Austausch und Unterstützung sind entscheidend – Mütter profitieren, wenn sie nicht allein, sondern in Gemeinschaft sind
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Einsam mit Kind zu Hause
"Mütter brauchen Netzwerke"
Viele Mütter fühlen sich einsam und überfordert. Im Interview erklärt Anja Krug-Metzinger, was wir von Affen und aus der Vergangenheit lernen können, damit es den Frauen bessergeht – und allen anderen auch
Tim Wegner
19.08.2025
7Min

In Ihrem Buch erinnern Sie an eine Zeit, als es in Mietshäusern große Waschküchen gab, die gemeinschaftlich genutzt wurden. Heute steht in fast jedem Haushalt eine eigene Waschmaschine. Bei Ihnen liest es sich so, als würden Sie die Entwicklung bedauern. Warum?

Anja-Krug Metzinger: Natürlich will niemand zurück zu stundenlangem Wäschewaschen von Hand. Aber gemeinschaftliche Waschküchen waren ein Ort der zufälligen Begegnung. Solche Orte fehlen uns – und besonders den Müttern. Die Wäsche zu machen war in Waschküchen früher ein längerer Vorgang. Die Kinder waren dabei und spielten, die Mütter tauschten sich aus und knüpften Netzwerke. Es entstanden eine Gemeinschaft und Kontakte, die heute in modernen Wohnanlagen kaum mehr entstehen.

Anja Krug-Metzinger

Anja Krug-Metzinger, Jahrgang 1966, ist Regisseurin und Autorin. Ihre preisgekrönten Dokumentarfilme und Radio-Features erschienen bei ARTE, WDR, ZDF, SWR, BR und Radio Bremen. Anja Krug-Metzinger lebt in Rheinland-Pfalz.

Sie schreiben: Nachts ist hinter manchen Fenstern noch Licht, weil Mütter versuchen, Dinge zu erledigen, die tagsüber liegen geblieben sind, weil die Kinder ihre ganze Aufmerksamkeit gefordert haben. Sind Sie wirklich durch die Straßen gelaufen, um dem Lebensgefühl heutiger Mütter nachzuspüren?

Ja, ich wollte wissen, wo noch Licht brennt, und habe Silhouetten einsamer Mütter gesehen. Diese Eindrücke habe ich durch Einträge in Internetforen vervollständigt, in denen sich Mütter austauschen. Und natürlich habe ich auch mit vielen Müttern gesprochen. So hat sich ein Gesamtbild herauskristallisiert: Viele Mütter erhalten tagsüber den Anschein aufrecht, dass alles perfekt funktioniert. Das spiegelt sich auch in Einträgen in sozialen Netzwerken wie Instagram wider. Dieselben Mütter suchen nachts nach Unterstützung.

Gibt es ein Erlebnis, das Ihnen besonders in Erinnerung geblieben ist?

Eine junge Mutter sagte mir: "1400 Instagram-Follower, 200 Facebook-Freunde, drei Whatsapp-Gruppen nur für Mütter – und trotzdem hatte ich letzte Woche hohes Fieber und niemanden, den ich um eine Packung Paracetamol bitten konnte." Ich will damit aber nicht sagen, dass das Internet per se etwas Schlechtes ist; es kann sehr sinnvoll sein, um in Kontakt zu kommen. Man muss nur aufpassen, dass Kontakte nicht nur virtuelle Kontakte bleiben, sondern daraus reale Begegnungen werden.

Warum fühlen sich Mütter so einsam und alleingelassen?

Einer der wichtigsten Gründe dafür ist der Verlust der traditionellen Familiennetzwerke. Früher lebten Tanten, Onkel, Oma, Opa ganz nah bei der Mutter und unterstützten sie. Heute leben die Familien teilweise weit verstreut voneinander. Viele moderne Großeltern sind mit Wohnmobilen unterwegs. Sie sind so gesund, fit und gebildet wie nie zuvor und wollen das nutzen. Da vollzieht sich eine sogenannte Silver Revolution. Mit einigen dieser Großeltern habe ich gesprochen. Eine Großmutter erzählte mir: "Wir betreuen die Enkelkinder nicht regelmäßig, machen dafür aber zweimal im Jahr mit ihnen einen richtigen Abenteuerurlaub."

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Das Jahr hat aber 50 weitere Wochen …

Genau. Und natürlich unterstützen immer noch viele Großeltern ihre Kinder, aber sie geben dann auch selbst den Ton an und sind sehr viel selbstbestimmter als frühere Generationen. Und es gibt noch weitere Gründe für die Vereinzelung der Mütter: Die Nachkriegsarchitektur hat mehr Trennendes als Verbindendes geschaffen – die dunklen Flure, die abgeschirmten Balkone, große Hecken in den Vorgärten. All das bewirkt, dass sich die Leute eher voneinander abschotten statt zusammenzufinden. Außerdem haben sich auch unsere Zeitstrukturen verändert. Freie Wochenenden, freie Sonntage, an denen früher Familien zusammenkamen, sind heute keine Selbstverständlichkeit mehr. Verabredungen unter Kindern sind oft Kalenderereignisse. Früher ergaben sie sich selbstverständlich, heute gibt es zudem wenige Orte für spontanes Kinderspiel unter den wachsamen Augen der Nachbarschaft.

Spielt auch unser Wirtschaftssystem eine Rolle? Die Marktwirtschaft durchdringt ja alle Bereiche unseres Lebens.

Ja, diese Entwicklung hat schon vor 200 Jahren begonnen, als die Industrialisierung die familiären und nachbarschaftlichen Netzwerke zerstört hat. Viele Menschen zog es in die Städte, und erst dort wurde es zum Ideal, dass die Mutter Hausfrau ist. Allerdings konnten es sich viele Mütter gar nicht leisten, diesem Ideal nachzueifern. In der Hochphase der Industrialisierung mussten Mütter teilweise ihre Säuglinge alleine zu Hause lassen, weil sie arbeiten mussten. Und heute setzt sich diese Überforderung fort, nur in anderer Form: Was früher die Gemeinschaft leistete – Kinderbetreuung, Pflege, Nachbarschaftshilfe –, muss heute teuer eingekauft werden.

Welche Rolle spielen die Väter? Sie könnten ja auch zu Hause bleiben!

Auch Väter stellen sich hormonell auf die Geburt und auf eine fürsorgliche Rolle ein, können ihre Fähigkeiten aber gar nicht so leben, weil sie einfach zerrieben werden zwischen Arbeitsdruck und dem Wunsch, bei der Familie zu sein.

"Frauen haben das Gefühl, dass sie versagen und den Ansprüchen nicht gerecht werden."

Anja Krug-Metzinger

Worunter leiden moderne Mütter heutzutage konkret?

Ich habe viele Geschichten von Einsamkeit und Schlafmangel gehört. Vor allem aber haben die Frauen das Gefühl, dass sie versagen und den Ansprüchen nicht gerecht werden. Sie suchen nach Unterstützung, die es früher in viel größerem Maße – beispielsweise durch ihre Mütter und Großmütter – gab. Diese verkörperten ein praktisches Wissen um Kinderbetreuung, das heute fehlt. Heute suchen die Frauen stattdessen Hilfe in Ratgebern, die sich jedoch widersprechen. Das führt zu einer großen Verunsicherung.

Sie haben der Geschichte des Mutterseins nachgespürt. Gab es für Frauen mit Kindern schon bessere Zeiten?

Ja! Über Jahrtausende lebten Menschen in funktionierenden Gemeinschaften. Mütter waren von natürlichen Unterstützungsnetzwerken umgeben – Großmütter, Schwestern, Nachbarinnen. Sie konnten sich direkt austauschen, einander trösten und praktisch helfen.

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Nun wird aber niemand zurück in die Urzeit wollen!

Natürlich will niemand zu den harten Lebensbedingungen der Urzeit zurück. Aber das Prinzip – dass Familien so lebten, wie es unserer biologischen Prägung entspricht – das können wir heute neu denken. Wie das funktioniert, zeigen uns die Weißbüschelaffen.

Weißbüschelaffen?

Das sind kleine, handgroße Tierchen, die Kinder so großziehen, wie es auch in unserer Natur liegt – kooperativ, alle Familienmitglieder helfen mit. Die Weißbüschelaffenpapas helfen sogar viel mehr mit, als es bei uns Menschen üblich ist. Unsere allernächsten Verwandten, die Schimpansen, tun das hingegen nicht. Da müssen Mütter alles alleine machen. Ich frage mich: Was also ist natürlich und was modern?

"Wir sind von Natur aus kooperative Wesen"

Anja Krug-Metzinger

Auf welche Antwort sind Sie gekommen?

Meine Recherchen haben ergeben, dass wir Menschen von Natur aus kooperative Wesen sind – wie die Weißbüschelaffen, nicht wie die Schimpansen. Schimpansenmütter müssen alles allein schaffen, Weißbüschelaffenmütter werden von der ganzen Gruppe unterstützt. Und genau diese kooperative Art liegt auch uns Menschen im Blut. Das hat unsere Spezies stark gemacht: Die Kombination aus großem Gehirn und der Fähigkeit zur Zusammenarbeit. Nur leider leben wir heute gegen unsere eigene Natur – wir haben aus Müttern trotz unseres kooperativen Naturells Einzelkämpferinnen gemacht. Darunter leiden viele Frauen.

Was könnten wir lernen aus früheren Zeiten, um die Situation der Mütter zu verbessern?

Wir müssen zurück zu dem, was funktioniert hat: Gemeinschaft schaffen. Das bedeutet konkret: verpflichtende Gemeinschaftsräume für Neubauten, und zwar mindestens 20 Prozent der Fläche, um Raum für Begegnungen zu schaffen. Wir müssen Mehrgenerationenhäuser fördern. Zudem brauchen wir eine flexible 24-Stunden-Kinderbetreuung, wie es unserer kooperativen Natur entspricht. Und eine existenzsichernde Grundsicherung für Familien. Außerdem: flexible Arbeitszeiten für Eltern und eine massive Investition in soziale Infrastruktur, zum Beispiel in Projekte für Leihgroßeltern. Wir Menschen sind einfach eine Spezies, die ihre Kinder gemeinschaftlich betreuen muss.

Und die Mütter werden dann gar nicht mehr gebraucht?

Die Mutter bleibt natürlich immer im Zentrum, besonders bei kleinen Kindern. Es geht nicht darum, die Kinder abzugeben. Entscheidend ist, dass Mütter von einem Unterstützungsnetzwerk getragen werden und dass sie nie das Gefühl haben, grundsätzlich alleine für die Kinder verantwortlich zu sein. Anders als man zunächst denken könnte, verbessert sich durch gemeinschaftliche Kindererziehung die Beziehung zwischen Mutter und Kind.

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Viele denken, Kinder leiden in der "Fremdbetreuung" …

Es versteht sich von selbst, dass ich eine qualitativ hochwertige Betreuung vor Augen habe. Denn nur die ist ein Gewinn für alle. Die Mutter ist dadurch weniger gestresst und kann sich liebevoller um die Kinder kümmern. Dadurch wird die Mutter-Kind-Bindung verbessert. Das zeigen Studien ganz klar. Übrigens gibt es auch bei Weißbüschelaffen Untersuchungen, die zeigen, dass die Mütter ihre Kinder besser versorgen und ernähren, wenn sie ein Unterstützungsnetzwerk haben.

Sie selbst haben keine Kinder. Warum interessieren Sie sich dafür, wie es Müttern geht?

Ich habe bei Freunden und Bekannten gesehen, dass viele Frauen mit der Isolation, der Überforderung und der völligen Erschöpfung hadern. Ich dachte: Etwas stimmt nicht mit der Art, wie wir heute Mutterschaft organisieren – das kann doch nicht der richtige Weg sein. Und habe angefangen zu recherchieren. Die Forschung zeigte mir eine zentrale Erkenntnis: Wir Menschen sind von Natur aus Cooperative Breeders. Wir sind eine Spezies, die ihre Kinder gemeinschaftlich großziehen muss.

Anja Krug-Metzinger: Gemeinsam statt einsam. Berlin Verlag, 208 Seiten, 22 Euro
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