Fast ein ganzes Jahrhundert: Manfred Gütschow mit seinen Hunden am Strand von Wustrow
Privat
Ostdeutsche Biographien
Eine Geschichte, wie sie nur noch wenige erzählen können
Er ist 97 Jahre alt und ging immer seinen eigenen Weg, auch in bewegten Zeiten: Manfred Gütschow. Ich treffe ihn in seiner Heimat, in Wustrow auf der Halbinsel Fischland-Darß-Zingst
Anke LübbertPR
27.08.2025
5Min

"Lütting", also "Kleines", nennt Manfred Gütschow auf eine ihm eigene, liebenswürdige Art die Frau, die einmal in der Woche seinen Bungalow in Wustrow auf dem Fischland sauber macht, die Fahrerin, die ihm das Mittagessen bringt. Er spricht ein weiches Plattdeutsch, das man kaum noch irgendwo hört.

Manfred Gütschow ist 97. Und aus so einer Perspektive sind selbst mittelalte Menschen noch grün hinter den Ohren. Ich treffe ihn im Juli in seinem Bungalow. In dem Küstenort zwischen Bodden und Ostsee ist Hochsaison. Immer wieder ziehen Grüppchen mit Handtüchern, Sonnenschirmen und Badezeug in Richtung Strand hinunter.

Wir treffen uns, weil er Kurt Brüssow kannte, einen Mann, auf dessen Spuren ich seit Monaten unterwegs bin. Für Kurt Brüssow liegt ein Stolperstein vor dem Theater in Greifswald. Er wurde 1937 vom Hausmeister des Theaters wegen homosexueller Kontakte denunziert, er überlebte Auschwitz und rettete sich Anfang 1945 auf einem Tankschiff von Manfred Gütschows Vater nach Westen. In Wustrow fand Brüssow Zuflucht. Der Ort befand sich im Umbruch, eine Gruppe regimekritischer Kapitäne bereitete sich auf die russische Besatzung vor.

Manfred Gütschow, damals 17 Jahre alt, war dabei, als sich die lokale Nazielite, darunter SS-Männer und Werwölfe der Hitlerjugend, weiter nach Westen absetzte; als die Gruppe Regimegegner eine weiße Fahne vom Kirchturm hisste. Er stand daneben, als Kurt Brüssow als Vorhut einer Abordnung erst dem russischen Kommandanten die Häftlingsnummer auf seinem Unterarm zeigte und anschließend der Ort ohne Blutvergießen an die Rote Armee übergeben wurde.

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Er erinnert sich gut an Kurt Brüssow, der so plötzlich in seinem Heimatort auftauchte. Der den Ort monatelang entscheidend prägte und dann ebenso plötzlich wieder verschwand. In den Monaten vor und nach Kriegsende entstand ein politisches Vakuum, die Wustrower lebten in großer Unsicherheit. Diese Zeit fiel mit Manfred Gütschows Erwachsenwerden zusammen. All das hat er aufgeschrieben in einem Buch "Erinnerung an Fischlands große Zeit", in dem das Kriegsende und die Monate danach ein eigenes Kapitel haben.

Mit dem Buch will er der großen Zeit des Fischlands und der ganzen Halbinsel Fischland-Darß-Zingst ein Denkmal setzen: der Zeit der Segelschifffahrt. Im 18., 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts waren die meisten Männer auf der Halbinsel Kapitäne, Matrosen, Segelmacher, Schiffsköche oder Bootsbauer. In Orten wie Zingst, Prerow, Ahrenshoop oder eben Wustrow entwickelte sich eine ganz eigene Gesellschaft, mit ihren eigenen Codes, Traditionen und geschriebenen wie ungeschriebenen Gesetzen. Eine Gesellschaft, in der viele Männer nur zeitweise zugegen waren und die Frauen derweil unter sich blieben und Haus und Hof alleine managten. Mitbringsel von den großen Reisen wie feines Porzellan, Möbel, Bilder aus China, England oder Indien wurden prominent ausgestellt.

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Eine Gesellschaft, in der sich die älteren Kinder den ganzen Sommer lang in zwei Banden bekriegten. Ost- gegen Westwustrow. Und in der die größte Ehre dem Jungen zuteilwurde, der es schaffte, den Blitzableiter des Kirchturms emporzuklettern. In der jede Familie, die etwas auf sich hielt, im Wohnzimmer über dem Sofa ein Ölgemälde eines Segelschiffs hängen hatte, mit dem Abbild des Seglers, auf dem der Hausherr unterwegs war. Auch in Manfred Gütschows Bungalow hängt so ein Bild.

Wenn Manfred Gütschow erzählt, ist das wie eine Reise in eine entfernte Welt, als würde man viele tausend Kilometer überwinden. Manche Erinnerungen liegen tief vergraben, dann braucht er einige Momente, bis erst die Erinnerung, dann die Worte dafür kommen. Im Erzählen beleuchtet er auch die schmerzhaften Stellen. Dann schauen seine Augen ins Leere. Besonders setzen ihm die Erinnerungen an die Vergewaltigungen durch die russischen Soldaten zu: Er erinnert sich an die Schreie von Frauen in der Nachbarschaft, ihr allabendliches Martyrium. Daran, wie er, weil er das einzige nicht beschlagnahmte Fahrrad im Ort besaß, regelmäßig zur Apotheke nach Ribnitz-Damgarten fahren musste, um ein Mittel zu holen, das der Wustrower Arzt den Frauen spritzte, um eine Schwangerschaft zu verhindern. Einmal, erzählt er, habe er sechs Mädchen vor einer Massenvergewaltigung gerettet.

Die Gewaltverbrechen der Besatzer waren für viele Frauen in der Sowjetischen Besatzungszone traumatisierend und konnten oft nicht verarbeitet werden – auch weil sich in dem neu installierten politischen System jede Kritik am großen sowjetischen Bruder verbat. Das Leid dieser Frauen war schlicht nicht vorgesehen. Ihre Geschichten wurden jahrzehntelang nicht oder nur hinter vorgehaltener Hand erzählt.

Was für eine kaum auszuhaltende Gleichzeitigkeit: Die von Manfred Gütschow und anderen Wustrowern durchaus auch als Retter und Befreier empfundenen Soldaten waren zugleich auch Peiniger, die Wustrower waren ihnen auf Gedeih und Verderb ausgeliefert.

Für Manfred Gütschow war diese Zeit prägend. Das vertraute und Sicherheit gebende System, in das er hineingeboren war, hatte sich schon mit dem Beginn der Nazidiktatur verändert. In den Jahren nach Kriegsende brach es vollständig in sich zusammen. Viele der Seefahrerdynastien verließen das Fischland, die, die blieben, mussten sich unter neuen Regeln zurechtfinden. Er, der immer davon ausgegangen war, dass er wie sein Vater und Großvater zur Seefahrtschule gehen würde, durfte nicht – weil das soziale Gefüge im Arbeiter- und Bauernstaat aufgebrochen werden sollte. Für Manfred Gütschow war ausgerechnet Kurt Brüssow einer, der ihm in einer Zeit der Orientierungslosigkeit "Mut für mein Leben machte", der ihn aufforderte, nach vorne zu schauen und das Beste aus der Situation zu machen.

Manfred Gütschow lernte Zimmermann, später studierte er und leitete das Amt für Stadtplanung in Jena. Als junger Mann wurde er Sozialist, später warf er die alten Überzeugungen wieder über Bord. Er arbeitete noch bis weit über 80. Nach der Wende wurde er nach Berlin gerufen, wie er sagt, um "zu helfen, Berlin auf die Aufgaben einer Hauptstadt vorzubereiten". Nach wie vor lebt er die kältere Hälfte des Jahres auf der Fischerinsel in Berlin, inmitten pulsierenden Lebens. Aber das Sommerhalbjahr verbringt er auf dem Fischland, auf dem Grundstück der Familie, in seinem Bungalow. An derselben Stelle, wo Gütschow als Jugendlicher das Hauptquartier seiner West-Wustrower Bande eingerichtet hatte.

Heute ist Wustrow vor allem ein Badeort. Die meisten Menschen verdienen ihr Geld mit Tourismus. Nach dem Zweiten Weltkrieg waren viele alteingesessene Familien verschwunden und neue zuzogen, nach der Friedlichen Revolution kamen dann vor allem Westdeutsche, die ihr Geld in Ferienimmobilien anlegten. Auch viele der alten Kapitänshäuser, mit ihren holzvertäfelten Veranden wurden an Westdeutsche verkauft. Für die Touristen auf dem Weg zum Strand sind sie wie eine Kulisse, vor der ihr Sommerurlaub stattfindet.

Manfred Gütschow hat auf die Rückseite seines Buches ein Zitat von Frank-Walter Steinmeier drucken lassen: "Die größte Gefahr für uns alle geht vom Vergessen aus." Das war Teil Steinmeiers Rede zum Internationalen Holocaust-Gedenktag am 27. Januar 2021. Für Manfred Gütschow hängt es zusammen: der Niedergang der goldenen Zeit in seiner Heimat und die Verbrechen des Nationalsozialismus.

Wie alles, was einem einmal als fest und unveränderlich erscheint, von einem Moment auf den anderen verschwinden kann, ist eine prägende Erfahrung. Eine, die Manfred Gütschow, wie viele Menschen seiner Generation, vor allem in Ostdeutschland, mehr als einmal in seinem Leben gemacht hat. Wenn er davon erzählt, ist es auch, um Zeugnis abzulegen. Von dem, was ihm geschehen ist. Aber auch von dem "großen Muster, von dem wir alle nur Teil sind" (Hilde Domin).

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Kolumne

Christian Kurzke

Christian Kurzke stammt aus Ostdeutschland und arbeitet heute bei der Evangelischen Akademie in Dresden. Anke Lübbert wurde in Hamburg geboren, , lebt jedoch seit vielen Jahren mit ihrer Familie in Greifswald. Beide schreiben sie im Wechsel über Politik und Gesellschaft aus ihrer Sicht.