chrismon: Sie sind Therapeut und geben Schreibseminare, unter anderem für Unternehmen. Wie kann ich mir das vorstellen?
Thomas Klaus: Letztes Jahr habe ich zum Beispiel ein Seminar für die Telefonseelsorge gegeben. Das ging über zwei Tage und war mit jeweils sechs Stunden recht intensiv. Ich beginne das Seminar immer mit einer Vorstellungsrunde und möchte von jedem wissen, wer sie sind, was sie im Betrieb machen und welches Anliegen sie an den Kurs haben. Das ist eine Eingangsdiagnostik für mich. Bei der Telefonseelsorge ging es darum, den Mitarbeitenden Tools an die Hand zu geben: im Umgang mit Menschen, die anrufen, mit belastenden Erlebnissen, aber auch für sich selbst. Das Seminar war als Auszeit zum Wohlfühlen, Entspannen und Regenerieren gedacht.
Thomas Klaus
Wie beginnen Sie im Kurs mit dem Schreiben?
Mit einer Aufwärmübung, dem "automatischen Schreiben": Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer schreiben dabei fünf Minuten lang. Das Ziel ist, nicht groß nachzudenken, einfach los- und weiterzuschreiben, ohne abzusetzen, und das Geschriebene nicht zu bewerten oder auf Grammatik zu achten. Dadurch gelangt das Schreiben auf eine sehr kindliche Ebene, und die erste Hürde ist überwunden.
Was wird denn geschrieben?
Ich gebe immer einen der folgenden Anfänge als Input vor: entweder "Als ich heute früh erwachte …", "Auf dem Weg ins Büro …" oder "Meine Gedanken kreisen um …". Der letzte Satzanfang ist schon deutlich therapeutischer angehaucht. Ziemlich sicher setzt man ihn mit Dingen in Verbindung, die einen belasten oder beschäftigen. Das ist in erster Linie, um für sich selbst zu reflektieren. Nach jeder Übung gibt es aber auch die Möglichkeit, das Geschriebene vorzulesen. Alles freiwillig natürlich.
Lesetipp: Was hilft, wenn die ganze Achtsamkeit auch zum Stress wird?
Seine intimen Gedanken vor der Gruppe vorzulesen, erfordert sicher Mut.
Ja. Voraussetzung ist, dass alles in einem geschützten, sicheren Raum stattfindet. Meistens finden sich zwei, drei Leute, die sich trauen – manche lesen sogar gern vor. Die Seminarteilnehmenden der Telefonseelsorge wollten alle vorlesen. Damit hatte ich allein zeitlich gar nicht gerechnet. Die Schreibseminare sind meiner Erfahrung nach ein wirklicher Gewinn für Mitarbeiter und Betriebe. Es entsteht Verbundenheit unter den Teilnehmenden, und sie führen zu einer stärkenden Vertrauensbasis.
Wie geht es nach dem Aufwärmen weiter?
Eine Übung, die ich in den Seminaren gern anwende, nennt sich "Notsituation": Die Teilnehmenden nehmen Zettel und Stift und sollen sich einen magischen Gegenstand überlegen und notieren, irgendeinen. Das kann beispielsweise ein Stift sein, ein Glas oder ein Stuhl. Dieser Gegenstand soll mindestens drei magische Qualitäten haben. Der Zettel wird dann nach rechts oder links weitergereicht. Ich gebe drei Gefahrensituationen vor, zum Beispiel: "Sie hängen mit einer Hand an einer Felsklippe, unter Ihnen ist ein reißender Fluss. Jetzt geht es darum, sich zu überlegen, wie Sie mit Hilfe des magischen Gegenstandes auf Ihrem Zettel aus dieser Situation wieder herauskommen." Daraus entstehen oft richtig coole Texte.
Was bewirken solche Übungen?
Sie helfen dabei, das Kreative und Spielerische in sich selbst wiederzuentdecken. Gerade als erwachsene Person im Berufsleben verliert man das manchmal. Untersuchungen zeigen, dass es sehr unterstützend ist, wenn beide Gehirnhälften gut miteinander verbunden sind. Außerdem hilft das Schreiben grundsätzlich, Stress zu erkennen und auch zu vermeiden. Es ist ein probates Mittel, um Gedanken zu ordnen und Gefühle zu klären. Bei der Übung "Notsituation" bin ich in einer ausweglosen Lage mit Gefühlen wie Ohnmacht, Hilflosigkeit und Verzweiflung. Die Frage dabei ist, welche Ressourcen ich in mir wecken kann. Das hilft konkret, an eigene gesunde Kräfte heranzukommen und sich diese in Erinnerung zu rufen. Ich versuche, den Menschen dadurch Selbstwirksamkeit nahezubringen. Mir hat diese Übung selbst schon mal sehr dabei geholfen, in einer schwierigen Situation dranzubleiben und nicht aufzugeben.
Wie erleben die Teilnehmenden die Schreibseminare?
Viele sind überrascht. Sie dachten bisher, dass sie nicht schreiben können. Einige haben Vorbehalte. Oder ungute Erinnerungen an schlechte Erfahrungen im Deutschunterricht kommen auf. Die Selbstbewertung ist oft viel negativer als die Bewertung der anderen. Durch die freie Form und das sichere Umfeld in der Gruppe merken die Teilnehmenden dann, dass es egal ist, wie und was sie schreiben. Das kann auch totaler Quatsch sein. Einige entwickeln sogar Spaß daran, Unsinn zu verfassen, und stellen fest, dass sie eben doch schreiben können. Ein Teilnehmer bezeichnete das Schreiben im Kurs mal als "Reinigung der Gedanken", er fühlte sich danach gestärkt und erleichtert. Eine andere Teilnehmerin beschrieb, dass ihr übliches Denken ausgeschaltet war, was sie als wohltuend empfand.
Gibt es auch Studien zur positiven Wirkung des Schreibens?
Ja. Die amerikanischen Forscher James Pennebaker und Sandra Beall haben schon 1986 gezeigt, dass expressives Schreiben, auch therapeutisches Schreiben genannt, helfen kann, belastende Erfahrungen zu verarbeiten. Menschen, die in der Untersuchung über ihre Erlebnisse schrieben, brauchten deutlich weniger medizinische Betreuung und waren weniger krank. Seither wurde in verschiedenen Studien nachgewiesen, dass Schreiben, durch das Offenlegen der persönlichen Gedanken und Gefühle, das Wohlbefinden steigert. Es führt zur Reduktion von Angstgefühlen und depressive Gefühle werden abgeschwächt. Außerdem werden Selbstwirksamkeit und Resilienz gefördert.
Macht es einen Unterschied, ob wir analog oder digital schreiben?
Unbedingt. Wir können handschriftlich nicht so schnell schreiben, wie wir denken. Allein dadurch verlangsamt sich unsere Denkgeschwindigkeit. Das kann auch negative Gefühle hervorrufen, Ungeduld und Druck etwa. Aber gerade, wenn Menschen zu schnell im Denken sind, kann das Schreiben mit der Hand eine entlastende und entspannende Wirkung haben. Auch hierzu gibt es Untersuchungen.
"Wie kann ich mit Stress umgehen, der sich nicht vermeiden lässt?"
Thomas Klaus
Wer selbst schreibt, kennt das: Schreibblockaden. Sehen Sie das auch in den Seminaren?
Natürlich kann das passieren. Bei manchen Teilnehmenden merke ich, dass es ihnen schwerfällt, sich auf die Übungen einzulassen, vielleicht weil sie private Probleme haben und psychisch vorbelastet sind. Da kommt auch leichter eine Blockade auf, und wir sind direkt beim Thema Stress. Mein Ansatz für die Mitarbeitenden von Firmen ist: Wie kann ich mich weniger stressen lassen bzw. wie kann ich, im Sinne der Resilienz, gesund mit dem Stress umgehen, der nicht zu vermeiden ist? Denn unter Stress haben wir keinen Zugang zu unseren Gefühlen und Bedürfnissen. Wir wissen nicht, was wir eigentlich brauchen, und können so auch nicht gut für uns sorgen. Brauche ich etwas zu essen, Bewegung, Austausch? Sollte ich mal pausieren? Unter Druck fällt es uns schwer, die Arbeit liegen zu lassen. Schon sind wir im therapeutischen Bereich, wo es um ganz subjektive und individuelle Erfahrungen und Bedürfnisse geht.
Was hilft, wenn wir derart gestresst sind und eine Blockade haben?
Achtsamkeitsübungen, die ich mit bestimmten Atemtechniken verknüpfe. Oder ein angeleiteter Bodyscan. Ebenso gibt es eine Übung aus dem Qigong, bei der der ganze Körper von Kopf bis Fuß unter Anleitung abgeklopft wird. Ich frage die Teilnehmenden davor und danach: Welches Gefühl ist da? Was macht das Denken? Wie fühlt sich ihr Körper an? Das ist wirklich ein bisschen verrückt: Nach nur fünf Minuten fühlen sie sich wieder leichter, stabiler, regenerierter.
Sie geben auch in einer Klinik Schreibseminare für Menschen, die psychische Erkrankungen haben. Wie unterscheiden sich diese Seminare von denen außerhalb der Klinik?
In der allgemeinpsychiatrischen Tagesklinik sind Menschen zwischen 18 und 73 Jahren aus dem ganzen Feld psychischer Erkrankungen. Viele Patientinnen und Patienten kommen wegen einer Angststörung, Depressionen oder ADHS. Manche von ihnen waren davor stationär in Behandlung und kämpften etwa mit Psychosen. Zuletzt waren zwölf Menschen in meinem Klinik-Schreibseminar. Durch die großen Unterschiede entsteht eine ganz eigene Gruppendynamik. Das alles unter einen Hut zu kriegen ist auch für mich herausfordernd. Konzentrationsfähigkeit und Auffassungsgabe der Teilnehmenden sind durch die Erkrankungen deutlich vermindert, so dass ich die Übungen viel kürzer halten muss als außerhalb der Klinik. Vielen fällt es auch schwerer, sich auf die Übungen einzulassen oder gar noch vorzulesen.
Gibt es Geschichten, die Ihnen in Erinnerung geblieben sind?
Ich erinnere mich an einen jungen Studenten in der Klinik. Er besuchte die Schreibseminare jede Woche und hat nie etwas geschrieben. Aber er kam immer und sah zu. Beim letzten Termin, also nach elf Sitzungen, kam er und schrieb. Er hat seinen Text dann sogar vorgelesen. Das war ein bisschen wie ein Durchbruch. Oder ich denke an eine junge Frau, die früher beim Vorlesen in der Schule ausgelacht wurde. Durch den geschützten Raum im Seminar hat sie sich getraut vorzulesen. Das wurde sehr wohlwollend aufgenommen, da alle den Text gut fanden. Aus ihrer Scham wurde Freude. Wir wissen aus der Hirnforschung: Schlechte Erfahrungen können wir nicht einfach vergessen. Aber wir können sie überschreiben durch positive Erfahrungen – hier wortwörtlich.
Sollten wir demnach alle mehr schreiben?
Ja. Mein Anliegen ist, das Schreiben zumindest mehr in die Betriebe zu bringen, also in das betriebliche Gesundheitsmanagement. In vielen Unternehmen fehlt die Sensibilität für psychosoziale Faktoren bei der Arbeit. Volkswirtschaftlich entsteht durch Krankmeldungen aufgrund von psychischen Erkrankungen aber ein riesiger Schaden. Menschen rauchen und trinken eine Menge Kaffee, um mit dem Stress umzugehen. Wenn hier mit einem so einfachen und wirksamen Mittel wie dem Schreiben angesetzt würde, wäre mit etwas Übung auf kostengünstige, lehrreiche und berührende Art und Weise vielen geholfen.
Wann sollte man eine Therapie machen und wie helfen sie?
Immer mehr Menschen machen eine Therapie, wenn sie in einer psychischen Krise stecken. Ab wann ist es sinnvoll, sich einen Therapeuten zu suchen? Wie läuft eine Therapie ab? Und wie finde ich einen Platz?