Gebirge
Mensch, bist du klein
Welch grässlicher Anblick! Wer die Alpen früher in der Kutsche durchqueren musste, zog die Gardinen zu, um nicht von Angst gepackt zu werden. Heute sind die Berge Ferienziel und Seelenort. Johann Hinrich Claussen zieht es immer wieder dorthin
Alpe Stofful, Italien
Olaf Unverzart
(Berlin) 11.02.16; Dr. Johann Hinrich Claussen, Portraet, Portrait; Kulturbeauftragter des Rates der EKD, Leiter des EKD-Kulturbueros, evangelischer Theologe Foto: Andreas Schoelzel/EKD-Kultur. Nutzung durch und fuer EKD honorarfreiAndreas Schoelzel
Aktualisiert am 31.10.2024
8Min

Dem Irrsinn dieser Welt entkommen, die Sorgen des Alltags hinter sich lassen – dazu braucht es nicht mehr als zwei Beine, die nach oben gehen, Schritt für Schritt bergauf, die Baumgrenze hinter sich lassend, durch den Nebel hindurch, hinauf zum Gipfel und dann in die unendliche Weite schauen, endlich aufatmen, ganz da sein. Caspar David Friedrich hat es gemalt. Unzählige Menschen, die in diesem Jahr, da sein 250. Geburtstag gefeiert wird, zu den großen Ausstellungen in Hamburg, Berlin, Greifswald und Dresden gepilgert sind, finden sich heute noch in seinen Gipfelgemälden wieder: moderne Wanderer und Wandererinnen über dem Nebelmeer.

Die Berge gehören zur inneren Landschaft der Deutschen. Das gilt auch für Flachländer aus dem Norden wie mich. Die alpine "Heidi"-Welt ist für uns zugleich Ferienziel und Seelenort. Hier finden wir größtmöglichen Abstand zu unserem durchgerechneten Stadt­leben in der Tiefebene und seiner hektisch-technischen Mobilität. Wir erleben von neuem unsere eigene Natürlichkeit, indem wir wieder unsere eigenen Füße ­bewusst benutzen und mit ihnen weite Wege gehen. Wir erleben den Rausch der Höhe sowie der Ge­schwindigkeit, mit der es hinuntergeht. Abends essen und trinken wir mit mächtigem, aber gesundem Appetit und schlafen danach wie Steine. Und wir sehen eine Landschaft, die bei jedem Wetter auf eine Weise schön ist, dass uns die Worte dafür fehlen und wir nur "Ah" oder "Oh" stammeln können.

Mangart, Slowenien

Aber eigentlich ist es gar keine Landschaft, was wir da anstaunen, sondern ein "seelisches Fernbild", wie der Philosoph Georg Simmel formuliert hat. Es ist ein metaphysisches Erlebnis. Nur dass wir uns auch daran gewöhnt haben, es für normal nehmen, und uns der Sinn für den Zauber der Berge manchmal abgestumpft ist.

Es ist hilfreich, sich daran zu erinnern, dass unser Kult um die Berge eine – menschheitsgeschichtlich betrachtet – junge Erscheinung ist. Der erste europäische Bergsteiger, von dem wir wissen, war der italienische Dichter Francesco Petrarca (1304–1374). Lange hatte er den für seine Zeit ganz ungewöhnlichen Wunsch, den Mont Ventoux in der Provence zu besteigen. Mit seinen 2000 Metern ist ­dies eigentlich ein niedriger Gipfel, damals aber, im Jahr 1336, war seine Besteigung ein epochales Unterfangen. Die Bergbauern schüttelten den Kopf, als sie Petrarca hinaufsteigen ­sahen.

Doch als er endlich den Gipfel erreicht hatte, lag ihm die Welt zu Füßen. Weit schaute er zu den Alpen, über den Golf von Marseille, ins Rhonetal. Dann setzte er sich und schlug ein Buch auf, das er mitgenommen hatte. Es waren die "Bekenntnisse" des Kirchenvaters Augustin. Darin stieß er auf einen Satz, der ihn wie ein Schlag traf: "Und es gehen die Menschen, zu bestaunen die Gipfel der Berge und die ungeheuren Fluten des Meeres und die weit dahin fließenden Ströme und den Saum des Ozeans und die Kreisbahnen der Gestirne und haben nicht acht auf sich selbst." Plötzlich fühlte sich Petrarca beschämt: "Da entschied ich mich, genug von dem Berge gesehen zu haben, und wandte das innere Auge auf mich selbst, und von Stund an hat niemand mich reden hören, bis wir unten ankamen."

(Berlin) 11.02.16; Dr. Johann Hinrich Claussen, Portraet, Portrait; Kulturbeauftragter des Rates der EKD, Leiter des EKD-Kulturbueros, evangelischer Theologe Foto: Andreas Schoelzel/EKD-Kultur. Nutzung durch und fuer EKD honorarfreiAndreas Schoelzel

Johann Hinrich Claussen

Johann Hinrich Claussen, geboren 1964, ist Kultur­beauftragter der Evangelischen Kirche in Deutschland. Für chrismon schreibt er die Kolumne "Kulturbeutel". Von ihm er­schien zuletzt: "Gottes Bilder: Eine Geschichte der christlichen Kunst" (C. H. Beck, 2024) und zusammen mit M. Fritz, A. Kubik, R. Leonhardt, A. von Scheliha: "Christentum von rechts" (Mohr Siebeck, 2021). Außerdem ist er Autor des Podcast: "Draussen mit Claussen".

Petrarca war ein ferner Vorläufer all derer, die heute sommers wie winters in die Berge fah­ren, um das Staunen zu lernen und dabei sich selbst besser kennenzulernen. Zu seiner Zeit jedoch und noch lange danach musste seine Besteigung des Mont Ventoux den Menschen als ein exzentrischer Spleen erschienen sein. Denn ihnen galten die Berge als schrecklich, gefährlich und hässlich. Hohe Herrschaften, die die Alpen mit der Kutsche durchquerten, pflegten die Gardinen zuzuziehen, um sich den grässlichen Anblick zu ersparen und nicht von der Angst gepackt zu werden. So blieben die Alpen bis ins 19. Jahrhundert eine Un-Welt, unbekannt, unerforscht, nicht kartographiert – ein weißer Fleck auf der europäischen Landkarte, ähnlich weiten Teilen Afrikas.

Es war ein Gedicht, das den Europäern den Sinn für die einzigartige Schönheit der Alpen weckte. 1729 veröffentlichte der Schweizer Naturforscher und ­Literat Albrecht von Haller (1708–1777) nach einer ausgedehnten Reise durch die Berge seiner Heimat das Langgedicht "Die Alpen". Für einen heutigen Lesegeschmack sind seine barocke Landschaftsmalerei und sein aufgeklärtes Moralisieren schwer zu konsumieren. Aber zu seiner Zeit eröffnete es einen anderen Blick auf die Berge. Dieser störte sich nicht mehr an ihrer jedes Maß sprengenden Großartigkeit, sondern sah in den Bergen etwas "Erhabenes", das Ehrfurcht auslöst.

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Damit war eine neue Ästhetik geboren, die nicht nur das harmonische Ebenmaß als schön erkennt und den wohlproportionierten Ausgleich sucht, sondern die ­im Angesicht des Unendlichen, vor überwältigenden Gipfeln und schrecklichen Abgründen ins Staunen ­gerät und dabei eine Art köstliches Grauen genießt. "Delightful horror" nennen es die Engländer.

Diese neue Berg-Ästhetik verband sich schon bei Haller mit einer neuen Ethik, nämlich mit der Vorstellung, in den Bergen ein reines und gesundes Leben zu lernen: "Entfernt vom eiteln Tand der mühsamen Geschäfte / Wohnt hier die Seelen-Ruh und flieht der Städte Rauch; / Ihr tätig Leben stärkt der Leiber reife Kräfte, / Der träge Müßiggang schwellt niemals ihren Bauch."

So sehr man die Sehnsucht des "Zurück zur Natur!" nachvollziehen mag, steckt in ihr doch ein gewisses Selbstmissverständnis. Denn nur unter den Bedingungen der Moderne kann man die Berge als Gegenorte zur Moderne erfahren. Vorher kam man ja gar nicht zu ihnen hin. Es brauchte neu­artige Verkehrsmittel und Techniken, die unzähligen Instrumente moderner Naturbeherrschung, um zu abgelegenen Tälern zu gelangen, Gletscher zu durchqueren, Abgründe zu überbrücken, Steilwände zu erklimmen, höchste Gipfel zu besteigen – und danach wieder heil ins Flachland zurückzukehren.

Ghiacciaio della Brenva, Italien

In der Nachfolge von Hallers Gedicht entstand ­bald eine neuartige Bewegung, die sich zunächst aus weni­gen Auserwählten zusammensetzte, am Ende aber ein Massenphänomen wurde: der Alpinismus. Seine erste große Zeit waren die Jahre 1750 bis 1850. Mit besonderem finanziellen und körperlichen Vermögen ausgestattete Herren, vor allem englische Gentlemen in Tweet-Jackett und Knickerbocker, durchstreiften Österreich, die Schweiz, Südtirol und den Südosten Frankreichs auf der Suche nach neuen Touren, Abenteuern und Höhepunkten.

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Für die Dörfler, die bis dahin kaum je einen Fremden zu Gesicht bekommen hatten, muss dies ein befremdlicher Anblick gewesen sein. Doch diese Pioniere legten den Grundstein für einen Wirtschaftszweig, der ihre Nachfahren zu Wohlstand bringen sollte: Alpintourismus und Wintersport. Man darf nicht vergessen, wie armselig das Leben der Alpenbewohner war. Extremem Wetter ausgesetzt, mussten sie kleinen, kargen Feldern Erträge abtrotzen, die halbwegs das Überleben sicherten. Dabei waren sie vom Rest der Welt abgeschnitten, in engen Tälern gefangen, sahen wenig vom Himmel, die Sonne nur wenige Stunden am Tag (oder waren im Winter von gleißender Helligkeit geblendet). Man muss sich das ursprüngliche Leben in den Alpen als unglücklich vorstellen: hart, arm, gefährdet, beschränkt, stumpfsinnig.

Man muss sich dieses Alpenelend vor Augen halten, wenn man sich eine heile Berge-Welt zurückwünscht oder die heutige Kommerzialisierung dieses Gebirges beklagt. Die nicht geringste Leistung der ersten Alpi­nisten bestand also darin, langfristig einen unbekannten Wohlstand in die Berge gebracht zu haben.

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Man kann in ihnen aber auch die Apostel einer neuartigen Religiosität sehen. Denn die Bergsteiger traten an die Stelle der alten christlichen Pilger. Sie suchten auf ihren Wanderungen nicht die Begegnung mit den Heiligen der Kirche und deren Wunderkräften. Doch auf ihre Weise waren sie ebenfalls auf dem Weg zum Göttlichen. Deshalb markierten sie jede ihrer Erstbesteigungen mit einem Kreuz. Das Gipfelkreuz wurde zum Inbild moderner Bergfrömmigkeit.

In ihr verbindet sich höchst Unterschiedliches: Freude an der eigenen sportlichen Kraft, Lust am Abenteuer und Entdeckerglück, Höhen- und Geschwindigkeitsrausch, aber auch Demut vor den letzten unbeherrschbaren Kräften der Natur ­sowie Ehrfurcht vor dem Unendlichen. Die Alpen waren ebenso wie der Olymp kein heiliger, unbetretbarer Wohnort der Götter mehr. Der Mensch hatte sich selbst die höchsten Gipfel unter die Füße getan, dabei aber einen Sinn und Geschmack für das Ewige entwickelt.

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Als Student lebte ich in der Nachfolge der ersten Alpinisten. Jedes Jahr im Frühjahr machte ich mich zu einer Tour auf, mit möglichst leichtem Gepäck, die Felle ­unter dem Ski, Harsch- und Steigeisen griffbereit, den Lawinenpiepser am Körper, und dann über Gletscher, Schneefelder, hoch zu den Gipfeln, ­dazwischen Essen und Schlafen in schlichten Hütten. Man lernt viel über sich selbst auf solchen Touren: was man schafft und wo die Grenze liegt; was einem alles wehtun kann und wie egal das ist; wie man das Höchste anstrebt, bei Gefahr aber klaglos auf ver­lockende Erlebnisse verzichtet; wie glücklich und erfüllt man sein kann; wie weit man schauen kann, ohne an ein Ende zu kommen. Und man kommt zu anderen Menschen in eine Nähe, wie es in der Ebene nicht möglich wäre.

Auf meinen Touren habe ich Freunde fürs Leben gefunden und meinen Vater eigentlich erst so richtig kennengelernt. Hier habe ich das einzige Mal Tränen in seinen Augen gesehen. Das war, als ich spektakulär gestürzt war und er sich voller Angst über mich beugte – am Ende aber war es gar nicht so schlimm gewesen. Dann kamen Beruf und Familiengründung. Für das Touren­laufen fehlte die Zeit. Für das Pistenskilaufen aber fehlte die Lust. Wer einmal einen Berg selbst bestiegen hat, mag nicht mehr Lift fahren.

Wer je in den Bergen eine absolute Stille gehört und unaussprechlich Schönes gesehen hat, der ist für den heutigen Wintertourismus mit Kunstschnee und DJ Ötzi zum Après-Ski verloren. Für mich ist dieser Alpinismus das negative Beispiel einer Konsumkultur, die verbraucht, was sie genießt. Sie zerstört, was sie liebt.

Im Sommer kann es noch ein bisschen anders sein, wenn man wandern geht – allein, mit Freunden oder der Familie. Schritt für Schritt, je nach Tagesform und Lust steile oder bescheidene Wege gehen, ohne dabei großen Schaden anzurichten, stattdessen weit schauen, still genießen, eine Ahnung von Freiheit, Beheimatung und Grenzenlosigkeit gewinnen – und wenn dann Nebel aufkommt, man ihn durchschreitet, ihn überwindet, man auf dem Gipfel stehend über den Wolken zu schweben scheint, dann kann man glauben, man selbst sei Teil eines großen Gemäldes von Caspar David Friedrich geworden.

Eine erste Version des Textes erschien am 19. Juli 2016.

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Die Soziologie ist aus meiner Sicht eine lebensfeindliche Wissenschaft, die christliche Sichtweisen völlig konterkariert.