Ihr Buch "Migrationspanik" hat den Untertitel "Wie Abschottungspolitik die autoritäre Wende befördert". Wie kommen Sie zu dieser These?
Judith Kohlenberger: Die Grenzpolitik der EU ist vor allem an den Außengrenzen härter und restriktiver geworden; es sind zunehmend rechtsfreie Räume entstanden. Der Außengrenzschutz hat seit 1993 mehr als 66.000 Tote gefordert, die Dunkelziffer ist sehr viel höher. Es herrscht eine Politik des Sterbenlassens – Menschen werden auf ihren Fluchtrouten nicht in ihrer Not gerettet, man überlässt sie der Witterung, bis sie sterben. Das führt auch zu einer Verrohung im Inneren, denn es gibt immer jemanden, der diese Gewalt zufügen muss oder Hilfe ausschlägt. Das macht natürlich auch etwas mit der europäischen Bevölkerung, weil Europäerinnen und Europäer dafür abgestellt sind, so etwas an den Außengrenzen zu tun. Derzeit sehen wir besonders in den USA, welche Folgen das hat.
Judith Kohlenberger
Was beobachten Sie dort?
Studien zeigen, dass es an der mexikanisch-US-amerikanischen Grenze zu großer Brutalität gegenüber Migranten gekommen ist. Wenn Beamte dieser Einheiten der Grenzpolizei später im Inneren der USA eingesetzt werden – zum Beispiel bei Demonstrationen –, gehen sie mit ähnlicher Härte vor, auch gegen die eigene Bevölkerung. Nun, während Trumps zweiter Präsidentschaft, kommt es zu regelrechten Massendeportationen, auch von Personen, die einen Aufenthaltsstatus haben. Forschende warnen: Die US-Migrationsbehörde ICE ist Trump regelrecht hörig, als wäre es seine Privatarmee. Er könnte sie auch gegen die eigene Bevölkerung einsetzen.
Zum Glück sind wir in Europa, nicht in den USA!
Wir sehen aber auch in Europa, wie wir uns an Brutalisierung an den Grenzen gewöhnen und wie deshalb Empathielosigkeit, Empfänglichkeit für Autoritäres und somit auch Gewalt ins Innere schwappen. Ein Beispiel ist Serbien, wo es seit Monaten große Proteste gegen die Regierung gibt. Im März setzte die serbische Polizei Schallkanonen gegen die eigene Bevölkerung ein. Mittlerweile hat sich gezeigt, dass genau diese Schallkanonen schon einige Jahre davor an der serbisch-kroatischen Grenze gegen Flüchtlinge eingesetzt worden waren. Damals gab es keinen medialen internationalen Aufschrei, weil es ja eh "nur" Flüchtlinge traf, die keine Lobby, keine Stimme und kein Wahlrecht haben. Die Erosion der Grundrechte beginnt nie bei den etablierten Gruppen im Inneren einer Gesellschaft, sondern bei marginalisierten Gruppen, also an der Peripherie.
An der Peripherie?
Ja, sowohl geografisch gesprochen – am Rand, an unseren Grenzen –, aber eben auch bei Gruppen, die innerhalb einer Gesellschaft am Rand stehen. Es ist leichter, deren Grundrechte zu beschneiden oder nicht mehr voll umzusetzen, weil sie weniger Möglichkeiten haben, sich zu wehren. Aber das bildet die Einflugschneise ins Innere der Gesellschaft für eine autoritäre Wende.
Die Bundesregierung missachtete im Sommer ein Urteil des Berliner Verwaltungsgerichts, wonach Zurückweisungen von Geflüchteten nach der Einführung von Kontrollen an der Grenze zu Polen rechtswidrig waren …
Ja, genau. Ein Beispiel aus Österreich: Beinahe hätten wir einen FPÖ-Kanzler bekommen. Im Regierungsprogramm, das FPÖ und ÖVP zum Teil schon ausgehandelt hatten, war vorgesehen, dass die Bezahlkarte, die Asylwerber statt Bargeld in manchen Bundesländern erhalten, auf alle Arbeitslosen ausgeweitet wird. Nach dem Motto: Wer nicht arbeitet, weiß mit Geld nicht umzugehen, also erlassen wir Regeln, was er sich noch kaufen darf. Das ist genau die Einflugschneise hin zum Autoritären, die ich meine.
Trotzdem werben Sie in Ihrem Buch für Empathie mit den Menschen, die auf Migrantinnen und Migranten schimpfen, und schildern Ihre Freundschaft zu einem FPÖ-Wähler, der auch schon mal pauschal über messerstechende Jugendbanden wettert und damit junge Migranten meint. Warum ist es Ihnen so wichtig, die Hand ausgestreckt zu lassen?
Empathie ist kein Patentrezept, mit dem wir die autoritäre Wende, die weltweit um sich greift, aufhalten könnten. Aber es gibt viele andere Themen als Politik, über die man – zumindest erst einmal – sprechen kann und die Menschen verbinden. Was wäre gewonnen, wenn wir uns immer weiter von jenen abschotten und abgrenzen, die anders denken als man selbst?
Nichts?
Genau. Die autoritäre Rechte setzt auf die Fragmentierung und Spaltung der Gesellschaft und setzt alles daran, die Welt in ein "Wir" und die "Anderen" einzuteilen. Den Gefallen sollte man ihnen nicht tun.
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Man kann natürlich über das Wetter, Bücher oder Kinofilme reden. Aber das Thema Migration ist omnipräsent. In Umfragen gibt eine Mehrheit in Deutschland immer wieder an, Zuwanderung sei das wichtigste Thema. Denken Sie manchmal, dass diese Leute schlicht recht haben können?
Ja, und es ist ein ungeheuerlicher politischer Fehler, das als falsch oder verwerflich abzutun. Als Migrationsforscherin kann ich zwar nachweisen, dass sowohl der deutsche als auch der österreichische Arbeitsmarkt über Nacht zusammenbrechen würden, wenn man alle migrantischen Arbeitnehmer "re-migrierte", wie es sich manche vorstellen. Als Mensch sehe ich aber auch die wahrgenommene Realität, die Bürgerinnen und Bürger empfinden.
Migration kann Gefühle von Kontrollverlust hervorrufen. Das müssen wir anerkennen.
Judith Kohlenberger
Und wie stellt sich diese Wirklichkeit dar?
Die Bevölkerung ist seit 1945 stetig diverser geworden, in Österreich wie in Deutschland. Man sieht viele Menschen, die eine Migrationsgeschichte haben. Höhere Diversität kann in westlichen Aufnahmeländern Herausforderungen schaffen und strukturelle Fehllagen verstärken – an Schulen, auf dem Wohnungsmarkt, im Gesundheitssystem. Migration kann Gefühle von "Überfremdung" oder Kontrollverlust hervorrufen. Das müssen wir anerkennen.
Können Sie dafür ein Beispiel nennen?
Unser Schulsystem geht von einer wesentlich höheren Homogenität der Bevölkerung aus, die vielleicht noch vor 30, 40 Jahren bestand, die aber jetzt nicht mehr der Realität in vielen Schulen entspricht. Es macht etwas mit den Schulen, wenn es einen zunehmenden Anteil von Kindern gibt, deren Muttersprache nicht Deutsch ist.
Was folgt daraus?
Wir dürfen die Parteien der Mitte nicht aus ihrer Verantwortung entlassen. Österreich, das Land, in dem ich lebe, steht paradigmatisch dafür, wie sich diese Parteien von der rechtspopulistischen haben hertreiben lassen. Aber auch in Deutschland kann man das derzeit beobachten. Das bezeichne ich als Migrationspanik, weil sich alles nur mehr um dieses Thema zu drehen scheint, obwohl sich seit Jahren viele verschiedene Krisen überlagern, zum Beispiel die Klimakrise, eine globale Pandemie, hohe Inflationsraten, Tech-Gigantismus, wie Elon Musk ihn verkörpert, oder Russlands Angriff auf die Ukraine. Trotz all dieser Herausforderungen handelt der öffentliche Diskurs fast nur noch von der Migration.
Zu Recht?
Derzeit sehen wir den niedrigsten Stand der Asylantragszahlen in Europa seit vielen Jahren. An den Grenzen passiert das Gegenteil eines Kontrollverlusts oder eines Grenzsturms. Das führt aber nicht dazu, dass rechte Parteien weniger Zulauf erhalten – im Gegenteil. Jede Wette: Wenn Sie auf der Straße zehn Leute fragen, sagen Ihnen neun davon, dass die Lage an Europas Außengrenze außer Kontrolle sei, dass "zu viele" kommen. Dem ist aber nicht so. Umso wichtiger wäre es, dass politische Maßnahmen unmittelbar dort ansetzen, wo sie den Alltag der Menschen verbessern und auch als solche wahrgenommen werden. Um auf das Beispiel Bildungspolitik zurückzukommen: Eltern sind wütend, weil viele Kinder nicht gut genug Deutsch sprechen und die Unterrichtsqualität abnimmt. Daran kann man der Migration die Schuld geben – aber die Situation würde sich vor allem dann verbessern, wenn die Politik mehr Geld für Bildung und Personal ausgibt.
Die deutsche "Stadtbild"-Debatte war dagegen vermutlich nicht das Mittel der Wahl, um der autoritären Wende das Wasser abzugraben?
So, wie der deutsche Bundeskanzler sie angestoßen hat, nein. Natürlich kann und muss man Probleme im öffentlichen Raum diskutieren. Und natürlich kann auch ein Bundeskanzler zum Thema machen, was wir alle im Stadtbild sehen: dass die Bevölkerung diverser geworden ist. Friedrich Merz klang aber so, als wolle er dieses Bild wieder homogenisieren. Und das funktioniert nicht. Denn zum Stadtbild tragen viele, viele Menschen bei, die nicht frisch über die Grenze gekommen, sondern die in Europa geboren und aufgewachsen sind. Da muss man deutlich eine Linie ziehen und sagen: So eine Homogenisierung wäre mit demokratischen Mitteln nicht mehr zu erreichen – da müssten wir über autoritäre Mittel reden.
"Wenn wir die Herausforderung der Migration nicht annehmen, befördern wir das Geschäft der Rechtsaußenparteien"
Judith Kohlenberger
Messerattacken wie in Brokstedt und Aschaffenburg haben viele Menschen erschüttert und das Bild von Migration beeinflusst …
Es ist wichtig, genau diese Herausforderungen, die mit Migration und mit einem höheren Diversitätsgrad in der Bevölkerung einhergehen, ohne Scheuklappen in den Blick zu nehmen. Wenn wir das nicht tun, befördern wir erst recht das Geschäft der Rechtsaußenparteien.
Genau das versuchen die Unionsparteien in Deutschland und reden fast nur noch über Migration, oft in Zusammenhang mit einem schwindenden Sicherheitsgefühl.
Wenn man ins andere Extrem kippt und zu verstehen gibt, alle Zugewanderten seien kriminell, wird man der Migrationsrealität ebenso wenig gerecht, wie wenn man Migration also Lösung aller Probleme präsentiert. Ein differenzierter Zugang ist wichtig. Dazu gehört auch: Wenn ich Straftaten nicht verfolge oder nicht in den Blick nehme, führt das erst recht dazu, dass Migrantinnen und Migranten unter Pauschalverdacht gestellt werden. Beim politischen Islam und islamistischen Anschlägen ist es auch so – beides gibt es, auch in europäischen Ländern. Wenn man das Thema ausspart, schadet das am allermeisten den vielen moderaten Muslimen, die hier nur friedlich leben, arbeiten und Steuern zahlen.
Was muss passieren, damit wir herauskommen aus dem ewigen Dauerstreit über die Migration?
Es klingt utopisch, aber wir sollten der Europäischen Asylagentur mehr Kompetenzen zuerkennen und sie den Nationalstaaten wegnehmen.
Warum?
Dadurch nähme man nationalstaatlichen Regierungen auch ein Thema weg, das sie immer wieder politisch für sich instrumentalisieren können. Es gäbe endlich gleiche Anerkennungs- und Ablehnungsquoten von Asylbewerbern in allen 27 Mitgliedstaaten. Dadurch hätten wir auch eine faire Verteilung, je nach Größe der Mitgliedsländer. Man kann das mit wissenschaftlich ausgearbeiteten Matching-Modellen verbinden.
Was hat es damit auf sich?
Beispielsweise hat mein Kollege Hannes Schammann von der Uni Hildesheim gemeinsam mit anderen ein algorithmusbasiertes Matching-Tool erarbeitet, womit sich soziodemografische Merkmale von Geflüchteten auf Regionen und die Möglichkeiten vor Ort abstimmen lassen. Wenn eine Region beispielsweise überhaupt keine Kita-Plätze hat, wird man dort nicht viele Flüchtlingsfamilien unterbringen.
Wie aussichtsreich ist so eine europäische Lösung?
Dazu bräuchte es einen einstimmigen Beschluss auf EU-Ebene, und ich sehe leider nicht, dass der zustande kommt. Es wäre eine Veränderung gegen den Trend der Zeit, der eher eine Rückbesinnung auf den Nationalstaat und damit mehr Abschottung zeitigt. Diese Entwicklung aber verhindert, was sich eigentlich alle wünschen: eine effektive Migrationssteuerung.
Judith Kohlenberger: "Migrationspanik. Wie Abschottungspolitik die autoritäre Wende befördert", Picus Konturen, ISBN 978-3-7117-3504-1, 22 Euro



