chrismon: Mit Ihrem Buch "Darm mit Charme" hatten Sie 2014 einen riesigen Erfolg. Haben Sie sich mittlerweile von dem Hype erholt?
Giulia Enders: Die Anstrengung stand für mich nicht im Vordergrund. Ich war vor allem dankbar für den Hype. Mein Ziel war es, dass der Darm besser verstanden wird und mehr Aufmerksamkeit bekommt. Das hat gut geklappt, und dass die vielen Interviews oder die Lesereisen auch mal herausfordernd waren, fand ich dafür okay.
Giulia Enders
In Ihrem neuen Buch erzählen Sie ausführlich auch von anderen Organen wie der Lunge oder der Haut. Sie schreiben, Sie hätten durch die Recherchen neue Perspektiven auf Ihr Leben bekommen und von Ihrem Körper gelernt. Wie?
Ich habe mir etwa unsere Muskeln genauer angeschaut und sehe jetzt Leistung und Kraft anders als früher. Bei einigen Bewegungen lässt sich der Erfolg tatsächlich daran bemessen, wie sehr ich meine Muskeln anstrenge, etwa beim kontrollierten Heben einer Hantel. Bei anderen Bewegungen, etwa beim Hüpfen, geht es auch um Schwung und Entspannung. Dieses Wissen hilft mir bei meiner Arbeit: Wenn ich mit Anstrengung oder einer zusätzlichen Arbeitsstunde nicht vorankomme, braucht es vielleicht neuen Schwung und ich sollte eine andere Herangehensweise ausprobieren. Diese "organischere" Sichtweise hat mir schon viel Zeit und Energie gespart.
Sie widmen ein langes Kapitel unserer Haut: Sie ist viel mehr als eine Hülle, die unseren Körper umspannt. Welche Eigenschaft fasziniert Sie besonders?
Mich beeindruckt die Wirkung von Berührung. Die Forschung der letzten Jahre hat gezeigt: Über Berührung können sich menschliche Körper miteinander synchronisieren. Herz, Atem und Nervenaktivität gleichen sich an, wenn wir uns berühren, ein ruhiger Mensch kann einem nervösen dadurch nachweislich und effektiv helfen. Frisch geborene Babys können sich leichter entspannen, wenn sie Hautkontakt bekommen. Die Stresshormone in ihrem Blut nehmen ab, Atmung und Herzschlag beruhigen sich. Selbst Jahre nach der Geburt, wenn die Kinder größer sind, lassen sich die positiven Effekte des Hautkontakts nachweisen. Das sind Effekte, die sich die Medizin bei manchen Medikamenten nur wünschen könnte!
"Körpergefühl ist kein Schulfach"
Giulia Enders
Viele Menschen wissen erstaunlich schlecht über ihren Körper Bescheid. Warum ist das so?
"Körpergefühl" ist kein Schulfach, und selbst wenn es das wäre, weiß ich nicht, ob sich das durch braves Auswendiglernen entwickeln würde. Für ein gutes Körpergefühl braucht es Erfahrung, Hineinfühlen, Geduld. In einer Welt voller Smartphones und Computer fällt das manchmal schwer. Oft werden dann Ansätze aus der Achtsamkeitslehre und der Meditation empfohlen, und das ist gut und wichtig. Ich persönlich brauche darüber hinaus aber auch konkretes Wissen. Wenn ich zum Beispiel genau verstehe, wie beruhigende Atemtechniken im Körper wirken oder warum ich mitten in der Nacht wach werde, verhalte ich mich anders, als wenn ich einfach nur Ratschläge oder Tipps befolge. Ich weiß, dass mein Herz weniger frisch beatmetes Blut durch den Körper pumpen muss, wenn ich langsamer atme. Das erlaubt parasympathischen Nerven, für Entspannung zu sorgen. Wissen hilft nicht nur, bestimmte Körperprozesse zu spüren, sondern auch, sie besser einzusortieren und darauf zu reagieren. Ich würde das "kluges Körpergefühl" nennen.
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Wie weit können wir durch unsere Lebensführung unseren Körper so beeinflussen, dass er gesund bleibt, wie viel Potenzial haben wir?
Bei den 22 häufigsten menschlichen Krankheiten spielen die Lebensbedingungen eine größere Rolle als die Gene. Einige der Faktoren wie Sport, soziales Umfeld und Ernährung können wir gut beeinflussen, bei anderen, wie der Qualität von Luft und Wasser, ist das schwieriger. Hier sind wir auch auf Politik und Gesellschaft angewiesen.
Ist eigentlich jede Krankheit Ausdruck davon, dass wir den Körper vernachlässigt, gegen seine Bedürfnisse "angelebt" haben?
Nein, auf keinen Fall. Krankheiten können auf vielen verschiedenen Wegen entstehen. Manchmal bringt es etwas, zu ergründen, wie es zu einer Erkrankung gekommen ist, mitunter hilft das nicht und es geht um den Blick nach vorn: Was lässt sich jetzt verbessern und wie?
Können Sie Beispiele nennen?
Wenn ich seit langem eine chronische Darmentzündung habe und einen neuen Schub bekomme, würde ich zunächst schauen, was mir akut hilft. Bei einem Bandscheibenvorfall kann es dagegen sinnvoll sein zu überdenken: Wie viel bewege ich mich in meinem Leben, wie sitze ich an meinem Schreibtisch?
Gibt es ein Missverständnis über unseren Körper, das Sie endgültig aus der Welt schaffen möchten?
Ich denke zum Beispiel an unser Immunsystem. Hier wird von einigen Ärzten erklärt, dass es unseren Körper "angreift", wenn wir eine Autoimmunerkrankung bekommen. Das klingt so, als sei das Immunsystem ein Feind, der gegen uns arbeitet. Vielmehr ist es jedoch so, dass es uns um jeden Preis beschützen will, dabei allerdings manchmal übertreibt – wenn es zum Beispiel gegen vermeintlich fehlerhafte Zellen vorgeht, die aber gar nicht besonders gefährlich sind. In Wirklichkeit handelt es sich um ein Missverständnis.
Also eine Art übertriebene Fürsorge, so wie manche Helikoptereltern ständig um ihre Kinder kreisen?
Vielleicht könnte man das so sehen.
Ihr Buch zeigt die Komplexität unseres Körpers, wie alles zusammenspielt. Sehen Sie darin auch etwas Spirituelles, haben Sie so etwas wie Ehrfurcht vor dem Leben?
Früher hätte ich auf diese Frage nicht wirklich antworten können, heute geht es mir anders. Ich habe mittlerweile Menschen die Hand gehalten, während sie gestorben sind, ich war bei der Geburt meines Neffen und meiner Nichte dabei, ich habe bewusstlose Personen auf der Intensivstation begleitet, während sie durch die richtigen Maßnahmen wieder zu sich kamen. Oft lag ich nach solchen Erlebnissen abends auf meinem Wohnzimmerboden und habe gedacht: Was für ein unfassbares Mysterium das Leben ist!
In der Bibel heißt es: "Herr, ich danke dir dafür, dass du mich so wunderbar gemacht hast." Passt das zu Ihrem Blick als Medizinerin?
Je mehr ich über den Körper weiß, umso besser passt das. Body Positivity – also die Haltung, den eigenen Körper anzunehmen und zu feiern – funktioniert bei mir nicht über gut gemeinte Sätze wie "Du bist schön, so wie du bist!". Wenn ich aber eine Videomikroskopie von den Sensorzellen des Ohres sehe, wie sie im Takt von Elvis Presley tanzen, oder von Immunzellen, die jede einzelne Körperzelle abtasten, um sicherzugehen, dass es mir gut geht, dann spüre ich diesen Wert. In solchen Momenten kommt bei mir Liebe auf: Liebe für einen Körper, den ich haben darf und der alles für mich tut, was er kann.