Tricks gegen flatternde Nerven
Kleine Reize gegen große Anspannung
Minzbonbons, Vogelgezwischter, kaltes Wasser: Verhaltenstherapeutin Stephanie Höschel verrät Skills, die das Nervensystem kurzfristig beruhigen können
Stress-Skills - Mit kleinen Reizen große Anspannung loswerden
Mit einfachen Skills gelingt es, im Alltag den Blick zu fokussieren
Klaus Vedfelt/Getty Images
privat
10.06.2025
5Min

chrismon: Jeder kommt mal in Stresssituationen. Zu viel zu tun, Sorgen im Hinterkopf, und plötzlich merkt man, wie der Körper streikt: Der Nacken verspannt sich, der Kopf pocht, und man hat dieses flaue Gefühl im Magen. Was passiert da mit uns?

Stephanie Höschel: Unser vegetatives Nervensystem setzt sich aus dem Sympathikus und seinem Gegenspieler dem Parasympathikus zusammen. In einer solchen Stresssituation haben wir eine starke Sympathikus-Aktivierung. Das heißt, unser Körper bereitet sich auf Kampf oder Flucht vor: Das Herz schlägt schneller, wir schwitzen, die Gedanken rasen. Wir wollen irgendwie reagieren. Gerade in Situationen, wo das nicht möglich ist, kann ich Strategien anwenden, den Körper zu beruhigen. Um herunterzufahren und wieder klar denken zu können. Zum Beispiel kann ich starke Reize einsetzen, die dann Anspannung reduzieren und den Parasympathikus aktivieren. Der ist sonst aktiv, wenn wir einen Wellnesstag machen oder in der Sauna sind, also entspannenden Tätigkeiten nachgehen.

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Stephanie Höschel

Stephanie Höschel ist psychologische Psychotherapeutin und hat eine Praxis in Münster. Sie unterrichtet außerdem Kolleg:innen in Dialektisch-Behavioraler Therapie (DBT) und hat darüber ein Buch geschrieben. Teil dieser Therapieform ist es, schädliche Verhaltensweisen durch Skills zu ersetzen.

Als Psychotherapeutin arbeiten Sie genau mit solchen Reizen in der Dialektisch-Behavioralen Therapie. Worum geht es bei den sogenannten "Skills", die bei Anspannung angewendet werden?

Skills sind Verhaltensweisen, die kurzfristig helfen und langfristig nicht schaden. Die Psychologin Marsha M. Linehan hat die Dialektisch-Behaviorale Therapie, die unter anderem mit Skill arbeitet, in den 1980er Jahren entwickelt. Sie hat mit Frauen gearbeitet, die sich selbst verletzt haben. Es funktionierte nicht, ihnen einfach nur zu sagen: Lass das! Genauso wenig hat reines Verständnis geholfen. Linehan versuchte eine Balance zu finden zwischen Akzeptanz – da ist ein Gefühl – und Veränderungsstrategien: mit Skills gegensteuern, ohne auf Selbstverletzung zurückzugreifen.

Neben dem Einsatz von Reizen gibt es auch längerfristige Methoden für Emotionsregulation oder Achtsamkeit. Die sind sehr wichtig und ein großer Teil dieses Konzepts. Aber für solche Alltagsmomente helfen Skills zur Verbesserung der Stresstoleranz. Also alles, was ich so kurzfristig machen kann, um Krisen besser auszuhalten. Wenn wir am Arbeitsplatz kritisiert werden, können wir nicht total aufgebracht gegenschießen, aber zum Beispiel ins Bad gehen und kaltes Wasser über das Handgelenk laufen lassen. Oder wir gehen an die frische Luft und bewegen uns kurz.

Warum braucht man das überhaupt?

Dysfunktionales, also schädliches Verhalten ist sehr automatisiert. Skills sind dafür da, das zu unterbrechen. Wenn ich meinen Stress ignoriere, mich immer durchbeiße oder bewusst nicht auf meinen Körper achte, kann das dauerhaft krank machen. Nicht nur psychisch, auch körperlich. Ich kann Probleme mit der Haltung bekommen, mit der Ernährung, mit dem Magen. Das sind alles Folgeprobleme von Stress. Etwas dagegen zu tun ist kurzfristig erst einmal anstrengender, weil der "automatisierte" Weg einfacher ist. Aber langfristig sind die Skills günstiger.

Lässt sich das erlernen?

Wer normal durch den Alltag schlendert, wendet unbewusst wahrscheinlich jeden Tag schon 20 Skills an. Wenn ich eine Handtasche dabeihabe, ist da vielleicht ein Lippenstift drin, weil ich weiß: Wenn ich den trage, fühle ich mich wohler. Oder das Bild von einem Menschen, den ich gernhabe, auf das ich schaue, wenn es mir schlecht geht. Das können alles Skills sein, Strategien, die man dabeihat. Wenn man aber angespannt ist, hat man nicht immer im Kopf, was man machen wollte. Deswegen hilft es, Skills zu üben. Wie die Feuerwehr, die ja auch einen Löscheinsatz übt, wenn es nicht brennt. Wir bringen unseren Patientinnen und Patienten dafür zum Beispiel bei, eine sogenannte Skill-Kette zu entwickeln, die man nacheinander abarbeitet, je nach Anspannung.

Braucht ein nicht psychisch erkrankter Mensch im Normalfall eine "psychische Feuerwehr"? Oder reicht der Lippenstift?

Wir alle kommen mal in extreme Anspannungszustände. Zum Beispiel bei heftigem Streit mit dem Partner oder in Ausnahmesituationen, wenn etwa das Kind im Kaufhaus verschwunden ist. Der Unterschied zu Menschen mit beispielsweise Borderline-Persönlichkeitsstörung ist nur: Die kommen wahrscheinlich ein paarmal am Tag über dieses Anspannungs-Level.

In solchen Situationen können wir starke Symptome bekommen: Man spürt seine Hände nicht mehr oder hat einen Tunnelblick. Dann helfen stark ablenkende Reize, um überhaupt wieder klar denken zu können und aus dem rasenden Gedankenkarussell herauszukommen. Man kann dafür ein scharfes Minz-Bonbon lutschen oder einen Igelball über die Haut bewegen. Das kann in solchen Situationen auch Menschen mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung helfen. Eine richtige Therapie, die auch an den Ursachen arbeitet, geht dann natürlich weit über den Igelball hinaus.

Kann ich dabei etwas falsch machen?

Man muss immer auf das Resultat schauen. Auch wenn Patienten und Patientinnen manchmal sagen: Nichts hilft mir so gut wie Selbstverletzung, um Anspannung zu reduzieren. Es ist langfristig schädlich, also kein Skill. Das ist die Definition. Wenn ich regelmäßig an meinen Nagelbetten reiße, um mich zu beruhigen, kommt es darauf an. Bekomme ich dadurch ständig Entzündungen, ist es langfristig schädlich und kein Skill mehr.

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Wenn ich jetzt einen Skill für mich gefunden habe – der hilft ja erst in dem Moment, in dem ich merke, wie angespannt ich bin. Wie kann ich verhindern, dass es mir überhaupt erst so schlecht geht?

Man sollte Frühwarnzeichen sammeln. Meistens verlieren wir uns aus dem Blick. Es lohnt, den Fokus zwischendurch mehr auf sich selbst zu richten. Etwa indem man sich einen Handywecker zu verschiedenen Zeitpunkten am Tag stellt. Wenn der klingelt, legt man den Fokus auf sich und prüft: Hast du gerade Hunger? Hast du Durst? Wie sitzt du gerade da? Ist gerade irgendein Gefühl da? Arbeitest du schon wieder viel zu lang? Darauf können wir dann reagieren.

Und was mache ich, wenn ich Stresssymptome erkenne?

Bei hohem Stress gibt es eben diese starken Ablenkungen der Sinne. Aber für den Alltag, in dem ich frühzeitig Stress merke, empfehle ich eher angenehme Reize, die alle fünf Sinne ansprechen. Man kann sich einen Tee machen, der gut riecht. Um eine angenehme Geräuschkulisse zu schaffen, gibt es Boxen mit Vogelgezwitscher. Um unseren Augen die Möglichkeit zu schaffen, Angenehmes zu sehen, kann man in ein Feuer oder ein Aquarium schauen. Und irgendwas in der Hand haben, das sich schön anfühlt, einen sogenannten Handschmeichler zum Beispiel. Das sind Reize, die man gut verwenden kann für eine mittlere Anspannung.

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Aber das hilft nur im Moment, oder?

Ja und nein. Das sind kurzfristige Sachen, die bei Anspannung helfen. "Runterhol-Skills" sozusagen. Ob bei psychisch erkrankten oder gesunden Menschen: Sie sollen nur eine Krücke sein, damit ich da hinkomme, mich mit meinen Problemen auseinanderzusetzen oder meine Gefühle zu regulieren. Wenn wir jetzt anfangen würden, uns immer nur abzulenken bei Anspannung, aber nicht ans Kernproblem rangehen, wäre das auf Dauer auch schädlich. Aber je mehr man es macht, desto früher merkt man, wenn man in Stress kommt oder die Belastungsgrenze naht. Das kann zusammen mit anderen langfristigen Verhaltensänderungen – zum Beispiel genügend Schlaf, Ernährung und Sportstressresilienter machen.

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