Claudia Koepke und ihre Töchter Sara, Annika und Sohn Luca
Pedro Citoler
Stark wie Tiger
Luca leidet an einem Gendefekt. Er kann sich kaum bewegen, hat epileptische Krämpfe. Seine Mutter pflegt ihn. Und Claudia Koepke hat noch drei Töchter. Was man alles schaffen kann, wenn alle helfen!
26.04.2017

Auf dem Messgerät am Gitterbettchen wellt sich eine Linie zu unregelmäßigen Kurven, Lucas Herzschlag. Zwei Werte leuchten grün. Einer ist der Puls, der andere die Sauerstoffsättigung. Wenn sie unter die kritische Grenze fällt, wird die Zahl rot, das Gerät piepst in drei Tonlagen, die Pflegerin springt auf und Claudia Koepke rennt ins Zimmer. Das passiert fast täglich. Aber gerade liegt die Sättigung bei über 90 Prozent. Alles gut. Luca schläft zwischen Wolldecken und Stofftieren. Er röchelt ein bisschen. Er hat Party gemacht, in der Nacht. So nennen es Claudia Koepke und die Pflegerinnen, wenn er in den Nächten von Anfällen und Krämpfen geplagt wird und alle in Atem hält.

In seinem Zimmer sind ein Kuschelsessel, ein Rollstuhl, hinter einer Kommode verbirgt sich ein Gästebett. Über Lucas Bett glimmt in den Händen eines Engels ein Lämpchen. Im Hängeregal stehen die Pumpe, die Flüssignahrung in Lucas Magensonde transportiert, Geräte, die überflüssiges Sekret aus seinen Atemwegen absaugen, ein Inhalator, ein Defibrillator.

Als Luca auf die Welt kam, war gleich klar, dass etwas nicht stimmte. Seine Gehirnwindungen sind nicht ausgeprägt.

Luca kann nicht: selbst essen, reden, greifen; auf dem rechten Auge ist er blind, laufen können wird er nie. Mehrmals täglich quälen ihn epileptische Anfälle.

Er kann: seinen Kopf alleine halten und ihn drehen, seine Ärmchen heben, strampeln, er hört sehr gut, er fiept, er lacht.

Lucas Diagnose: Mosaiktrisomie 20

Er hat teilweise das Chromosom 20 einmal zu viel, ein Gendefekt. Mosaiktrisomie heißt seine Behinderung. Eine Laune der Natur. Vier Jahre und elf Monate ist er alt. Das muss so genau gesagt werden, denn jeder Tag ist ein Triumph. Maximal ein Jahr prophezeiten ihm die Ärzte am Anfang, dann vielleicht drei, fünf. Erwachsen werde er nie, sagen sie.

„Dieser Mutter gebe ich ein behindertes Kind“, sagt Gott.

„Warum gerade ihr, oh Herr?“, fragt der Engel. „Sie ist doch so glücklich!“

„Eben!“, sagt Gott lächelnd. „Kann ich denn einem behinderten Kind eine Mutter geben, die das Lachen nicht kennt?“

(aus „Die Spezialmutter“ von Erma Bombeck)

 

Von der Behinderung wusste Claudia Koepke vor der Geburt nichts. „Das ist gut“, sagt sie. „Ich weiß nicht, was ich getan hätte.“

Sie will darauf keine Antwort, weil schon die Frage so viel Kraft kostet. Und die braucht sie für andere Entscheidungen: zum Beispiel, ob Luca im Ernstfall lebensverlängernde Maßnahmen bekommen soll. Eine Sicherheit hat Claudia Koepke sich errungen: Solange Luca leben will, hilft sie ihm. Solange will sie ihm Liebe geben. Solange darf der Kleine, der da gerade schläft, ihr Leben takten – und das ihrer Töchter. Die müssen mitziehen. Sie leben gemeinsam den Ausnahmezustand. Auf unbestimmte Zeit.

Claudia Koepke sitzt am Esstisch bei einer Tasse Kaffee, den dunkelblonden Wuschelkopf über Papierkram gebeugt, eine offene Tür entfernt von Luca. Sie wohnt mit Luca und den Töchtern Annika und Sara in einem Vorort von Ulm in einem grauen Plattenbau, dessen Eingangsstufe schwankt. In der Wohnung hat jedes Kind ein eigenes kleines Zimmer, die Mutter nicht. Ihre älteste Tochter lebt in einer eigenen Wohnung. Sie hat selbst schon eine kleine Tochter. Claudia Koepke hütet ihre Enkelin oft gemeinsam mit Luca.

Claudia Koepke hat vier Kinder geboren, drei Mädchen, einen Jungen. Die Augen versteckt sie hinter einem Blinzeln, ihre Gedanken hinter einem Lächeln. Sie schminkt sich nicht. Keine Zeit. Für wen auch. Jetzt, sagt sie, könne sie ohnehin keinen Mann brauchen.

Es ist elf Uhr. Die „Mukki“ klingelt. So heißen die Pflegerinnen von der Mobilen Ulmer Kinder Kranken- und Intensivpflege. Mutig stürzen ihr zwei knöchelhohe Chihuahuas entgegen. Koepke hat sie nach Lucas Geburt für die Töchter angeschafft. Die bunten Fische und die hauchfeinen Zwerggarnelen in den Aquarien im Essraum und im Wohnzimmer sind für sie selbst. „Es beruhigt, sie anzuschauen“, sagt sie. „Die Garnelen sind interessanter. Fische schwimmen nur rum.“

Mama gibt sich Mühe

Montag bis Freitag ist die „Mukki“ acht Stunden da, samstags sechs, fünf Mal die Woche auch nachts. Das ist die maximale Betreuungszeit. Claudia Koepke kann derweil Haushalt und Geschwister versorgen – und sich erholen. Letzteres tut sie meistens nicht. Nachts recherchiert sie, was Luca unterstützen könnte. Tagsüber kümmert sie sich um ihre Enkelin, ihre Mutter, ihre Nachbarn. Heute geht sie Blutspenden. „Jemand muss das ja machen“, sagt sie. „Man muss doch helfen.“

Tochter Sara, 14, will mit. In ihrem Zimmer zeigt ein großes Poster Luca im Kinderwagen und sie daneben. Sie hilft dabei, Luca zu pflegen, abends liest sie ihm Märchen vor. Später will sie Kinderkrankenschwester werden. Sie hat drei Accounts auf Instagram. In ihrem Zimmer übt sie Spagat. Sie fordert nicht, sie fragt. Sie wird nie aufmüpfig, sie mahnt. „Mama gibt sich Mühe“, sagt sie, während sie im Wartezimmer ausharrt.

Eine halbe Stunde lang muss Claudia Koepke beim Roten Kreuz auf einer Liege stillhalten. Es ist ihre Zeit. Tropfen um Tropfen Blut rinnt durch durchsichtige Schlingen in eine wuchtige Maschine. Sie liest einen Liebesroman, wird müde, schaut, döst. Danach kaut sie in der Kantine eine belegte Laugenstange. Bevor die nicht gegessen ist, darf sie nicht gehen. „Zeit zu lesen habe ich sonst nie“, sagt sie. „Du nimmst sie dir nicht“, korrigiert Sara.

Plötzlich im Pflegekurs: Beatmen, Transfusionen legen, Reanimation

Claudia Koepke hat versprochen, Annika von der Schule abzuholen. Vorher schaut sie zu Hause bei Luca vorbei. Ganz kurz. Ob alles in Ordnung ist. Die Pflegerin ist neu. Koepke kommt ins Zimmer, da krampft Luca gerade und ringt nach Luft. Neben dem Bett die Pflegerin, unsicher, das Absaugegerät in der Hand. Claudia Koepke nimmt es ihr weg, rammt den dünnen Schlauch in Lucas Nase und saugt damit den Schleim ab. „Panik darf ich nicht haben“, sagt sie. „Luca merkt das. Dann krampft er noch mehr.“ Sie kennt die Panik von früher. Als aus einer Entbindung mit Kaiserschnitt ein siebenwöchiger Aufenthalt im Krankenhaus wurde. Als sie sich plötzlich in einem Pflegekurs wiederfand: Beatmen, Transfusionen und Sonden legen, Schleim absaugen, epileptische Anfälle, Reanimation. Sie hatte Angst, es falsch zu machen, es nicht zu schaffen, es nicht auszuhalten. Die Frage quälte sie: warum ich? Warum nur ich?

Da hat ihr eine Freundin das Gedicht von Erma Bombeck geschickt. Es handelt von einem Gespräch zwischen Gott und einem Engel. „Warum, Gott, ausgerechnet sie?“ – „Weil sie so wunderbar stark ist, Liebe und Glück geben kann. Weil das Kind ein Geschenk ist", fasst Claudia Koepke das Gedicht zusammen.

Der Text wird geliebt oder gehasst. Claudia Koepke hält sich daran hoch. Sie will Luca als Geschenk sehen und sie will zeigen, dass sie wirklich eines behinderten Kindes würdig ist. Wenn sie das erzählt, weint sie.

 

„Aber hat sie die nötige Geduld?“

„Sie hat den Sinn für Unabhängigkeit, der bei Müttern so selten und so notwendig ist.“

 

Luca hat keine Pläne durchkreuzt, weil Koepke keine Pläne hatte. „Ich habe immer geschaut, was kommt“, sagt sie. Von Jugend an war das so, als sie ihren ersten Mann kennenlernte und mit 18 heiratete. Vielleicht ist es noch etwas mehr so geworden, als sie ihn nur ein Jahr später bei einem Autounfall wieder verlor.

Zu wissen, dass Lucas Leben wohl bald zu Ende sein wird, das kann Claudia Koepke mittlerweile gewissermaßen akzeptieren. Aber nicht zu wissen, wann genau es sein wird, das beunruhigt so sehr. Jede Minute mit Luca saugt sie auf. Seit seiner Geburt fotografiert sie viel: die Kinder am Strand, Luca im Rollstuhl, im Bettchen, mit Verwandten, den Geschwistern, mit ihr, im Zoo. Die Erinnerungen sammelt sie in aufwendig gestalteten Fotobüchern. Überall in der Wohnung hängen gerahmte Abzüge.

Tochter Annika: Energie für die ganze Familie

Sie kommen zu spät zu Annika. Annika kommt aus dem Hort, trotzdem gut gelaunt, springt ins Auto. Die Neunjährige ist blond gelockt und kräftig. Ihre Stimme füllt den Wagen aus. Manchmal, wenn es Luca schlecht geht, kommt Claudia Koepke tagelang kaum von seinem Bett weg. Wenn die Krise vorüber ist, steht sie in der Zimmertür und sieht, dass Annika die ganze Wohnung verwüstet hat. Für Annika hat Koepke das Jugendamt um Hilfe gebeten. Sie hat die Diagnose ADHS. Wegen ihrer Wutanfälle wäre sie fast von der Schule geflogen. Jetzt ist sie beim Psychologen, hat eine Betreuungslehrerin und eine Ehrenamtlerin vom Hospizdienst, die sie jeden Donnerstag abholt und mit ihr zum Antiaggressionstraining fährt, Steffi.

„Annika ist ein Wirbelwind“, sagt Steffi. „Sie braucht jemanden mit Humor.“

„Erst ist sie gut drauf, dann explodiert sie plötzlich“, sagt Claudia Koepke.

„Leben und Tod liegen in der Familie so nah beieinander – mit den Verlustängsten muss Annika umgehen“, sagt ihre Betreuungslehrerin. „Annika hat eine harte Schale und einen weichen Kern.“

Annika schiebt im Supermarkt den randvollen Einkaufswagen allein, sie trägt Luca. Sie hat Energie für die ganze Familie. In ihrem Zimmer hängt ein großes Gorillabild.

Zum Supermarkt wollen sie jetzt, die Mutter und die Töchter gemeinsam. Darüber, in welchem sie einkaufen wollen, stimmen sie ab wie über ein Ausflugziel. Sie haben drei Stunden, bis die Pflegezeit endet.

„Vorher fahre ich ganz kurz zu Luca“, sagt die Mutter.

„Wie oft denn noch?“, fragt Sara. „Du verschwendest unsere Zeit!“

Zeitgleich Annika: „Nein! Sonst ist es zu spät!“

Wie das ist mit Luca? „Oh Mann, Luca kann sich nicht bewegen. Mit dem kann man nichts machen“, schreit sie.

Koepke versucht alles, um die Mädchen zu entschädigen. Sie bemüht sich, Weihnachtswünsche zu erfüllen, Zeit freizumachen, sie plant Ausflüge. Zweimal im Jahr fahren sie weg. Einmal ins Allgäu, einmal an die Ostsee. Die Luft hilft Lucas Atmung, der Ortswechsel tut allen gut. Regulär arbeiten kann Koepke wegen Lucas häufiger Krisen nicht. Aber stundenweise putzt sie im Haus von befreundeten Ärzten. Aus Prinzip.

„Luca ist ein Schlitzohr“

Um sie herum spannt sich ein dichtes Netz aus Hilfsdiensten. Teils sind sie ehrenamtlich, spendenfinanziert oder von der Krankenkasse getragen: Die Mukkis, allen voran deren Chefin Barbara Rittmeyer, der Kindergarten für Behinderte, zu dem sie Luca dreimal pro Woche bringt, wenn es ihm gut geht. Das Team aus Palliativmedizinern, das es erst seit Kurzem gibt, Luca aber schon einige Krankenhausaufenthalte erspart hat. Der Hospizdienst, das Jugendamt. Es funktioniert. Nur stolz sein darf eine Alleinerziehende nicht. Sie muss Hilfe annehmen. Sie muss beantragen, bitten, Fremde in ihr Haus, in ihr Privatleben lassen. Als eine Zeitung sie für die Weihnachtsspendenaktion fotografierte, wollte sie das zuerst nicht. Dass dann alle wussten, dass sie zu den Bedürftigen gehöre.

 

„Verstehst du, das Kind wird in seiner eigenen Welt leben. Und sie muss es dazu bringen, in der ihren zu leben. Das wird nicht leicht werden.

 

Am nächsten Morgen zieht Thymianduft durch die Wohnung. Luca badet. Thymian ist Lucas liebstes Badewasser. Er liegt in der Wanne auf einem Gitter, das ihn stabilisiert, und lächelt, die Augen halb geschlossen. Koepkes Gesicht ist aschfahl. Sie hat Luca diese Nacht allein betreut. Er hat wieder Party gemacht.

Aber sie lächelt. Das Handy klingelt, sie ignoriert es. „Luca zeigt mir bedingungslose Liebe, die habe ich durch ihn gelernt“, sagt Koepke. „Ich muss Geduld haben, im Jetzt leben und ruhig sein. Sonst hat er auch Angst.“ Sie schäumt ihm das Haar, putzt die Zähne, spielt mit Luca. „Wie groß ist der Luca?“, sagt sie – und streckt ihm spielerisch den Arm über den Kopf. So dehnt sie seinen von den Krämpfen verspannten Körper. Luca lächelt.

Jede Woche kommt eine Krankengymnastin, die Lucas Muskulatur stimuliert. Das ist schmerzhaft. Luca raunzt und jammert. Eine Zeit lang stellte er sich schlafend, wenn die Krankengymnastin kam. Die ließ die Stunde dann oft ausfallen, damit er sich erholen könne. Er flog auf, weil sie nur kurz aus dem Zimmer gegangen war und er die Augen sofort wieder öffnete und hell grinste. „Er ist ein Schlitzohr“, sagt Koepke.

Monsterpullis gegen Bazillen

Frisch gewaschen kringelt sich Lucas blondes Haar. Er ist aufmerksam, bester Laune, seine vollen Wimpern bewegen sich. Koepke wickelt ihn in einen Tigerüberwurf. „Du kleiner Tiger“, scherzt sie, dann zieht sie ihm seinen Monsterpulli an. Luca besitzt viel Kleidung, die mit Monstern bedruckt ist. Die Monster, stellen sich die Erwachsenen vor, verschrecken die Bazillen, die Luca so schnell in Lebensgefahr bringen.

Heute hat Barbara Rittmeyer Dienst. Die Chefin der Mukkis. Sie kennt Luca fast von Anfang an, fährt in die Urlaube mit und findet Sara perfekt als Kinderkrankenschwester geeignet. Sie teilt mit dem Mädchen ihr Pflegewissen, wann immer sie kann.

„Ja, könnet Sie noch aufrecht stände“, sagt Rittmeyer, als Koepke ihr von der Nacht berichtet. „Also Luca tut mir ja leid. Aber Sie tun mir vor allem leid.“ Nun, jetzt sei sie da, da könne sich Frau Koepke doch hinlegen? Drei Körbe Wäsche müssten gelegt werden? „Frau Koepke, das mache ich. Mir macht das Spaß!“ Koepke lacht ungläubig und lässt sie gewähren. Eigentlich fällt das nicht unter die Aufgaben der Pflegekräfte. Rittmeyer ist eine der wichtigsten Vertrauenspersonen für Koepke. Sie ist stolz, dass Koepke ihr vertraut.

Claudia Koepke legt sich trotzdem nicht hin. Am Morgen ist alles im Haushalt stehen geblieben, weil es Luca noch schlecht ging. Zum Glück war ihr Bruder da, Onkel Franz. Gleich nach der Nachtschicht ist er gekommen, hat die Hunde rausgebracht, die Enkelin an Koepkes Stelle in die Kita gefahren. „Er hilft so viel. Ein Glück, dass er da ist“, sagt sie und ruft ihn an. „Franz, danke dir. Bitte, komm doch heute Abend zum Essen.“

Manche bleiben, manche gehen

Manche bleiben, manche gehen, wenn es darum geht, Verantwortung zu übernehmen und durchzuhalten. Franz bleibt. Koepkes Mann ist gegangen. „Ich schaffe das nicht“, habe er gesagt. „Ich war stinksauer“, sagt Koepke. So allein. Aber irgendwann hat sie ihn verstanden. An vielen Wochenenden gehen die Töchter zu ihm. Dann basteln und kochen sie. Langsam traut er sich auch an Luca heran. Zartfühlend, übervorsichtig. „Als wäre Luca zerbrechlich“, sagt Sara und lacht.

Rittmeyer gehört zu denen, die sich um Claudia Koepke sorgen. Die ihr Ruhe verordnen, die sie ermahnen. „Sie hängt unglaublich an Luca“, sagt Rittmeyer. „Er sei ihr Leben, sagt sie.“ Annikas Psychologe würde auch sie am liebsten betreuen, sagt Koepke. Aber sie lässt sich nicht bremsen. Sie ist wendig und ausdauernd, mit den Hunden schlägt sie Haken, mit dem Neffen nimmt sie am Ulmer Halbmarathon teil. Wenn ihr alles zu viel wird, geht sie ins Fitnessstudio, auspowern. Auch um Mitternacht.

Oder sie versteckt sich bei Luca und kuschelt mit ihm. „Luca tut allen gut“, sagt sie. „Er beruhigt. Alle gehen zu Luca, wenn sie traurig sind. Er lächelt dann. Sogar, wenn er krank ist.“

Gleich kommt Steffi, die Frau vom Hospizdienst, um Annika ins Training zu fahren. Aber Annika bockt. Ihre Lieblingssporthose ist nicht gewaschen. Für Sara stehen zwei ruhige Stunden mit Mama und Luca auf dem Spiel. Sie gibt alles. Sie gibt Annika zu essen. Sie sucht die Hose. „Dafür backen wir am Wochenende. Versprochen!“, sagt sie.

„Noch heute Abend“, verlangt Annika.

„Na gut.“

„Aber du versprichst es?!“

„Ja.“

Im Trainingsstudio ist die schlechte Laune wie weggeblasen. Trainer Jürgen Grabosch hat schon Boxerinnen wie Rola El-Halabi trainiert. Tabak hat seine Stimme geraut, Boxkämpfe sein Gesicht geformt. Heute nimmt er sich Annikas an, lässt sie an den Boxsack, mit El-Halabis Handschuhen in den Ring und so lange Kraftübungen machen, bis Annika ächzt. „Ich kann nicht mehr“, sagt sie nie. Grabosch kann mit Menschen. Er nimmt Annika bei den Schultern, schaut ihr direkt in die Augen und sagt ihr, als sei es der wichtigste Auftrag des Abends: „Renn und räume das Seil auf, wir ziehen jetzt die Handschuhe an.“ Und Annika macht genau das. Sie braucht das. Klare Anweisungen, Aufmerksamkeit, Ausdauer.

 

„Ich werde ihr erlauben, vieles deutlich zu erkennen, was auch ich erkenne. Sie wird niemals allein sein. Ich werde bei ihr sein, jeden Tag (…).“

 

„Ich will Luca ja nicht wegen mir leiden lassen“, sagt Koepke. „Ich verstehe doch seine Zeichen. Ich werde es doch verstehen, wenn er nicht mehr kann.“ Dann wird sie ihn gehen lassen. Sie hat eine Erklärung unterschrieben: Keine lebensverlängernden Maßnahmen. Keine Reanimation. Dann endet der Ausnahmezustand.

Und dann? „Ich werde wieder mehr Zeit für die Mädchen haben“, sagt Koepke langsam. „Wieder arbeiten.“ Die Furcht schwingt in ihrer Stimme. Im Raum steht die Leere. Die ist viel schwieriger zu meistern, als ein Tag, der einem kaum Zeit zum Nachdenken lässt. „Es wird nicht leicht, einen neuen Alltag zu finden“, sagt sie. Wenn von Luca, dem kleinen Tiger, noch die Fotos bleiben.

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