überall im Land Eigenheimsiedlungen auf der grünen Wiese – doch sind sie wirklich nötig? Wäre es nicht viel besser, erst mal den Bestand zu nutzen und zukunftsfähig weiterzuentwickeln? Christina Simon-Philipp selbst ist Aufsichtsrätin der Dachgenossenschaft in Tübingen und entwickelt dort im Team Modelle für neue Arten des Zusammenlebens; über Tübingen und seine kreativen Ideen hab ich ja schon mal berichtet.
Warum geht in der Stadt so vieles, auf dem Land, bei den Eigenheimen so wenig? Weil das Eigenheim nicht nur in der Wissenschaft, sondern auch in der Politik ein „Tabu-Thema“ sei, weiß die Forscherin: Die Kommunalpolitik traue sich nicht an das Thema, weil die Häuser ja im Privatbesitz seien, da könne man nichts machen.
Zusammen mit ihrem Team hat Christina Simon-Philipp erste Workshops und Befragungen in Wohnsiedlungen rund um Stuttgart organisiert und weiß mittlerweile: Neben den zu großen Häusern von jetzt alten Menschen sind fehlende Infrastruktur und öffentliche Flächen in den Siedlungen ein großes Problem. Warum, so fragt sie, gibt es Co-Working Spaces fast nur in Großstädten? Warum entstehen immer noch Eigenheimsiedlungen ohne jede Anbindung an öffentliche Verkehrsmittel auf der grünen Wiese? Warum wird immer weiter neu gebaut, anstatt den Bestand durch schlaue Ideen nachhaltiger zu nutzen?
Die Forscherin berichtet von einem Fall in Österreich. Dort wollten erwachsene Kinder wieder zurück ins Elternhaus ziehen, doch die Eltern wollten den schönen großen Garten auf keinen Fall durch einen Anbau weiter versiegeln. Also wurde das bestehende alte Haus durch Überbauung des Erdgeschosses so aufgestockt, dass der Grundfläche erhalten blieb, doch die Wohnfläche sich mehr als verdoppelt hat. Aus dem Einfamilienhaus wurde mit einem klugen architektonischen Ansatz ein Dreifamilienhaus. Mit gleicher Grundfläche.
Strategien gegen die Einsamkeit der Alten
Genau solche Beispiele braucht es, mehr und viele. Denn die Menschen, das lässt zeigen die Erzählungen auf der Webseite aus den vielen Workshops, sind misstrauisch. Sie kennen nichts anderes als ihre Siedlung mit Einzelhäusern und halten daran fest, oft bis zum bitteren Ende. Es geht um den "inneren Leerstand", um Einsamkeit, eines unserer großen gesellschaftspolitischen Probleme in der alternden Gesellschaft, wie ja gerade auch Bundesfamilienministerin Lisa Paus in einem Strategiepapier verkündet hat.
Über 60 Prozent aller Eigenheime werden von nur ein bis zwei, meist älteren Menschen bewohnt, sie bewohnen ein "Empty Nest": „Viele von ihnen würden sich gern verkleinern, doch dafür müssten sie ihr Wohngebiet verlassen.“ Noch gibt es in der Nachbarschaft einfach keine Alternativen. Bei den Befragungen in den Siedlungen stößt das Team auch immer wieder auf Misstrauen und Skepsis: Wollen die mir etwa mein Häuschen wegnehmen? Nein, das will niemand. Aber neue Ideen brauchen den Erfahrungsschatz der Alten. So hat nachhatlige Stadtentwicklung schon immer funktioniert, bisher leider nicht in der Eigenheimsiedlung.
Wenn Ihr mitmachen wollte, Best Practice Beispiele habt oder Kontakt zum Team aufnehmen wollt, mailt an: kontakt@leben-vor-der-stadt.de. Vielleicht kommt das Forscherteam dann zu Euch.
Und beim nächsten Konvent der Bundesstiftung Baukultur wird das Team aus Stuttgart seine Ideen vorstellen.
PS: Die Ideen von Christina Simon-Philipp hab ich zum ersten Mal in diesem Sommer auf einer Tagung der Universität Flensburg gehört:
"Weil es sich rechnet" – Zur Ökonomie der Suffizienz" gehört. Hier gab es einen weiteren Bericht dazu.