Olaf Scholz verzichtete bei seinem Amtseid vor vier Jahren auf den Gottesbezug "so wahr mir Gott helfe". Darüber wurde damals viel diskutiert. Denn Scholz war nach Gerhard Schröder erst der zweite Kanzler, der sich nicht auf Gott berief. Sein ganzes Kabinett war recht kirchenfern und wenig religiös.
Der neue Bundeskanzler Friedrich Merz hingegen berief sich bei seiner Vereidigung auf den göttlichen Beistand. Und nicht nur das: Seine Kabinettsmitglieder sind deutlich religiöser, die Mehrheit gehört einer Kirche an. Ist das – wie manche Kommentatoren nun schon meinen – Ausdruck der konservativen Wende, gar eines Vibe-Change? Ist ihre Befürchtung gerechtfertigt, dass es Deutschland bald wie den USA ergehen könnte, wo unter Donald Trump evangelikale Christen an Einfluss gewonnen haben? In der Tat haben evangelikale Christen mit ultrakonservativen Ansichten maßgeblich zu Trumps zweitem Wahlsieg beigetragen. Doch wer daraus Schlüsse für Deutschland zieht, hat keine Ahnung von der deutschen Religionslandschaft.
Bundeskanzler Friedrich Merz ist Mitglied der katholischen Kirche. Katholisch sind auch Thorsten Frei (Kanzleramtsminister), Nina Warken (Gesundheitsministerin), Alois Rainer (Landwirtschaftsminister), Patrick Schnieder (Verkehrsminister), Alexander Dobrindt (Innenminister), Dorothee Bär (Forschungsministerin) und Verena Hubertz (Bauministerin). Der evangelischen Kirche gehören aus dem neuen Kabinett Lars Klingbeil (Finanzminister und Vizekanzler), Johann Wadephul (Außenminister) und Katharina Reiche (Wirtschaftsministerin) an. Reem Alabali-Radovan (Entwicklungshilfeministerin) gehört der chaldäisch-katholischen Kirche an. Bis auf Reem Alabali-Radovan haben sich diese Minister und Ministerinnen bei ihrer Vereidigung auf Gott bezogen. Auch der neue parteilose Digitalminister Karsten Wildberger hat es getan. Über seine Kirchenmitgliedschaft ist nichts bekannt.
Die Gottesformel beim Schwören des Eides ist keineswegs ein konservatives Bekenntnis. Wer etwas schwört, geht immer die Gefahr ein, dass er oder sie diesen Schwur brechen wird. Gottseidank gehen wir heutzutage nicht mehr davon aus, dass ein gebrochener Schwur wie ein Fluch an einem Menschen haftet. Dennoch lernen schon Kindergartenkinder, dass man nicht zum Spaß schwören sollte. Denn für was sollte ein Schwur gut sein, wenn die Menschen, die ihn leisten, sich nicht absolut daran gebunden fühlen?
Andrerseits: Niemand, der etwas schwört, weiß wirklich, ob er oder sie den Schwur halten kann. Die Zukunft ist unsicher und unvorhersehbar und die eigenen Fähigkeiten werden leicht überschätzt.
Wer also schwört und diesen Schwur mit der Formel "so wahr mir Gott helfe" ergänzt, drückt damit aus, dass er oder sie um die Begrenztheit der eigenen Macht und Fähigkeiten weiß. Die Gottesformel ist ein Zeichen von Demut. Und Demut steht Politikern gerade in Zeiten von Trump &Co. gut an.
Lesetipp: Ist die Kirche zu politisch?
Macht kann leicht zu Machtbesessenheit führen, und wer viel Verantwortung hat, kann auch viel falsch machen - das ist eine Binsenweisheit. Dass Politiker sich dessen bewusst sind und das öffentlich zugeben, eher nicht. Es ist also ein gutes Zeichen für Deutschland, dass so viele neue Ministerinnen und Minister sich bei ihrem Eid auf Gott berufen haben und damit zum Ausdruck bringen: Ich brauche für meine Aufgabe mehr als nur meine eigene Kraft.
Und was ist mit der Kirchenmitgliedschaft der Kabinettsmitglieder? Zieht damit nun ein veraltetes, patriarchales Familienbild oder gar so etwas wie eine neue christliche Leitkultur ins Kabinett ein? Allen, die so denken, sei kurz in Erinnerung gerufen, dass es erst vier Monate her ist, dass die katholische und die evangelische Kirche mit der CDU/CSU im Streit lagen. Es war gar von einem Bruch die Rede. Die beiden großen christliche Kirchen hatten Ende Januar gemeinsam und vehement davor gewarnt, Anträge für eine verschärfte Migrationspolitik mit AfD-Unterstützung durch den Bundestag bringen zu wollen.
Eine Kirchenmitgliedschaft ist in Deutschland keineswegs Ausweis einer konservativen Gesinnung. Wie oft wird gerade evangelischen Kirchenmitgliedern eine Nähe zu den Grüne und Linken unterstellt!
Lesetipp: Wie politisch soll die Kirche sein?
Dass viele der neuen Kabinettsmitglieder einer Kirche angehören, kann diesem Land nur nutzen. Die Kirchen machen sich für Menschenrechte stark, erinnern daran, dass alle Menschen Gottes geliebte Kinder sind und dieselbe Würde haben. Egal woher sie kommen und wieviel Bildung oder Geld sie haben. Und egal, ob sie religiös oder nicht religiös sind. Die neuen Kabinettsmitglieder wissen das ganz sicher. Wenn nicht, die Kirchen werden nicht müde, darauf hinzuweisen.