Der Bambi-Schulranzen
Er ist aus echtem Leder und hat zwei eingestanzte Bambis. Das Schloss funktioniert noch einwandfrei, und ich fand sogar ein Schönschreibblatt aus der ersten Klasse darin, von 1970. Schön geschrieben war es leider gar nicht, das U in meinem Namen sah stets aus, als sei mir der Filzstift aus der Hand gerutscht. Das O war nur lustig, wenn man es zu einem Smiley vervollständigte.
Ich konnte nie schön schreiben, mir fehlt die Feinmotorik. Ich kann auch nicht sticken, häkeln oder Handyakkus ausbauen. Das habe ich stets mit schönen Worten versucht zu überspielen. Wie auf diesem Schönschreibblatt von 1970: "Ich mag meine Lehrerin und freue mich auf die 2. Klasse." Ich weiß genau, ich hasste diese Lehrerin. Aber sie freute sich so übers Lob, dass sie die Krakelschrift glatt übersah. So steht der Schulranzen für eine Menge Überlebenstaktiken, die man im Lauf einer Schulkarriere einsammelt. Sich immer zu Wort melden. Viele Fragen stellen. Und immer den Lehrer loben. Klingt wie die Anleitung zum absoluten Schleimertum. Aber funktioniert. 35 Jahre später gab es am Gymnasium meiner Söhne einen Elternabend, weil ein Mädchen ins Klassenbuch geschrieben hatte, sie habe Angst vor der Lehrerin. "Aber andere Kinder lieben mich", sagte die Klassenlehrerin verzweifelt. Lehrer wollen gemocht werden.
Meinen Bambi-Schulranzen bewahre ich auf. Auch weil meine Mutter mir hundertmal erzählt hat, wie sie sich freute, wenn ich als Schulkind mit dem wippenden Ranzen mittags um die Ecke bog. Sie kochte jeden Mittag für uns. Ich habe das fast nie getan für meine Kinder, ich war immer berufstätig. Dafür bin ich neulich nachts zur Mülltonne geschlichen, weil ich ein schlechtes Gewissen hatte. Ich hatte sämtliche alte Schulranzen meiner Kinder entsorgt, weil der Keller überfüllt war. Da war beim Jüngsten "Mottowoche": Mein erster Schultag. Das Kind verlangte mit ausgewachsenen 18 Jahren nach seinem Dino-Ranzen von der Einschulung. Ein Tauchgang in der Tonne, und ich hatte ihn wieder. Jetzt stehen Dinos und Bambis vereint im Keller. Für immer.
Ursula Ott
Lesen Sie hier, wie Ursula Ott ihr Elternhaus ausgeräumt hat
Plüschhund Waldi
Ich bin aufgewachsen in dem Wissen, dass meine Familie nicht besonders viel Geld hat. Trotzdem hat es mir nie an etwas gemangelt – siehe Plüschtierberg. Meine Patentante arbeitete in einem Waisenhaus, und in einem Jahr waren wir dort zu einer Weihnachtsfeier eingeladen. Waisen, das sind Kinder, die keine Eltern mehr haben, wurde mir erklärt. Das fand ich traurig und deshalb spielte ich auch eher befangen mit den Kindern. Irgendwann sollte es eine Bescherung mit gespendeten Spielsachen geben. Sogar ich sollte etwas bekommen, aber aus pädagogisch heute schwer nachvollziehbaren Gründen nicht mit den anderen zusammen. Stattdessen führte mich der "Weihnachtsmann" vor der eigentlichen Bescherung in ein Nebenzimmer, in dem ein riesiger Haufen Spielsachen aufgeschichtet war. Ich durfte mir als Allererste etwas aussuchen. Das kam mir zwar komisch vor, ich wählte aber sehr gewissenhaft aus. Vieles fand ich doof: Es war alt oder schon ein bisschen kaputt. Den zerknautschten Hund aber fand ich süß.
Mit Waldi unterm Arm ging es zurück in den anderen Raum, wo nun die Waisenkinder ihre Geschenke bekamen. Und jedes Einzelne von ihnen freute sich so sehr über den kaputten Holzzug oder die Puppe mit nur einem Auge, dass ich mich plötzlich schämte. Das Wort habe ich erst viele Jahre später gelernt, aber damals habe ich schon verstanden, wie sich "Privileg" anfühlt.
Dominique Bielmeier
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Das altehrwürdige Klavier der Mutter
Zum Beispiel die Hochzeit von Tante Elsbeth, 1950. Der Klavierlehrer meiner Mutter war als Musiker engagiert. Er kam mit seiner Muse, einer Schauspielerin, die sich schnell langweilte. Herr Schricke, so hieß er, hing über den Tasten, spielte und spielte und war völlig versunken. Seine Begleiterin saß schon längst knutschend mit einem anderen Gast auf dem Sofa und die Tür zum Schlafzimmer, wo Schricke spielte, wurde wieder eingehängt. Man wollte die Musik einfach langsam nicht mehr hören. Doch niemand war so charmant wie er. "Ihr Lächeln macht Sie zu einer Königin", Sätze wie dieser an meine Oma gerichtet gehörten zu seinem Repertoire wie Beethovens "Für Elise" und wir lachen bis heute Tränen darüber.
Das altehrwürdige Klavier, es stammt aus einer Wattenscheider Klavierfabrik, wanderte irgendwann in mein Elternhaus. Und meine Mutter, Frau der Tat, beizte es im Handumdrehen von Schwarz lackiert auf Eiche natur um. So passte es farblich besser ins Wohnzimmer, da kannte sie nix. Meine Schwester spielte jahrelang darauf, und aus dieser Zeit erinnere ich eigentlich eher ihre Heulattacken vor dem Klaviervorspiel und das Zetern meiner Mutter, dass das viele Geld für den Privatlehrer doch keinen Nutzen habe. Er war ein verknöcherter Musikus und von Charme leider keine Spur Schricke in ihm.
Später malträtierten meine Töchter es von Zeit zu Zeit, manchmal wurde es auch gestimmt. Und wenn der Klavierstimmer nach getaner Arbeit in die Tasten griff, war meine Mutter selig.
Vor einem Jahr dann fing meine ältere Tochter Feuer fürs Klavierspielen. Wir kauften ein E-Piano bei Ebay-Kleinanzeigen und sie musste zum Üben in den Keller, weil sie es sich mit einer Nachbarin teilen sollte. Auf den Trumm aus Wattenscheid hatte ich keine Lust, wo sollte er auch hin? Unsere Wohnung hat viele Fenster und kaum Wände. Als dann aber die Schlagzeug-Tochter auch auf Klavier umschwenkte und die Rufe meiner Mutter immer lauter wurden: "Holt doch das Klavier bitte zu euch! Es kann doch nicht wahr sein, dass deine Kinder zum Musizieren in den Keller gehen", war ich zum Lastentransport bereit. Vor zwei Monaten kam ein LKW, hielt vor unserem Haus und stellte das Klavier erst einmal auf der Straße ab. Meine Große kam herausgerannt, kreischte vor Freude, setzte sich davor, und fing auf der Straße an, Klavier zu spielen. So schön, und ehrlich wahr.
Dorothee Hörstgen
Die Teubner-Uhr
Da die Ururgroßeltern mit Teubner befreundet waren, bekam Franz, gerade 15 Jahre alt, das Angebot, bei Opernaufführungen am Wochenende oben im Rang sitzen zu dürfen, um die Uhr zu beobachten. Wenn sie stehen blieb, musste er die Oper verlassen und schnell den Gesellen Teubners informieren, der dann in den Uhrenkasten kroch, um sie wieder zum Laufen zu bringen. Aber einmal schlief der 15-Jährige während der Aufführung ein. An jenem Abend muss Teubner selbst in der Oper gewesen sein, denn der Bub wurde unsanft von einem Mann geweckt, der ihm mitteilte, dass Hofuhrmeister Teubner sehr verärgert darüber sei, dass seine Uhr seit 45 Minuten stehe – ob er denn der "Franz" sei, der darauf aufzupassen habe?
Wir Kinder malten uns das Schreckensszenario weidlich aus. Eine echte Teubner-Wanduhr unserer Ururgroßeltern hing also tatsächlich in unserer Wohnung – und wenn es ganz leise war, lauschten wir dem "Klack-Klack" des Pendels und dachten an die Geschichte aus der Semperoper. Als meine Eltern nicht mehr unter uns weilten, stand die Uhr zur Disposition: Sollten wir sie verkaufen? Nein! Niemals, sagte ich. Und heute, wenn ich abends auf dem Sofa liege, ein Buch lese und es ganz leise ist, dann begleitet mich das beruhigende "Klack-Klack" des Pendels dieser "geschichtsträchtigen" Uhr, die seit über 130 Jahren ihren Dienst noch nie versagt hat.
Andreas Fritzsche
Die Eierbecher von Tante Doris
Die beiden Eierbecher sind von Rörstrand, einem schwedischen Porzellanhersteller, der seit 1726 ununterbrochen Porzellan herstellt. Sie sind nicht gespült, da ist noch ein bisschen Eigelb dran. Sie gehörten Tante Doris, einer Jugendfreundin meiner Mutter. Tante Doris hat für mich gesorgt wie eine Patentante. Ich habe die Eierbecher vor ein paar Monaten aus ihrer Wohnung mitgenommen, nach der Trauerfeier ließ mich eine Bevollmächtigte noch mal rein.
Tante Doris war Jahrgang 1934, mittlere Führungsebene des städtischen Sozialamtes: keine Kinder, Kleppermantel – und die erste Frau in meinem Leben mit einem eigenen Schreibtisch. Und mit einem deutlichen Gestaltungswillen: Seit den 60er Jahren prägte skandinavisches Design ihre Lübecker Wohnung. Diese Eierbecher gab es schon, da war ich fünf Jahre alt und auf Besuch. Ich wollte zwei Eier zum Frühstück, Tante Doris empörte sich: "Spinnst du?!" Die Eierbecher waren jedes Mal da, sie standen auf dem Frühstückstisch. Wenn der Tisch abgeräumt wurde, kamen sie in den Vitrinenschrank hinter dem Tisch. Gespült wurden sie nicht. Dass ich die Eierbecher bekommen sollte, war so verabredet zwischen Tante Doris und mir. Gespült werden sie nicht.
Andrea Wicke
Das duftende Bettlaken
Das weiße Laken stammt aus der Zeit vor der Erfindung praktischer Bettbezüge. Man legt es unter eine Wolldecke, schlägt an der Kopfseite den Schmuckrand über die Decke und stopft es an den Füßen unter die Matratze. Ich habe es noch nie benutzt. Die Funktion des Lakens ist auch nicht so wichtig. Es geht um den Geruch. Das Laken riecht, wie es im Wäscheschrank meiner Eltern roch: nach Waschmittel, Lavendel und Wäschestärke. So duften für mich die Kindheit und die Geborgenheit, so riecht das Versprechen, dass alles gut wird. Wenn ich an dem Laken schnuppere, komme ich noch einmal zurück in das Haus, in dem ich aufgewachsen bin, lasse mich in mein Jugendbett fallen und genieße das Gefühl: Egal, was war, egal, was wird, hier bin ich aufgehoben.
Meine Mutter ist ihr Leben lang einer Waschmittelmarke treu geblieben. Der Geruch von Persil konnte sich über 30 Jahre im Schrank sammeln und sich mit dem Duft von Lavendelsäckchen mischen, die sie zwischen die Wäschestücke legte, um die Motten fernzuhalten. Alle sechs Wochen wurden die Bettbezüge und Laken, die Kopfkissenbezüge und Tischdecken zum Heißmangeln gebracht. Weil meine Eltern einige Zimmer vermieteten, kam eine Menge Wäsche zusammen. Ich schaute fasziniert zu, wie die dicke Frau von der Heißmangel die Wäschestücke über die große Trommel zog, ohne sich die Finger einzuklemmen.
Woher das weiße Laken mit seinem gewellten, umstickten Saum stammt, weiß ich nicht. Nachdem meine Eltern die Zimmervermietung aufgegeben hatten, wurde es nicht mehr aufgezogen, auch meine Mutter griff später zu praktischeren Varianten. Das weiße Laken hat die Zeit weit hinten im Wäscheschrank überdauert. Meine Eltern sind schon lange tot, als meine Schwester und ich das Haus vor 16 Jahren ausräumten, habe ich viel Porzellan, Haushaltsgeräte und Wäschestücke mitgenommen. Von vielen Dingen habe ich mich nach und nach getrennt, weil sie meine Schränke verstopften und ich sie eh nie nutzte. Doch solange nur ein Hauch des Duftes an dem Laken ist, werde ich es nicht weggeben.
Claudia Keller
Eine erste Version der Texte erschien am 25.3.2019.
Wieviel ist genug?
Wieviel ist genug?
Aufräumen war zuhause ein Thema. Meine Mutter kaufte viel Kleidung, schöne Dinge für zuhause. Mein Vater war sehr ordentlich und kaufte kaum etwas Neues. Da sie beide als junge Leute im Krieg alles verloren hatten, wurde kaum etwas weggeworfen. Wir sollten vieles übernehmen und die vielen Sachen vor allem wertschätzen. Das war manchmal anstrengend. Die Haushaltsauflösung haben wir vier Kinder dennoch ganz gut geschafft. Inzwischen habe ich mich sogar von einem hübschen Geschirr getrennt, das ich nie benutzt habe. Ich habe es an meine Putzfrau verschenkt und nur einen kleinen Becher behalten. Schön war es, dass sie mir sagte: das Geschirr hatte meine Mutter auch. Irgendwie hat sich dadurch für mich ein Kreis geschlossen.
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