epd-bild/Tim Wegner
Sind wir an allem schuld?
Die jüngste Aussage von Friedrich Merz, dass Flüchtlinge Deutschen die Zahnarzttermine wegnähmen, löste in den Medien große Resonanz aus. Von den Flüchtlingen selbst gab es jedoch kaum Reaktionen. Lassen Sie mich zu diesem Thema als Ukrainerin sprechen.
privat
02.10.2023

Nehmen Flüchtlinge den Deutschen die Zahnarzttermine weg? CDU-Chef Friedrich Merz ist dieser Meinung. Wie fühle ich mich als ukrainische Geflüchtete, wenn ich solche Aussagen höre? Wahrscheinlich denken viele, dass mir das Schmerzen und Groll bereitet.

Ich könnte in diesem Artikel eine weitere dramatische Geschichte erzählen. Darüber, wie ich Kiew angesichts der Explosionsgeräusche verließ und kaum etwas außer einer Zahnbürste bei mir hatte. Oder wie ganze ukrainische Familien, darunter auch Kinder, in Autos erschossen wurden. Oder darüber, was es bedeutet, wenn das eigene Haus, das man sich aufgebaut hat, durch Bomben zerstört wird.

Dann könnte ich diese Geschichte mit den emotionalen Worten beenden, dass es ein zu hoher Preis für eine Zahnbehandlung ist, auf hoher See auf einem Schlauchboot alles zu verlieren, sein Leben zu riskieren und dafür alle seine Ersparnisse zu opfern. Aber das ist für jeden offensichtlich und muss nicht erklärt werden, oder?

Ein Flüchtling zu sein, sein zu Hause und seine gesamte Existenz aufgeben zu müssen und mit anzusehen, wie sein Heimatland zerbombt wird, zählt zu den schlimmsten Erfahrungen, die man im Leben machen kann. Tausende von Flüchtlingsgeschichten wurden bereits veröffentlicht, und ich sehe keinen Sinn darin, in diesem Artikel eine weitere zu beschreiben, um beim Leser Emotionen zu wecken und Herrn Merz Zynismus vorzuwerfen. Denn wir sind alle furchtbar müde: sowohl die Flüchtlinge als auch die hiesige Bevölkerung. Wir haben die Manipulationen und irrationalen Handlungen der Politiker satt.

Suche nach den Schuldigen

Man hat den Eindruck, dass keiner der Politiker daran interessiert ist, das Migrationsproblem tatsächlich zu lösen. Seien wir ehrlich: Das Land steckt in der Krise. Alle Bevölkerungsschichten haben darunter gelitten. Doch anstatt ihre Politik gegenüber Flüchtlingen und Einwanderern als erfolglos anzuerkennen, entschieden sich einige Politiker, wie zum Beispiel Herr Merz, den Flüchtlingen die Schuld an den Problemen der Gesellschaft zuzuschieben.

Im Fernsehen sprach er zwei der schmerzlichsten Themen für die Deutschen an: die Krise des Gesundheitssystems und die Flüchtlinge. Er sagte, dass Deutsche keinen Zahnarzttermin bekommen könne, weil diese Plätze von Asylbewerber besetzt seien. Mit diesem Satz gab er den Deutschen sowohl die Ursache des Problems als auch eine mögliche Lösung vor: „Keine Flüchtlinge, kein Problem.“ Die Emotionen, die diese beiden Themen bei der lokalen Bevölkerung hervorrufen, sind so stark, dass sie die Logik in den Schatten stellen können. Schließlich ist uns allen klar, dass die Flüchtlinge nicht daran schuld sind, dass es schwierig ist, einen Termin zu bekommen. Schuld daran sind ein veraltetes medizinisches System, Fachkräftemangel und mangelnde Finanzierung. Und um dies Problem zu lösen, ist eine Reform des medizinischen Systems erforderlich. Das sagen die Ärzte selbst.

So kam es am 2. Oktober zum zweiten bundesweiten Protest von Arztpraxen und Apotheken in Deutschland. Wie schon beim ersten Mal (im Juni 2023) protestieren Ärzte und Apotheker gegen übermäßige Bürokratie im medizinischen Bereich, Schwierigkeiten bei der Beschaffung von Medikamenten (insbesondere für Kinder) und einen Fachkräftemangel. Und kein Wort über Flüchtlinge! 

Politiker müssen ehrlich zugeben, dass sie Fehler gemacht haben. Nicht nur in der Migrationspolitik, auch in anderen Bereichen sind gravierende Änderungen erforderlich. Daher sehe ich, als Flüchtling, in der Aussage von Herrn Merz lediglich den Versuch, die Verantwortung abzuwälzen und die Bevölkerung mit einer schnellen Lösung zufrieden zu stellen.

Was wünsche ich mir eigentlich, als Einwanderin?

Die Migrationspolitik hingegen ist tatsächlich dringend reformbedürftig. Was würde ich mir persönlich als Einwanderin in Deutschland wünschen?

Ich wünsche mir einfachere, unbürokratischere Möglichkeiten, in Deutschland zu arbeiten. Zum Beispiel, wünsche ich mir attraktivere Konditionen für kleine Unternehmen. In der Ukraine hatte ich ein kleines Unternehmen: Ich gab Online-Kurse zu Schreibtechniken und sozialen Netzwerken und hielt auch Vorträge zu diesen Themen. In Deutschland ist dieses Geschäft aufgrund der Bürokratie und der Höhe der Steuern nicht möglich. Ja, ich arbeite bereits und beziehe keine Sozialleistungen. Aber wenn eine zusätzliche Selbstständigkeit profitabler wäre, könnte ich meine finanzielle Situation verbessern und mich in eine stärkere Position versetzen, was mich vor dem Risiko schützen würde, erneut staatliche Hilfe in Anspruch nehmen zu müssen.

Generell gilt dies nicht nur für Einwanderer und Flüchtlinge. Unter den deutschen Bürgern gibt es viele, die auch gerne ein eigenes Unternehmen eröffnen und keine Hilfe vom Staat benötigen würden, dies aber aus den oben beschriebenen Gründen nicht können.

Ja, ich wünsche mir in Deutschland mehr Anreize für diejenigen, die arbeiten wollen und können, vor allem für sich selbst. Tatsächlich ist es heute für viele rentabler, weiterhin Sozialleistungen zu beziehen.

Ab Januar 2024 werden die Sozialleistungen um 12 Prozent, also etwa 60 Euro, erhöht. An der finanziellen Situation der Leistungsempfänger wird sich, angesichts des aktuellen Preisanstiegs, nichts wesentlich ändern. Gleichzeitig ist dies zusammengenommen ein riesiger Betrag, der in eine andere, erfolgversprechendere Richtung gelenkt werden könnte.

Dies ist meine Antwort auf die Frage, welche Reaktion die Rede von Herrn Merz bei mir ausgelöst hat. Ich verspüre keinen Ärger, denn ich durchschaue seinen Populismus als politisches Manöver angesichts bevorstehender Wahlen. Was ich als Einwanderin auf keinen Fall möchte, ist, das Leben der Einheimischen zu verschlechtern. Deutschland ist ihre Heimat. Aber es nun auch mein zu Hause. Und auch ich möchte dieses Land und das Leben hier besser machen.

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T. Sholi: "Ich wünsche mir einfachere, unbürokratischere Möglichkeiten, in Deutschland zu arbeiten."

Ich auch!

T. Sholi: "Ja, ich wünsche mir in Deutschland mehr Anreize für diejenigen, die arbeiten wollen und können, vor allem für sich selbst."

Ich auch, aber vor allem von und FÜR die globale Gemeinschaft, wegen der wirklichen Wahrhaftigkeit.

T. Sholi: "Tatsächlich ist es heute für viele rentabler, weiterhin Sozialleistungen zu beziehen."

Tatsächlich ist diese "Rentabilität" ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit, denn vor allem geht sie stets von der "Freiheit" in "Ökonomie" unternehmerischer Abwägungen zu "Arbeit macht frei" aus, wo ein Gemeinschaftseigentum, OHNE wettbewerbsbedingt-konfusionierte Symptomatik, alles menschenwürdiger / sehr viel ökonomischer machen würde, ohne IRGENDEINEN systemrationalen Zynismus im tatsächlichen Sinne der heuchlerisch-verlogenen Schuld- und Sündenbocksuche.

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Liebe Frau Sholi,
es ist natürlich, dass Sie die Dinge aus Sicht einer Zuwanderin, bzw. Kriegsflüchtling sehen. ABer....so ganz unrecht hat Herr Merz nicht, er hat übertrieben, sicherlich...so, wie die vielen Flüchtlingsorganisationen mit den Verfolgungs- und Bedrohungsgeschichten der Migranten übertreiben. Das gehört anscheinend zum Geschäft!
Fakt ist, dass derzeit in Deutschland mehr als 300 Tsd abgelehnte Asylbewerber sind, die eigentlich nicht hier sein sollten und....wenn man mehr als 18 Monate in Deutschland ist, erhält man den vollumfänglichen Krankenkassenschutz, wohlgemerkt, obwohl man nichts, bzw. die Sozialkassen nur den Mindestbeitrag einzahlen. Hinzu kommen noch die ukrainischen Flüchtlinge und die anerkannten Asylbewerber, die immer noch im Bezug von öffentlichen Gelder sind, weil, und da haben Sie recht, sich für viele, insbesondere wenn sie mehrere Kinder haben, das Arbeiten nicht lohnt. Auch diese geniessen vollumfänglichen Krankenschutz mit lediglich dem Mindestbeitrag. Und nun kommen wir zu denjenigen, die arbeiten: eine Vielzahl derer arbeiten im Mindeslohnbereich und auch diese zahlen nur geringe Beiträge. Es gibt sicher auch anerkannte Asylbewerber, die einen gutbezahlten oder zumindest einen normal bezahlen Fachkräftejob haben, das ist aber, verglichen mit den vielen anderen, die Ausnahme. Und nun dürfen Sie selbst rechnen: in 11 Jahren ist die Bevölkerungszahl in Deutschland um ca. 4,2 Millionen Menschen angestiegen und das mit der gleichen Infrastruktur wie 2011, beim letzten Zensus. Mindestens die Hälfte des Anstiegs ist auf Flüchtlinge und Asylbewerber zurückzuführen, von denen die meisten, ja, die meisten, denn man kann nicht nur die Syrer zählen, nicht arbeiten und öffentliche Gelder erhalten. Und eben darunter sind auch die oben erwähnten 300 Tsd, von denen viele gar nicht arbeiten dürfen. Dass diese Zuwanderung die öffentlichen Kassen, die Krankenkassen, die Schulen und Kitas und insbesondere den Wohnungsmarkt ausserordentlich belastet, kann nicht verwundern und darf auch nicht kleingeredet werden. Sie, als Kriegsflüchtling, sehen sich selbst als Zuwanderin, obwohl eigentlich klar sein müsste, dass Sie nach Beendigung des Krieges in die Ukraine zurückkehren müssten. Und wenn Sie trotzdem bleiben können, machen Sie sich bitte einmal Gedanken, wer Ihre Rente, die Sie eines Tages erhalten möchten, zahlen soll, denn Sie selbst werden eine auskömmliche Rente kaum erwirtschaften können. Es ist sicherlich nicht alles Schuld der Flüchtlinge, aber die seit Jahren anhaltende ungeregelte Migration trägt einen großen Anteil an der mittlerweile Unterfinanzierung der Krankenkassen, der Schulen und des öffentlichen Raumes. Wer ein bisschen Mathematik beherrscht, kommt um diese Einsicht einfach nicht herum, da hilft auch kein Schönreden!

Kolumne

Tamriko Sholi

Wer bin ich, wenn ich keine Heimatgefühle mehr habe? Was machen Krieg und Flüchtingsdasein mit mir? Darüber schreibt die ukrainisch-georgische Schriftstellerin Tamriko Sholi in Transitraum