Es gab eine Zeit, da haben sich Stefan Gröner und seine Ex-Frau nur noch Steine in den Weg gelegt. Wenn der Papa seinen Sohn Luca abholen wollte und zur vereinbarten Zeit vor der Tür stand, hatte der oft Besuch. "Luca spielte vergnügt mit dem Freund im Garten und mochte nicht mitkommen", so der 36-jährige Gröner. Wieso musste der andere Junge ausgerechnet jetzt da sein?
Aber der Vater will fair bleiben, auch er war alles andere als ein Teamplayer. Empfand die Whatsapp-Nachrichten der Kindsmutter während seiner Arbeitszeit als Belästigung, sperrte einmal sogar ihren Kontakt. Ja, da war Wut, aber auch: Enttäuschung, Schmerz. Ein diffuser Mix, der manchmal sogar vor Luca nicht haltmachte.
Bei der Trennung war Luca drei. Ein kleiner Rabauke, der dem Papa in die Arme flog, wenn der von der Arbeit kam. Fußball, Skaten, Bobfahren – Gröner war ein "Spaßpapa". Und wäre das auch gern geblieben. Doch nachdem er ausgezogen war, fing Luca an, sich bei den Übergaben an die Mama zu drücken. Es gab Tränen, Geschrei. Und verzweifelte Bestechungsversuche des Vaters. "Lass uns Scooter fahren gehen", "Soll ich Burger machen?" – alles, damit Luca gern mitkam.
2021, da war Luca acht, beschloss Gröner, sich Hilfe zu holen. Er ging in eine Beratungsstelle, konnte das zum ersten Mal aussprechen: "Ich habe Angst, mein Kind zu verlieren, aber meiner früheren Frau scheint das egal zu sein." Die Beraterin sagte, sie wolle auch die andere Seite hören. Nach zwei Einzelterminen gab es ein Gespräch zu dritt: "Sie sind zwar kein Paar mehr, aber immer noch Eltern."
Elisabeth Hussendörfer
Anna Aicher
Stefan Gröner sagt: "Theoretisch leuchtete mir das alles ein, aber schon ein bestimmter Klang in der Stimme meiner Ex-Frau hat mich manchmal so stark getriggert, dass nichts mehr ging." Er hätte wohl noch tausendmal in diese Beratungsstelle gehen können, "das hätte nichts geändert". Dann entdeckte er etwas ganz Neues: KiB, "Kinder im Blick".
Das Programm hat die Psychologin Sabine Walper vor gut 15 Jahren entwickelt, gemeinsam mit der Beratungsstelle Familien-Notruf München. Walper ist Direktorin des Deutschen Jugendinstituts (DJI). Sie beobachtete die strukturierten psychoedukativen Programme für getrennt lebende Eltern in den USA, die dort bereits in der Hälfte der Bundesstaaten eingesetzt wurden. Was brauchen die Kinder? Was kann der oder die Einzelne dazu beitragen, um den Kontakt positiv zu gestalten? Wie lassen sich Konflikte entschärfen? Das gab es seinerzeit in Deutschland noch nicht.
Das Neue an KiB: Eltern nehmen getrennt voneinander teil. Damit können auch Eltern einbezogen werden, die sehr im Konflikt verstrickt sind, ohne dass die Zusammenarbeit in der Gruppe leidet. Und es gibt sehr viele praktische Übungen, bei denen die Eltern mitunter in die Rolle des Kindes schlüpfen – oft eine ganz wichtige Erfahrung.
Schon im Jahr nach dem ersten Impuls von Walper hatte "Kinder im Blick" im Münchner Familien-Notruf Premiere. Mütter und Väter, die ihre Familien ganz unterschiedlich organisiert hatten, saßen in Stuhlkreisen zusammen. Aber eben: keine ehemaligen Paare. Dadurch kann leichter eine neue Gemeinschaft in der Gruppe entstehen. "Ich fühle mich hier geborgen", sagten sie. Oder: "Zum ersten Mal habe ich den Eindruck, ich werde verstanden." Und das, obwohl da Menschen waren, die in ihrem Alltag sehr konfliktbelastet waren und auf "feindlichen Positionen" zum anderen Elternteil standen, wie Walper sagt. Um sich sogleich zu korrigieren. "Nicht: obwohl, eher: weil."
Was hat das Kind vom Papa, was von der Mama?
Da ist zum Beispiel Miriam Brandl, die den Kurs vor zweieinhalb Jahren besucht hat. Und vor allem gegenüber einem Teilnehmer viel "inneren Widerstand" gespürt hat, weil er sie an den Ex erinnerte. "Das war auch so jemand, der immer wieder zu Gericht gegangen ist" – etwas, das ihr selbst total fremd sei. Anders als bei ihrem Ex-Mann nahm sie die Worte des Teilnehmers nicht persönlich. Sie lag ja nicht im Clinch mit ihm. "Dieser Mann hat mir geholfen zu sehen, wie sehr auch die diversen Kampfansagen bei uns daheim letztlich ein Verzweiflungsakt waren", sagt Miriam Brandl, die als Übersetzerin arbeitet.
Sie erinnert sich besonders an einen Kursabend, an dem sie gebannt aufs Flipchart starrte. Da war ein Kind abgebildet, die eine Seite grün, die andere rot, eine Trennlinie verlief genau in der Mitte. Die Eltern sollten sagen: Was hat das Kind vom Papa, was von der Mama? "Bei manchem bin ich mir unsicher", sagt Brandl. Mit der Kontaktfreude und der geistigen Wachsamkeit ihres Sohnes aber, das sei eindeutig: "Das hat er vom Papa." Nachdem sie sich das bewusstgemacht habe, sei manche Diskussion mit ihrem Ex-Mann weniger scharf verlaufen.
Stefan Gröner war zunächst skeptisch: sieben Wochen "Psychotalk" mit fremden Leuten? Das kannte er schon aus seinem Job als Leiter eines Supermarkts, wo er an Coachings und Schulungen "ohne jeden Tiefgang" teilgenommen hatte. Doch die Streitigkeiten mit seiner früheren Frau spitzten sich immer weiter zu, schließlich forderte das Gericht, beide Eltern müssten den Kurs besuchen. Früher kam der große Teil der Eltern auf eigene Faust, berichtet die Familien-Notruf-Leiterin Cornelia Ulrich. Heute wird oft die Hälfte einer Gruppe vom Gericht "geschickt".
Um Stefan Gröners Konflikt zu verstehen, muss man wissen, dass er drei Jahre nach der Trennung den Job wechselte. Als Marktleiter hatte er Schicht gearbeitet, konnte seinen Sohn oft nachmittags vom Kindergarten und später von der Schule holen. "Meine Ex und ich sprachen uns in der Betreuung ab, es lief auf fifty-fifty raus." Seit einer Umschulung – "Rückenprobleme"– arbeitet Gröner als Lkw-Fahrer in einem Kieswerk. Und hat selten vor 17 Uhr Feierabend. Er sagt, er hätte es gern anders gehabt, "aber Job ist Job".
Per Gerichtsbeschluss ist Luca jetzt nur noch einmal in der Woche und an jedem zweiten Wochenende beim Vater, das hat Entspannung gebracht. Aber die eigentliche Entspannung, sagt der Vater, sei danach gekommen. "Mit KiB."
Stefan Gröner glaubt, dass es vor allem die vielen "widersprüchlichen Botschaften" waren, die immer wieder zur Eskalation geführt haben. Ein Kind lieben und ihm sagen: "Wenn die Mama doch alles so toll macht, wieso bleibst du dann nicht bei ihr?" – das geht gar nicht. Kinderfrei haben wollen und dann zum Abschied Bullerbü inszenieren, das geht genauso wenig.
"Wir loben ganz viel", erklärt KiB-Kursleiterin Elisabeth Pohl. Jeder noch so kleine Schritt, der schon umgesetzt wurde, ja, jeder Versuch wird gewürdigt. Wertschätzung, damit fängt es an, darauf baut bei KiB alles auf. "Andauernd wird Trennungseltern gesagt, was sie alles falsch machen", sagt Pohl, die den Kurs mit einem Kollegen moderiert. Vom Jugendamt über die Schule bis hin zum Gericht: Immerzu heiße es, hier müsse was passieren und da und überhaupt – das Kind ist so auffällig.
Bei KiB läuft es anders. Wohlwollender. Weitsichtiger. "Sie sind nicht hier, weil Sie es nötig haben. Sie sind hier, weil Sie es verdient haben", betont die Sozialpädagogin. Und dass der Blickwechsel – erst sich selbst und dann im nächsten Schritt das Kind betreffend – sich lohnt. Aber es ist ein Auf und Ab, wie die vierte Einheit des Kurses zeigt, den Stefan Gröner gemacht hat. Online. Denn auch das ist möglich.
Teilnehmer S. rutscht sichtlich angespannt auf dem Stuhl hin und her. Jetzt kann er nicht mehr an sich halten, nennt die "Hausaufgabe" ein Problem. Man sollte Lobe-Momente sammeln – aber da habe er als Vater doch eindeutig das Nachsehen. Die Mutter sehe das Kind viel häufiger, wie solle er mit seinen wenigen Kontaktzeiten bitte schön "Lobe-Momente" sammeln? Ein heikler Moment, weiß die Kursleiterin. "Ja, das verstehe ich, das ist bestimmt schwer für Sie", sagt sie. Unterschiedliche Betreuungszeiten sind oft ein Stück unverrückbare Realität, daran kann auch sie nicht rütteln.
Wer hat Lust, zum Abschluss vom vierten Kursabend ein Kind zu spielen? Eine Frau, K., hebt die Hand. Und wer spielt die Mutter? Die "macht" Katrin Rupp. Die beiden werden in Einzelbesprechungen gebeten, von denen die anderen nichts mitbekommen.
"Ich hatte Angst, eine ungute Reaktion der Mutter zu provozieren"
Als K. zur Gruppe zurückkehrt, um die fünfjährige "Pia" zu spielen, fällt ihre geduckte Körperhaltung auf. Niemand außer ihr weiß, was los ist, auch "Mama" Katrin Rupp nicht. Pia hat heute Geburtstag, nur so viel hat Letztere erfahren. Und dass die Kleine nicht aus ihrem Zimmer will. Dabei stehen gleich die Gäste vor der Tür.
K. hingegen ist umfassend gebrieft worden: Pias Papa hatte versprochen, beim Schmücken der Wohnung zu helfen. Girlanden an die Tür, Lampions an die Decke. Aber der Papa ist immer noch nicht da. Und Pia, das ist klar zu sehen, ist im Konflikt. Sich die Enttäuschung anmerken lassen? Man sieht es ihr förmlich an: Sie hält was zurück. "Ich hatte Angst, eine ungute Reaktion der Mutter zu provozieren", wird sie später sagen.
Katrin Rupp aber macht alles richtig. "Darf ich mich zu dir setzen?", fragt sie. "Magst du mir sagen, wieso du so geknickt bist?" Kein "Stell dich nicht so an" oder "Das mit dem Schmücken kriegen wir auch ohne den Papa hin". Sondern: "Hast du eine Idee, was wir tun können, Pia?" "Den Papa anrufen!", juchzt K., die in diesem Moment tatsächlich durch und durch Kind zu sein scheint. Und es klingt wie: Wow! Ich selbst kann, darf das lösen.
Wie blicken die Eltern einige Zeit nach dem Kurs auf die Abende zurück? Fast alle sagen, es habe ihnen geholfen, dass sie mal das Kind, mal den Vater, mal die Mutter spielen durften. Und dass sie sahen, wie schwer es andere Familien haben. Miriam Brandl sieht auch nach über zwei Jahren manchmal das "rot-grüne Kind" aufblitzen, wenn es bei einer Begegnung mit ihrem Ex-Mann mal wieder "hakelig" wird. Insbesondere die Trennlinie hat dabei was Alarmierendes: Kinder, an denen gezogen und gezerrt wird, drohen zu zerreißen.
Kursmomente, bei denen Tränen fließen sind "Gamechanger"
Bei Katrin Rupp wirkt ein Vierteljahr nach Kursende noch immer eine geführte Fantasiereise nach. Sie hatten die Augen geschlossen, sollten sich entspannen. Dann beamten sie sich gedanklich in die Zukunft, an einen "schönen Ort". Die Eltern sollten überlegen, wofür ihr Kind dankbar sein wird, wenn es sich rückblickend an die Kindheit und auch an die Trennungszeit erinnert. Katrin Rupp saß auf einer Bank auf einer blühenden Wiese im Allgäu, ihr vierjähriger Sohn kam als gestandener Mann auf sie zu. Und sagte Sachen wie: "Es war schmerzhaft, als ihr euch damals getrennt habt. Aber ich habe gemerkt, dass ihr euch Mühe gegeben habt."
Katrin Rupp nennt diesen Kursmoment, bei dem viele Tränen geflossen sind, einen "Gamechanger". Bis heute ruft sie das Allgäubild mit schöner Regelmäßigkeit ab. Beim letzten Kita-Sommerfest etwa, zu dem ihr geschiedener Mann nicht kam, dabei hätte sie sich eine Teilnahme beider Elternteile gewünscht. Trennungskinder brauchen weiter so viel Mama und Papa wie möglich, so sieht sie das.
Stefan Gröner, der wie seine frühere Frau wieder geheiratet hat, weiß nicht, wie bei ihr der Stand ist, ob sie den Kurs auch schon gemacht hat. Aber er merkt, dass sich etwas verändert hat. Wieder ist es die Situation: Vater holt Kind an der Haustür ab. Aber diesmal läuft es anders. "Das ist aber nicht schön, wenn der Papa denkt, du magst ihn nicht", sagt seine Ex-Frau, und er denkt, er hört nicht richtig.
Inzwischen verabschiedet Luca sich ohne Tränen und er muss auch nicht mehr mit Burgern bestochen werden. Wenn der inzwischen Neunjährige im Freizeitpark sagt: "Hier würde ich gern auch mal mit der Mama hin", nimmt Gröner das auf und gibt es bei Gelegenheit an die Mutter weiter. "Der Luca würde auch mal gern mit dir in diesen Park." An sich nichts Besonderes. Und doch etwas, was noch bis vor kurzem völlig undenkbar gewesen wäre.
So funktioniert's
"Kinder im Blick" ist ein Kurs für getrennt lebende Eltern. Der Kurs wird seit 2021 auch online an- geboten. Beratungsstellen, die den Kurs anbieten, sind nach Postleitzahlen sortiert auf www.kinder-im-blick.de/fuer-eltern/beratungsstellen zu finden. Vor einer verbindlichen Zusage gibt es ein telefonisches Kennenlerngespräch. Eine Voraussetzung für die Kursteilnahme ist, dass eines der Kinder mindestens 3,5 Jahre alt ist. Ein Großteil der Rollenspiele eignet sich nicht für Eltern jüngerer Kinder. Mehr als 1500 Fachkräfte haben sich nach Eigenauskunft seit 2006 zu Kursleiter*innen qualifiziert. Über 300 Beratungsstellen bieten KiB mittlerweile bundesweit an. Auch in der Schweiz laufen KiB-Kurse. Dauer und Kosten der Kurse unterscheiden sich – je nach Beratungsstelle.