Die junge Frau ist in Ekstase. Sie steht mir fast auf den Füßen, windet sich und zappelt. Zur Seite kann ich nicht ausweichen, wenn ich die hüftlangen Haare des schwarz gekleideten Headbangers nicht ins Gesicht kriegen will. Und hinter mir schwenkt jemand einen Plastikbecher voller Bier, da wird’s feucht. Als die Band das Tempo steigert, drängelt sich eine Meute Richtung Bühne und bildet einen Moshpit: eine Art verschärften Tanzkreis mit Rempeln. Am Ende sind alle erschöpft, vielleicht auch ein bisschen lädiert – aber glücklich.
Sabine Horst
Frank Höhne
Glücklich in der schwitzenden Masse? Wer gibt sich so was? Heavy Metal ist nicht meine Musik und das hier nicht meine "Szene". Aber ich zapple mit. Es ist die Schwundform eines archaischen Impulses. Eine Art Rausch, in dem sich die Grenze zwischen dem Ich und den anderen auflöst. Einer dieser Momente, in denen wir jenseits von Politik, Religion, Ideologie, jenseits von Zweck und Sinn "das Wunder unserer gleichzeitigen Existenz feiern" – so hat es die amerikanische Autorin Barbara Ehrenreich 2007 in "Dancing in the Streets – A History of Collective Joy" formuliert. Sie lieferte dazu ethnographisches Material von den attischen Dionysien über haitianische Voodoo-Rituale bis zum Karneval. Das Bedürfnis nach ekstatischer Auflösung im Kollektiv wäre uns demnach als Spezies eingeschrieben.
Heute wird für jede Neigung und jedes Temperament etwas geboten: Sportevents und Musikfestivals, Raves und Stadtteilfeste, Christopher Street Day und Kirchentag. Es scheint allerdings einen Punkt zu geben, an dem der Spaß in Stress umschlägt und von dem an wir eine Menschenmasse nicht als inspirierend empfinden, sondern als nervig oder gar bedrohlich.
Auf der Erde ist es so voll wie nie
Schon Edgar Allan Poes Erzählung "The Man of the Crowd", die um die Mitte des 19. Jahrhunderts den Beginn der modernen Massengesellschaft markierte, beschrieb ein Gefühl der Entfremdung in der Masse. Poe zeigte den Flaneur als anonymen Einzelgänger, der in unklaren Geschäften unterwegs ist. Damals war London die größte Stadt der Welt und hatte zweieinhalb Millionen Einwohner – heute kann man auf dem Oktoberfest mehr Leute treffen.
Auf der Erde ist es so voll wie nie, doch wir scheinen immer weiter auseinanderzudriften. Die Menschheit drängelt und steht im Stau, auf dem Weg zur Arbeit oder in der Freizeit, von Oer-Erkenschwick bis zum Gipfel des Mount Everest. Die meisten arrangieren sich zähneknirschend da mit und werfen ihre Handtücher auf die Liegen am Pool des All-inclusive- Resorts. Andere wandern in den Karpaten – bevor es auch da hip wird.
Die Masse hat kein gutes Image
Alles in allem hat die Masse kein sonderlich gutes Image. Aus historischer Sicht ist das verständlich, besonders für Deutsche, die mit Masse schnell imperialistische Armeen oder faschistische Mobs assoziieren. Die klassischen Theorien zum Thema, von Freud, Canetti, Theweleit, beziehen sich auf solche formierten, politisch funktionalisierten Massen und sind entsprechend besorgt: Von Hypnose ist die Rede, von Auslöschung der Individualität, von fehlgeleiteten Sexualtrieben und verkorkster Ichbildung. Mit Horkheimers und Adornos Thesen zur Kulturindustrie haben auch die harmlosen Mengen in den Kinos und Vergnügungsparks ihre Unschuld verloren: Im Kapitalismus folgt angeblich selbst das Freizeitvergnügen dem Takt der Fließbandfertigung, und das Gefühl, autonome Entscheidungen zu treffen, ob als Einzelner oder als Masse, ist eine Illusion.
Was Horkheimer und Adorno 1944 beschrieben, blühte nach dem Krieg auf. Konformismus wurde damals aber nicht als Fluch, sondern als Segen empfunden. Es bedeutete, sich dasselbe Auto, dasselbe Haus leisten zu können wie die anderen.
Für Thatcher gab es keine Gesellschaft
Der Massenkonsum lieferte paradoxerweise sogar die Basis für einen neuen Individualismus, der auf purer Kaufkraft beruht und historische Kollektivbewegungen vom New Deal bis zu den 68ern ausbremste. 1987 machte die britische Premierministerin Margaret Thatcher den Trend amtlich und legitimierte damit das neoliberale Wirtschaftsprinzip: "So etwas wie Gesellschaft gibt es nicht. Es gibt einzelne Männer und Frauen, und es gibt Familien. Keine Regierung kann etwas ausrichten außer durch Menschen, und die Menschen müssen sich zuerst um sich selbst kümmern."
Aus der Feier der Gemeinschaft wurden "Spektakel" für die vielen. So wie sich die Produktlandschaft entfaltete – zehn Regalmeter für Shampoo –, hat sich das Sortiment Freizeiterlebnis vergrößert. Das Publikum zerfällt in konkurrierende Lifestylegruppen: Wer abends selig auf einem Festgelände bei Metallica abrockt, muss sich am Morgen sagen lassen, dass das Acid-Trip-Hop-Dance- Ding im Club XY viel cooler war. Und damit das gemeine Volk den Besserverdienenden nicht auf die Füße tritt, wurden die VIP-Lounge, das Feinkostzelt und die Strandgebühr erfunden. Wäre ja noch schöner, wenn man mit den Versagern in den Billigklamotten anstehen würde, die sich den "Fast Pass" verkneifen müssen.
Die Rechten brauchen das Volk zur Akklamation
Die neurechten Bewegungen als "populistisch" zu bezeichnen, ist falsch. Die brauchen die Massen nur zur Akklamation, zur Unterstützung ihrer politischen Agenda. Es geht ihnen nicht um "das Volk", sondern um "ein Volk", dessen Mitglieder sich qua Abstammung, Sprache, Religion als zugehörig auszuweisen haben. Der faschistische Terror, mit dem wir seit dem Überfall von Anders Breivik auf ein sozialdemokratisches Jugendcamp in Norwegen ständig zu rechnen haben, ist die mörderische Zuspitzung dieser Haltung: eine gewalttätige Grenzziehung, ein Krieg gegen die anderen, die immer "zu viele" sind. Ein Krieg gegen Menschen, die sich an öffentlichen Orten, in Discos und auf Konzerten, in Synagogen und Moscheen, auf Märkten und Festen versammeln, um zu tanzen, zu beten oder zu arbeiten – um Momente kollektiver Freude zu erleben. In diesem Sinne ist tatsächlich jeder rechte Terrorist ein "Einzeltäter".
Aber ganz bändigen ließen sich die Massen nie. Sie verhalten sich auch unter Aufsicht eigenwillig, fließen um Absperrungen herum, lagern, wo sie nicht sollen, sickern in die Umgebung. Viele Menschen baden gerne in der Menge, und zwar in einer, die alle einschließt. Das zeigen Rituale wie das Crowdsurfing auf Konzerten, die Gesänge im Fußballstadion oder "Free Hugs"-Schilder auf Conventions oder Kirchentagen: Lass dich umarmen, hier, jetzt, umsonst.
Raus aus der Vereinzelung
Wie eine neue Politik der Massen aussehen könnte, hat im Herbst der demokratische US-Präsidentschaftskandidat Bernie Sanders formuliert: "Ich möchte, dass ihr euch alle umschaut. Findet jemanden, den ihr nicht kennt. Vielleicht jemanden, der anders aussieht als ihr, der eine andere Religion hat als ihr . . . Seid ihr bereit, für diese Person, die ihr nicht einmal kennt, zu kämpfen, wie ihr für euch selbst kämpfen würdet?" Die Wendung "Fight for someone you don’t know" ging sofort viral – als hätte die Netz-Crowd auf die programmatische Absage an die neoliberale Privatisierung von Lebensrisiken gewartet.
Es scheint, als würden wir langsam aus dem Stadium der Atomisierung heraustreten. Die Autoren Gunter Gebauer und Sven Rücker stellen in ihrem kürzlich erschienenen Buch "Vom Sog der Massen und der neuen Macht der Einzelnen" fest, dass das Individualismuskonzept ausgedient hat und das Selbstbewusstsein einzelner Massenbewegungen wächst. Für die Feministin Lynne Segal, die vor zwei Jahren eine Geschichte emanzipatorischer Projekte geschrieben hat, geht es hier nicht nur um die Anliegen spezieller Gruppen, sondern um mehr: Es ist ein Kampf um die Demokratie selbst.
Eine Welle geht um die Welt
Überall auf der Welt sind im vergangenen Jahrzehnt neue soziale Bewegungen entstanden, von Indien bis Chile, von "Pussies Against Patriarchy" bis "Fridays for Future". Aus allen Ecken erreichen uns Wimmelbilder: Leute strömen über Straßen und Plätze und erobern den öffentlichen Raum. Die meisten dieser Massen bilden sich spontan und organisieren sich jenseits etablierter Strukturen.
"Fridays for Future" hat im September sieben Millionen Menschen auf die Beine gebracht – eine Welle, die um die Welt ging. Die institutionalisierte Politik konnte nur staunend zusehen; Parteien und Gewerkschaften mussten sich hinten anstellen. Und wissen Sie was? Genau das mache ich jetzt auch.