Nachhaltigkeit im Kapitalismus
"Reparieren, bis der Arzt kommt"
Der Ökonom Niko Paech erklärt, warum sich viele Menschen nach Verzicht sehnen und wie wir in einer Wirtschaft bestehen, die nicht mehr wächst: indem wir teilen und handwerkern
Junge Frau repariert Handy
Guido Mieth/Getty Images
Tim Wegner
Aktualisiert am 26.06.2024
4Min

chrismon: Wir haben unsere Leserinnen und Leser gefragt: "Wie viel ist genug?" Und viele Menschen haben uns geschrieben, dass Verzicht ihnen guttue. Überrascht Sie das?

Niko Paech: Nein. Spätestens seit den Siebzigerjahren leben wir in einer Überflussgesellschaft. Viele Menschen leiden unter Reizüberflutung. Wir sehen mehr Depressionen, mehr Burn-out-Erkrankungen und viele Kinder und Jugendliche mit Aufmerksamkeitsdefizitsyndromen.

Michael Messal

Niko Paech

Niko Paech ist ­Volkswirt und außerplanmäßiger ­Professor im Bereich Plurale Ökonomik an der Universität ­Siegen. Mit seinem Buch "Befreiung vom Überfluss" ­wurde er zum führenden ­Vordenker der Postwachstums­ökonomie.

Aber es gibt schon wieder so viele ­internationale Flüge wie vor der Corona-Pandemie. Wollen die Menschen den Überfluss?

Um das herauszufinden, untersucht die Glücksforschung den Zusammenhang zwischen Lebensqualität und Kaufkraft.

Mit welchem Ergebnis?

Ohne Konsum mag das Leben ­manchen sinnlos erscheinen. Aber Konsum hat dieselbe Eigenschaft wie Medizin: Die Dosis macht das Gift. Eine Überdosis an Konsum, Mobilität und Techniknutzung überfordert die menschliche Aufnahmefähigkeit.

Die Menschen entscheiden selbst, wie viel Konsum sie wollen . . .

Entscheidet ein Heroinabhängiger selbst, ob er sich die Spritze setzt? Meine These: Der Konsum von Mobi­lität, Technik und Erlebnissen weist die Charakteristik einer Sucht auf.

Das müssen Sie bitte erklären!

Um all den Pomp finanzieren zu ­können, müssen Menschen zusehends spezialisierte Arbeit ­verrichten. Dadurch verkümmert die Fähigkeit, ­ohne Konsum handlungsfähig zu sein. Und je konsumorientierter eine Gesellschaft geworden ist, desto mehr hängen auch die Identität und das Selbstwertgefühl vom Konsum ab. Sag mir, wohin dich deine exotische Fernreise geführt hat oder welches Handy du nutzt, und ich sage dir, wer du bist! Um soziale Anerkennung zu erlangen, muss ein immer höherer Standard an Konsum, Techniknutzung und Mobilität her, weil man sonst den Anschluss verliert.

Energiewende und Klimaschutz ­kos­ten Geld, der Staat ist auf Steuern und Sozialabgaben angewiesen. Wenn die Wirtschaft nicht wächst, fehlt das Geld. Was erwidern Sie?

Die klimafreundlichsten Häuser, Flugreisen und Autos sind die, die vermieden werden. Das spart sogar Geld. Nicht mangelnde Investitionen sind das Problem, sondern ein ruinöser Lebensstil. Bei acht Milliarden Erdbewohnern steht jeder Person pro Jahr eine Tonne an Kohlendioxid zu, um global gerecht zu überleben. In Deutschland sind es derzeit fast zwölf Tonnen. Nur wenn unnötiger Wohlstand schrittweise gesenkt wird, lässt sich diese Herausforderung ­demokratisch meistern. Gerechtigkeit im 21. Jahrhundert heißt nicht mehr, großzügig Geschenke zu ­verteilen, sondern Menschen zu befähigen, mit weniger Wohlstand in Würde zu ­leben. Hier setzt die Postwachstums­ökonomie an.

Was brauchen Menschen, um glücklich zu sein? Lesen Sier Antworten von chrismon-Leserinnen und -Lesern

Wie weit sind Sie auf diesem Weg?

Wie könnte ich Empfehlungen ­geben, an denen ich im Selbstversuch ­scheitere? Ich bin im Lebens­zeitdurchschnitt nicht weit von einer Tonne Kohlendioxid entfernt, bin in 63 Jahren nur ein einziges Mal geflogen, habe kein Auto, esse weder Fleisch noch Fisch und keine Eier. Ich habe kein Haus, noch nie ein Smartphone oder Mobiltelefon besessen, nutze ein uraltes, oft repariertes Notebook. Alten Kram zu reparieren, statt neu zu kaufen, lässt sich lernen.

Was heißt das konkret?

Es bedarf geeigneter Lernorte, Netzwerke und Projekte, um moderne Praktiken der Selbstversorgung einzuüben und zur Normalität werden zu lassen. Reparieren, bis der Arzt kommt, wäre die Königsdisziplin. In Oldenburg wird zu diesem Zweck ein Ressourcenzentrum aufgebaut. Dort können Typen wie Sie und ich lernen, Dinge wieder flottzumachen. Ein ebenso wichtiges Prinzip ist die Gemeinschaftsnutzung.

Wann soll man das alles schaffen ­neben der normalen Arbeit?

Ein Rückbau der Industrie setzt ­eine 20-Stunden-Woche voraus, um Arbeitslosigkeit zu vermeiden. Die 20 freigestellten Stunden wären für ergänzende Selbstversorgung verfügbar. Wenn sich fünf Leute ein Auto, eine Waschmaschine, einen Rasenmäher teilen – wie viel weniger Geld benötigen sie dann? Also kommen sie mit weniger Arbeitszeit aus, folglich kann die Wirtschaft kleiner werden.

Lesen Sie hier: Warum weniger Fleischkonsum im Kampf gegen Hunger hilft

Wie begeistern Sie Menschen dafür?

Ich kann nur ermutigende Argumente liefern. Inzwischen ist beispielsweise die solidarische Landwirtschaft in Deutschland auf 500 Betriebe angewachsen. Und die Stimmung dort ist besser als in Agrarfabriken. Auch in den Repaircafés haben die Leute Spaß, Erfolgserlebnisse und tolle Begegnungen. Es gibt viele andere Beispiele für postwachstumstaugliche Versorgungsformen, die sich ­ausbreiten, weil Menschen dadurch spüren, dass sie nicht hilflos sind, sondern der ­Krise etwas entgegensetzen. So entsteht ­eine suffiziente Normalität.

Suffizienz?

Das ist ein Synonym für die Wende zum Weniger, die nicht bei Grundbedürfnissen, sondern beim Luxus ansetzt. So verbindet sich die Be­freiung von nervigem Überfluss mit ökologischer Verantwortung. Wie oft muss sich das Desaster im Ahrtal wiederholen, damit die Angst vor der Katastrophe größer ist als davor, ­ ohne Flugreise und SUV zu leben?

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Demut und Einschränkungen sind out und verpönt.
Jeder (m/w/d) muss doch in die letzten Winkel der Welt hinaus, um seine "Selfies" zu untermauern.
Ich möchte dazu nur anmerken, dass ein Flugzeug, das gerade erst gestartet ist nach 295 Kilometern bereits ca. 11 Tonnen CO2 in die Luft "geblasen" hat. Ich weiß das deshalb so genau, weil ich mit meiner kleinen bescheidenen Solaranlage mit 16 Modulen über vier Jahre
gebraucht habe, um eben diese Menge an Kohlendioxid einzusparen ...

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Sehr geehrte Damen und Herren,

wie wahr, von allem weniger würde uns in dieser Überflussgesellschaft sehr gut tun - und dem Planeten sowieso. Ich bewundere Herrn Paech für seinen bescheidenen Lebensstil und finde, da könnten wir uns alle ein Beispiel nehmen.
Was sehr verunglückt ist, die Werbeanzeige auf der gegenüberliegenden Seite - ausgerechnet für Kreuzfahrten - die mit am unweltschädlichste Art zu reisen.
Nicht nur die Weltmeere werden extrem belastet, die Orte auf die die Passagiere jeweils für ein paar Stunden "losgelassen" werden leiden unter Touristenströmen, die kaum Geld da lassen (bei rundum Versorgung auf den Schiffen), sondern lediglich ihren Müll.

Mir ist klar, dass Sie über Werbeeinahmen die Zeitschrift finanzieren müssen, aber vielleicht können Sie mehr darauf achten, mit welchen Firmen Sie zusammenarbeiten - es gibt viele Unternehmen in allen Sparten, die ethischer, nachhaltiger, fairer, biologischer etc. produzieren, bzw. Dienstleistungen erbringen.

Mit freundlichen Grüßen,

Tatjana Lisson

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"Die klimafreundlichsten Häuser,Flugreisen und Autos sind die, die vermieden werden" sagt der Ökonom und Professor Niko Paech. Recht hat er. Nur wissen unsere Bürgermeister nicht mehr, wo sie die Flüchtlinge und Migranten unterbringen sollen. Welchen Vorschlag hat dieser gute Mensch?
Nach Herrn Paech wäre es logisch, die Explosion der Weltbevölkerung zu thematisieren. Der Bedarf an Wohnungen, Autos und Flugreisen und überhaupt alle Umweltschäden würden ohne den Menschen rapide abnehmen.
Ferner möchte ich bemerken, dass Chrismon auf der nächsten Seite für eine unvergessliche 16-tägige Schiffsreise zum Nordkap Werbung macht. Welch ein Widerspruch!
Dr. Robert Fischer