Als Sandra A.* mit Tobias schwanger wurde, war sie 40, und es gab viele Gründe, das Kind nicht zu bekommen. Die Beziehung zum Vater war so gut wie zerbrochen. Er trank, war drogenabhängig, dealte und beging andere kleinkriminelle Delikte. Sandra verdiente kaum Geld, nahm Psychopharmaka gegen ihre Depressionen und Traumata, hatte kein eigenes Zuhause, keine unterstützende Familie und selbst eine Drogenvergangenheit. Es war eine Schwangerschaft, so unpassend in jeder Hinsicht, dass man entweder wahnsinnig oder wahnsinnig mutig sein muss, um sie nicht so schnell wie möglich zu beenden.
Sandra A. entschied sich, das Kind zu bekommen. "Es war meine Chance, meine Schuld wiedergutzumachen", sagt sie. Eine Schuld, die sie glaubt, gegenüber Alim und Lars, ihren anderen Söhnen, auf sich geladen zu haben. Sie gab diese fort, als die Probleme mit ihnen ihr über den Kopf wuchsen und sie überzeugt war, ihnen nicht gutzutun. "Ich dachte, bei anderen sind sie aufgehoben und haben mehr Chancen auf ein besseres Leben als mit mir."
Alim kam mit neun Jahren in eine therapeutische Einrichtung, Lars mit einem Jahr zum Vater. Vorübergehend, wie sie damals dachte. Nur so lange, bis ihr Leben gefestigt wäre. Bis sie die gute Mutter sein könnte, die sie sein wollte. Der Tag kam nie, dafür kam Tobias an einem sonnigen Maitag als personifizierte Sehnsucht nach Wiedergutmachung in ihr Leben.
Sandra und Tobias wohnen in einer Kleinstadt in Ostholstein. Ein Mietshaus, vorne, hinten, auf der anderen Straßenseite identische Häuser, die gleichen Fassaden und Eingänge. Darin je sechs Wohnungen für Menschen mit Wohnungsberechtigungsschein. Kinderwagen in Treppenhäusern, die Namen auf den Klingelschildern ein Rundgang durch die Kriegsgebiete dieser Welt. Neben Sandra wohnt eine Familie aus Syrien, über ihr eine aus Afghanistan, und dass sie, Sandra, mit ihnen Rezepte und Alltagssorgen teilt und nun ein paar Wörter auf Arabisch und ein paar auf Farsi kann, empfindet sie als Exotik in ihrem Leben.
Sandras Entschuldigungen klingen, als säße in ihr ein Richter
Mehr noch aber ist es ihr Bestätigung, einen langen inneren Weg gegangen zu sein, sich von dem, was man ihr als Kind beibrachte, distanziert zu haben. "Ich bin ein anderer Mensch als derjenige, zu dem man mich erzogen hat", sagt Sandra. Denn dort, wo sie aufwuchs, in einem Dorf in Mecklenburg-Vorpommern, seien alle Bewohner, auch ihre Eltern, politisch rechts gewesen, hätten Ausländer als Dreck angesehen, Deutschland den Deutschen gewollt.
Sandras Wohnung ist klein, Küche, Bad, Wohnzimmer, zwei Schlafzimmer, zu klein für all die Dinge, die Sandra besitzt und gern sammelt. Bücher und Buddhas, bestickte Kissen, nichts von großem Wert. Dazwischen, daneben Stapel mit Wäsche und Kartons mit bunten Sammelsurien. Als Tobias krabbelt und beschäftigt werden will, klagt Sandra, mit dem Haushalt nicht mehr hinterherzukommen.
Immer entschuldigt sie sich für alles: für die Wäsche auf dem Bügelbrett, das Spielzeugchaos, dafür, den Tag in ihrer Jogginghose zu verbringen, oder manchmal auch dafür, ein Treffen abzusagen. "Sei mir nicht böse", sagt sie dann. Sandras viele Entschuldigungen klingen, als säße in ihr ein Richter. Einer, der alles mit der Bemerkung kommentiert, das zeige ja, dass sie es nicht schaffe. Nicht schaffe, Ordnung zu halten, Kind und Haushalt gerecht zu werden, eine klaglose Mutter zu sein.
Wenn Sandra von sich und ihrem Leben erzählt, ist das eine Geschichte von Misshandlungen, Gewalt, Depressionen und so vielen tiefen Fällen, dass es einen wundert, wie sie es jedes Mal schaffte, wieder aufzustehen. Eine Kindheit mit einem alkoholabhängigen Vater und einer suizidalen Mutter, die sie einmal im Flur an einem Strick baumelnd, aber noch lebend, fand. Eine Mutter, die prügelte und dabei, sagt Sandra, Freude in den Augen hatte. Ein Vater, der nachts zu ihr oder ihrer kleinen Schwester ins Bett kroch und den Mädchen zwischen die Beine griff. Abgebrochene Ausbildungen, falsche Freunde. Als sie 18 ist, wirft der Vater sie aus dem Haus. Sie geht nach Berlin, lebt auf der Straße, prostituiert sich, hat ihre erste von vielen Beziehungen zu einem drogenabhängigen Mann, der sie mit hineinzieht in die Abhängigkeit.
Nach einer Vorsorgeuntersuchung während der Schwangerschaft mit Tobias hatte ihr die Frauenärztin eine Broschüre des Kinderschutzbundes in die Hand gedrückt: Frühe Hilfen, so der Titel. Darin stand, sie könne auf ihre Probleme zugeschnittene Unterstützung bekommen. Eine Hebamme, die sie und das Kind bis zum ersten Lebensjahr betreue und ihr bei allen Problemen zur Seite stehe. Hilfe bei der Bewältigung des Alltags. Ein Begegnungsnetzwerk mit anderen Müttern, Betreuung für das Baby. "Ich hab da gleich angerufen", sagt Sandra. "Ich hatte solche Angst, es auch mit dem dritten Kind nicht hinzubekommen."
Geschichten wie die von Sandra erlegen einer Gesellschaft, die sich als zivilisiert bezeichnet, die Verpflichtung auf, einzugreifen, Hilfen anzubieten oder zu regulieren, so lange, bis ein gewisses Maß an Normativität wieder hergestellt ist. Sandra lernte als Kind nicht, was die Grundpfeiler eines gelingenden Lebens sind, und brauchte als Erwachsene viele Jahre, um zu verstehen, wo die Normen der Gesellschaft liegen. "Ich wusste doch nicht, wie man es richtig macht", sagt sie oft, wenn sie versucht, die Fehler und Irrwege ihres Lebens zu erklären. "Ich wusste doch nicht, wie Mutter- liebe geht. Das hat mir nie jemand gezeigt."
Bis heute stehen Kinderrechte nicht im Grundgesetz
Sie ist gerade 19, da wird sie zum ersten Mal schwanger. "Er wollte, dass ich abtreibe, aber das kam für mich nicht infrage. Ich konnte doch einer Seele nicht das Leben verwehren." Heute sagt sie: "Könnte ich die Zeit zurückdrehen, ich würde mich für eine Abtreibung entscheiden." Ihrem Sohn, der 1998 geboren wird, gibt sie einen für sie nach "Tausendundeiner Nacht" klingenden Namen: Alim, der Weise.
Das "Früh" in Frühe Hilfen steht für zwei zeitliche Bezüge. Der eine gilt dem Alter der Kinder, die man mit koordinierten Angeboten schützen will. Eltern erhalten diese ab der Schwangerschaft, bis das Kind drei Jahre alt ist. Der andere stammt aus der Erkenntnis, dass der Kinderschutz, wie er jahrzehntelang praktiziert wurde, in manchen Fällen zu spät kam. Diese Fälle haben Namen: Kevin, zwei Jahre, Yagmur, drei Jahre, Jessica, sieben Jahre. Immer, wenn die Tötung eines Kindes durch die Eltern wieder die Öffentlichkeit aufschreckt, wenn Untersuchungen zeigen, dass bestehende Netze aus Jugendhilfe, sozialen Diensten und Erziehungshilfen nicht ausreichen, um Kinder zu schützen, wird viel Geld investiert und "Nie wieder!" gerufen. Doch bis heute stehen Kinderrechte nicht im Grundgesetz und Kinderschutzverbände kritisieren, die Politik erfülle in diesem Punkt nicht die Ansprüche der UN-Kinderrechtskonvention.
Als Sandra Tobias zur Welt bringt, tut sie das allein, aber mit dem Wissen, in den nächsten zwölf Monaten Hilfe zu bekommen. Ihr Wille, diesmal alles anders zu machen, ist unumstößlich. Doch reicht ein Wille, wenn die wirtschaftlichen und emotionalen Grundlagen nicht da sind, wenn es nur die Tatsache des neuen Lebens und den Wunsch nach einem erfüllten Mutterdasein gibt?
Ihre Versuche, ihr Leben zu ordnen, scheitern
Auch Alim hat Sandra allein geboren. Der Vater, untauglich als solcher, war nicht an ihrer Seite. Bald danach geht sie zurück in ihre Heimat, also Mecklenburg-Vorpommern, macht eine Ausbildung zur Verkäuferin. 2003 wird sie erneut schwanger. Diesmal will sie das Kind abtreiben. "Ich hatte mit Alim genug zu tun und wollte mein Leben auf die Reihe bekommen." Doch der Vater und seine Freunde machen ihr die Hölle heiß. Sandra, die von sich sagt, sie sei leicht manipulierbar, lässt sich überreden, das Kind auszutragen.
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Frühe Hilfen
Die Angebote zur Frühen Hilfe werden von lokalen Kinderschutzorganisationen umgesetzt – in Zusammenarbeit mit dem Jugendamt, Kindergärtner:innen, Ärzt:innen und anderen, die "Kontakt zu psychosozial belasteten Menschen und ihren Familien haben", so heißt es in den Leitsätzen der Dachorganisation Nationales Zentrum für Frühe Hilfen. Um Familien zu erreichen, sollen die Angebote niedrigschwellig sein.
Theoretisch stehen sie allen Familien zur Verfügung, doch zeigen Auswertungen, dass nur die primären Angebote – Schwangerschaftsberatung, Gesundheitsvorsorge, Frühförderung – von allen Gesellschaftsschichten angenommen werden. Weitere vernetzte Hilfe wird gewährt bei belastenden Faktoren wie geringer Bildung, missbräuchlichen oder gewalttätigen Kindheitserfahrungen, Depressionen oder anderen psychischen Erkrankungen der Eltern.
Es gibt keine Auswertungen über die Wirksamkeit der Frühen Hilfen. Kritiker:innen bemängeln, die weiterführenden Angebote richteten sich zum prozentual überwiegenden Teil an Sozialhilfeempfänger:innen und Migrant:innen, nicht aber an Familien anderer Gesellschaftsschichten. Sie sehen darin eine Diskriminierung, weil angenommen werde, Gewalt fände nur am unteren Ende der Gesellschaftsskala statt.
Mutterliebe
Liebe Sandra,
ich wünsche Ihnen Mut, Kraft, Stärke, Selbstliebe und Mutterliebe
und habe Respekt vor Ihnen, vor dem Weg, den Sie bisher gegangen sind und vor dem, der noch vor Ihnen liegt.
Ihr innerer Kompass wird Ihnen helfen, das Richtige zu tun, notwendige Entscheidungen zu treffen und sich die Hilfe zu holen, die Sie brauchen, um den Alltag und das Leben mit Kind zu meistern.
Ich wünsche Ihnen & Tobias alles erdenklich Gute, das Sie so verdienen!
Herzlich, Sandra T.