Ein Foto zeigt Annie Hegers Großvater Heinrich Heger, der in einem eleganten Anzug auf einem Stuhl sitzt. Er hat die Familiengeschichte in der NS-Zeit recherchiert. Daneben die Titelseite vom zweiten Band seiner Erinnerungen.
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"Mein Uropa war Nazi und Jude"
So eine krasse Familiengeschichte haben nicht viele, sagt die NDR-Moderatorin und Entertainerin Annie Heger. Sie beschäftigt sich seit ihrer Kindheit damit.
Tim Wegner
31.03.2023

chrismon: Frau Heger, Ihr Uropa war Jude und Nationalsozialist?

Genau, er hat die Ortsgruppe der NSDAP in Syke bei Bremen gegründet. Dann ist er relativ schnell SS-Sturmbannführer geworden und hat als charismatischer Redner die Massen um sich geschart, um Hitlers Ideologien zu verbreiten. 1935 hat man herausgefunden, dass sein Vater Jude war. Daraufhin ist er degradiert worden. Er hat trotzdem weiter bis hin zur körperlichen und psychischen Selbstaufgabe für die Partei und die SS gearbeitet, war aber eine absolute Persona non grata, ein gesellschaftliches Nichts.

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Annie Heger

Annie Heger ist Sängerin, Schauspielerin, Autorin, Moderatorin und Kabarettistin. Zudem engagiert sie sich politisch.

War er trotzdem weiterhin Anhänger des Nationalsozialismus?

Komischerweise ja. Es hätte ihm doch spätestens klar werden müssen, dass mit Hitlers Ideologie etwas nicht stimmen kann, als klar war, dass er als Jude der Verlierer des ganzen Systems ist. Trotzdem hat er an der Ideologie festgehalten, ist sogar daran krank geworden. 1937 ist er dann aufgrund starker Gallenkoliken und einer folgenden OP verstorben. Ich denke, dass die innere Widersprüchlichkeit ihm das Herz zerrissen und ihn körperlich krank gemacht hat.

Auch Ihre Uroma hatte ein dunkles Geheimnis.

Nach dem Tod meines Uropas hat sie seinen jüngeren Bruder geheiratet. Als ihr Schwiegervater eine neue Frau geheiratet hat, die Jüdin war, hat meine Uroma beide an die Gestapo verraten. Die Verratenen wurden deportiert und ermordet. Meine Uroma hat sich einige Jahre nach dem Krieg suizidiert.

Die Familiengeschichte hat Ihr Opa Heinrich Heger nach dem Krieg recherchiert und aufgeschrieben. Hat seine Mutter ihm nicht erzählt, was vorgefallen ist?

Über ihren eigenen Verrat hat sie natürlich nicht gesprochen. Niemand hat darüber gesprochen. Da mein Opa erst sieben Jahre alt war, als sein Vater starb, konnte er sich auch nicht mehr an dessen Überzeugungen erinnern.

Woher kam sein Impuls, die eigene Familiengeschichte zu recherchieren?

Mein Opa hat seine Tante, zu der seine Familie keinen Kontakt mehr hatte, besucht. Sie hat ihm mit den Worten "Habt ihr uns nicht schon genug angetan?" die Tür aufgemacht. Trotzdem hat sie ihn reingelassen und ihm bruchstückhaft erzählt, was vorgefallen war. Das hat ihn ziemlich durcheinandergebracht und nicht mehr losgelassen, deshalb hat er nach einiger Zeit selbst angefangen nachzuforschen.

Wie ist er dabei vorgegangen?

Immer wieder ist er zu Friedhöfen, Kirchen und Krankenkassen gefahren, um Akten einzusehen, und er hat mit Historiker*innen der Syker Geschichtswerkstatt, Standesbeamten, Archivaren und ehemalige Nachbarn gesprochen. In zwei Büchern hat er die Familiengeschichte aufgeschrieben, sie in einen politischen und historischen Kontext eingeordnet und Zeitungsartikel, Bilder und auch antisemitische Schriften von damals angefügt. Insgesamt hat er mit vielen Unterbrechungen 46 Jahre dafür gebraucht.

Sie waren neun Jahre alt, als er seine Werke fertiggestellt hat. Was haben Sie davon mitbekommen?

Mein Opa hat immer mit mir darüber gesprochen. Die Recherche war sein Lebensinhalt. Er hat mir die Geschichte natürlich häppchenweise erzählt, als Kind war ich noch nicht so weit, dass ich einordnen konnte, was die Gestapo ist. Das kam nach und nach.

Wann haben Sie begriffen, was das alles bedeutet?

Mit 13, als ich die Bücher das erste Mal wirklich von vorne bis hinten durchgelesen habe. Danach dachte ich: Krass, so eine Familiengeschichte hat nicht jeder, das ist schon etwas Besonderes. Das war eine Mischung zwischen völligem Erschrecken und Faszination.

Haben Sie selbst noch einmal nachgeforscht?

Mehr oder weniger unfreiwillig. Ich hatte mal einen Auftritt in Syke, wo mein Uropa damals die NSDAP-Ortsgruppe gegründet hatte. Irgendwie kam mir der Impuls, auf der Bühne zu erzählen, was mich mit dem Ort verbindet. Hinterher kam ein Mann auf mich zu und meinte: "Ich habe ein Geschichtsbuch über die NSDAP-Zeit in Syke geschrieben und ich kannte Ihren Opa." Er hat mir die Bücher zugeschickt, in denen es vier Seiten nur über meinen Urgroßvater gab. Davor hatte ich immer geglaubt, dass mein Opa vielleicht mehr dazu gedichtet hat, um die Geschichte spannender und absurder zu machen. Nun stand jemand vor mir stand, der sagte: "Das stimmt alles."

Fällt es Ihnen schwer, über diesen Teil Ihrer Familiengeschichte zu sprechen?

Als ich jetzt für das Video die Bücher wieder in die Hand genommen habe und die Seiten durchgeblättert habe, hat mich der Geruch sofort zum Weinen gebracht. Das ist eine Familiengeschichte, die für mich so unwirklich ist, dass ich manchmal vergesse, dass ich sie habe.

Wie gehen Sie mit dem Wissen um?

Ich entscheide mich jeden Tag neu dafür, diese Geschichte für mich präsent zu haben und mich und meine Mitmenschen daran zu erinnern, dass die Achtung der Würde eines jeden Menschen jeden Tag neu gesichert und erkämpft werden muss. Außerdem kann ich nur ermahnen: Setzt euch mit eurer Familiengeschichte auseinander, verklärt nicht die Vergangenheit eurer Großeltern. Das ist unsere Verantwortung als dritte und vierte Tätergeneration.

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Mein Vater war in der Partei und hat bis 1980 das Vermögen eines Oberrabiners verwaltet. Meine Urgroßmutter soll das uneheliche Kind eines jüdischen Viehhändlers gewesen sein. Über diese Verwandtschaftsseite wurde im verg. Jahrhundert nie gesprochen. Die Arisierung verwendete auch Kirchenbücher. Stand da nichts drin, war man Arier. Dedektivische Akribie war nicht üblich. Es gab in der Partei genug "Juden", ohne das denen bekannt war. Allseits waren es häufig arme Leute. Über Armut sprach man nicht. Und mehr von dem, was mir zugetragen wurde, will ich auch nicht wissen. Was hätte ich denn davon? Was geschehen ist war schrecktlich. Um das zu verstehen, brauche ich nicht meine Verwandtschaft. Jeder hat seine und mancher wäre froh, keine zu haben.