Tony Fischer ist Siebdrucker und Sonderpädagoge. Zwei Berufe, die in ganz Deutschland gesucht werden. "Ich könnte überall leben und arbeiten. Aber ich bin in Zwickau geblieben. Es kann ja nicht sein, dass alle Guten einfach abhauen." Tony ist hier aufgewachsen, mit seinen Eltern zur Kirche gegangen, später allein in die Junge Gemeinde. Das sei der einzige Ort gewesen, an dem man als Jugendlicher diskutieren, Musik hören und einfach sein konnte.
Irgendwann fand Tony Skateboardfahren cool – womit dann alles losging. "Politisch war ich nicht. Dennoch wurden wir Skateboarder von den Rechten angegriffen, nur weil wir nicht waren wie sie. Das hat mich politisiert." Nach dem Skateboard griff er zur Gitarre, gründete mit zwei Freunden eine Punk-Band, Übungsraum war der Keller der Eltern.
An einem Samstagnachmittag steht Tony, 31 Jahre, in seinem kleinen Laden in der Innenstadt von Zwickau. Er trägt ein Basecap auf dem Kopf, eine Brille auf der Nase und einen Ohrring im linken Ohr. Der erste Eindruck: ein netter Kerl, der keiner Fliege etwas zuleide tun könnte.
Sophie Kirchner
Karl Grünberg
Stattdessen wird ihm Leid zugefügt. Drei Mal schon warfen sie die Scheiben ein. Autoreifen zerstochen. Hakenkreuze auf seinem Briefkasten. Er zeigt Fotos auf seinem Handy. Die rechte Szene hat Tony im Visier. Es gibt Videos im Netz, da stehen Neonazis vor seinem Laden, vor seiner Wohnung und tönen, dass sie ihn gerne angetroffen hätten. Tony redet immer schneller und schneller, ist kaum noch zu verstehen. Bedrohungen, Einschüchterungen, Alltagsterror – das geht nicht spurlos an ihm vorbei. Dem sächsischen Verein Opferperspektive zufolge sind die Rechten in Zwickau besonders aktiv.
Warum ist Tony den Rechten ein Dorn im Auge?
Tony lacht. Er dreht sich im Kreis und zeigt auf die Siebdruckmaschine, wo Menschen ihre T-Shirts bedrucken können. Er zeigt auf die Boxen mit Platten und Kassetten mit Punkmusik, auf die Skateboards an den Wänden und die Sprühdosen in den Ecken. Er zeigt auf die Couchecke. "Mein Laden ist ein Ort, wo die Leute einfach hinkommen können. Egal, ob sie jung oder alt sind, welche Musik sie hören." Eine Anlaufstelle in der Stadt möchte Tony Fischer sein, ohne Vorurteile und Bedrohung, so wie er sie erfahren hat, als er als Jugendlicher einfach nur Skateboard fahren wollte.
Lesen Sie hier: Juristische Hilfe im Kampf gegen Rechte
Außerdem organisiert Tony eine kleine Konzerthalle mit, wo Bands für wenig Geld auftreten, und jeden Sommer ein mehrtägiges Musikfestival. Er hat ein kleines Tonstudio eingerichtet, wo Leute ihre eigenen Sachen aufnehmen können. Geld verdient er damit nicht. Warum tut er all das? "Zwickau soll ein Ort werden, an dem die Leute gern bleiben, weil hier etwas passiert, weil es Kultur gibt."
Doch manchmal fühle es sich wie ein Kampf an, den er Generation für Generation immer wieder verliert. "All die klugen Leute gehen nach der Ausbildung oder dem Abitur", sagt er. Er selbst war für seine Ausbildung nach Leipzig gezogen. Doch dort habe es so viel zu erleben gegeben, dass die Menschen ihm gelangweilt vorkamen. Also ist er in seine Heimatstadt zurück und möchte hierbleiben. Das einzige Problem: Die, die gehen, sind vor allem die Frauen. "Ich möchte eine Familie gründen. Finde aber niemanden in meinem Alter, mit dem das möglich wäre." Vielleicht muss er doch noch fort?
Wenn Leon in seinen Heimatort zurückkehrt, um seine Mutter und seine kleine Schwester zu besuchen, macht er sich hart wie ein Panzer. Kein Spruch, kein Blick soll seine Hülle aus Stahl durchdringen. Mehr noch, wenn ihn jemand anmacht, schießt er zurück. Das war schon immer so. "Ich sage immer, was ich denke. Auch wenn das Leute vor den Kopf stößt. Auch wenn ich mich dann prügeln muss." Und prügeln musste er sich öfter.
Irgendwann hat es seiner Mutter gereicht, und sie ist mit Leon zusammen rausgegangen, beide geschminkt, beide mit hocherhobenem Kopf. Da haben die Leute geschaut, aber keiner hat was gesagt.
Das Erste, was an Leon auffällt, sind die langen, schwarzen Wimpern. Verlängerungen, die er sich aufs Augenlid klebt, wenn er sich in den schönen Leon verwandelt. Das Zweite sind seine langen, eleganten Fingernägel. Die einen weiß, die anderen pink, manche glitzernd, wieder andere mit winzigen bunten Schmucksteinen beklebt. Seine Lippen sind voll und geschminkt. "Du bist so schön", schreiben ihm Follower auf seinem Instagram-Kanal.
Für die einen ist er schön, für andere im sächsischen Zwickau ist er eine wandelnde Provokation. Man könnte sich Leon gut in Berlin oder Köln vorstellen. Da wäre er ein Paradiesvogel unter vielen. Aber Leon möchte nicht weg. Mehr noch, er baut sich hier eine Zukunft auf. "Irgendwie gehöre ich doch hierher", sagt er. Leise, aber mit Trotz in der Stimme.
Lesen Sie hier: Wie ein Polylux-Netzwerk antifaschistische Initiativen im Osten unterstützt
Erst hat Leon Hotelkaufmann gelernt, dann hat er Qualitätssicherung für VW gemacht, schließlich bei Kik gearbeitet. Eigentlich hatte er davon geträumt, mit diesen bunten, langen, spitzen Fingernägeln sein Geld zu verdienen. Nageldesign. "Da muss man ein gutes Auge für haben", sagt er. Und seine Kunden lesen können. Nicht alle wissen, was sie wirklich wollen. Leon weiß, was er will.
Leon wohnt mit seinem Partner am Rande der 90 000-Einwohner-Stadt. Seit mehr als einem Jahr sind sie zusammen, im Oktober wollen sie heiraten. Jetzt sitzen sie auf dem Sofa im Wohnzimmer, stumm läuft der Fernseher, ein Hund zu ihren Füßen, eine Katze läuft über die Lehne. Leon und sein Partner halten Hände. Über eine Datingseite haben sie sich kennengelernt. "Erst dachte ich, er möchte nur Sex. Doch er hat einfach nicht lockergelassen", sagt Leon. Nun wollen sie ihr Leben teilen.
Einen Plan haben, sein Ziel verfolgen, nicht aufgeben
Dann führt Leon in den ersten Stock. Hier hat er sein Studio eingerichtet. "Meine Welt", wie er sagt, mit einem leisen Staunen in der Stimme, dass sein Traum nun doch wahr geworden ist. Ein Tisch, hinter dem sitzt er. Ein Kissen, auf das die Kund*innen ihre Finger betten. Eine Lampe, die er auf das Kissen richtet. Ein Fingernageltrockner, in dem das Kunstwerk vollendet wird. Noch lädt er seine Kunden hierher ein, bald will er ein eigenes Nagelstudio eröffnen. Seine Hände fliegen durch die Luft, seine Augen strahlen, während er berichtet, wie schön und elegant das Studio werden soll. Einen Mietvertrag hätte er schon unterschrieben.
Einen Plan haben, sein Ziel verfolgen, nicht aufgeben, das trägt Leon wie ein Mantra vor, immer wieder und wieder. Auch im Gegensatz zu seinen Klassenkameraden, von denen viele Alkohol trinken, Drogen nehmen und von Sozialleistungen leben würden, wie er sagt. Aber auch, weil sein Leben bisher alles andere als einfach war. Viele Jahre hat er in einem Heim gelebt, weil er nach der Trennung der Eltern kein einfaches Kind gewesen sei, mit vielen Wutanfällen. Jetzt, nach vielen Therapiestunden sei alles besser, jetzt hat er ein Ziel.
Das letzte Video auf Tiktok zeigt ihn vor einer Tafel, darauf ein Wappen, darin ein L wie Leon und darunter seine Marke: Leonails. Davor steht er und singt zu dem Song von Alex Eder: Du bist bereit, du wirst es allen hier zeigen. Du hast so lang gewartet, doch jetzt kommt deine Zeit.
Bruno begrüßt seine Kumpel so: Der erste bekommt eine Umarmung, der zweite einen Handshake, der dritte einen Handshake mit Umarmung, beim vierten drückt er Handrücken an Handrücken. Bruno lacht. Bruno erzählt. Die Leute stehen im Kreis um ihn herum, hören zu. Eine angenehme, freundliche Stimme hat er. Leichter sächsischer Akzent – Bruno ist waschechter Sachse.
Erster Eindruck: Man muss diesen schlaksigen Kerl mit den vielen Tattoos auf Armen, Händen, Beinen einfach mögen. Das ist für Bruno nicht nur ein Glücksfall, sondern war lange überlebenswichtig. Denn sein Vater ist Mosambikaner, kein waschechter Sachse. Ende der 1970er kam er in die DDR, um hier seine Ausbildung zu machen, zu studieren, zu arbeiten. "Tiefschwarz war mein Vater", sagt Bruno und zeigt auf seine Haut. "Ich bin eher so hellbraun."
An diesem frühsommerlichen Samstag steht Bruno auf einer Wiese und dreht sich einmal im Kreis. "Da hinten wird getanzt, hier kann man sitzen, da habe ich meine Bar, dahinten bauen wir Gemüse an, und an die Mauern können die Leute ihre Graffiti sprühen", sagt er und klingt ein bisschen stolz. Seit drei Jahren ist er hier in der Kunstplantage in Zwickau aktiv. Es gibt Konzerte, Lesungen, Festivals, Kleidertauschmarkt, Lagerfeuer, Billard und Tischtennis. "Ein Ort, an dem man einfach sein kann", sagt Bruno. Er ist für die Bar zuständig, gibt Club-Mate, Wasser oder Radler heraus, kennt die meisten der Gäste mit Namen und Geschichte. Die Kunstplantage ist einer der Gründe, warum er noch in Zwickau ist.
"Es ist verrückt, mir ist nie etwas wirklich Schlimmes passiert"
Bruno
Anfang der 1990er hatte es sein Vater nicht mehr ausgehalten, jeden Tag diese Anfeindungen. Bruno erzählt, wie sein Vater zu seiner Mutter gesagt habe, dass er sie liebe, aber hier nicht mehr leben könne. Wenn er gehen müsse, um glücklich zu werden, dann solle er gehen, habe sie geantwortet. Von da an waren er und seine Mutter allein. Und auch wieder nicht. Denn da waren ja noch all die Nachbarn und die anderen Kinder in der Straße, wie eine große Gemeinschaft, die im selben Betrieb gearbeitet hatte, die sich seit Jahrzehnten kannte.
Bruno spielte mit den älteren Jungs. Er war "ihr Kleiner", auf den sie aufpassten. Wollte jemand "ihrem Kleinen" an den Kragen, beschützten sie ihn. Sie fuhren an den See, gingen in den Jugendklub oder waren auf Ferienfahrt. Doch seine Jungs hörten nun die rechten Musikgruppen Landser und Störkraft, rasierten sich die Haare ab, ließen sich Runen auf die Arme tätowieren. Mitten drin Bruno.
Gleichzeitig merkte er, dass er mit der Einstellung nicht mitgehen wollte. "Dazu hat mich meine Mutter zu gut erzogen, mit ganz viel Liebe."
Lesen Sie hier: Wie eine Genossenschaft in Sachsen die Energiewende vorantreibt
Bruno blieb Bruno, laut, flippig, lustig, in grellen Farben gekleidet, mit den neuesten Turnschuhen an den Füßen. Er versteckte sich nicht, im Gegenteil. Je mehr ihn kannten und wussten, dass er der Bruno aus Zwickau war, ein Sachse so wie all die anderen Sachsen, umso geschützter war er. "Es ist verrückt, mir ist nie etwas wirklich Schlimmes passiert. Nicht so wie den vielen anderen", sagt er heute und klingt dankbar.
Ein Ort, an dem alle tolerant sein müssen, ist ein Ort, an dem man sich begegnet
Immer mehr Leute kommen durch das eiserne Tor in die Kunstplantage, Eltern mit ihren Kindern, ältere Zwickauer, Menschen aus Russland und der Ukraine. Sie sitzen, reden, spielen, aus den Boxen klingt entspannter Reggae-Sound und Bruno ist mittendrin. "Das Wichtigste: keine Politik, keine Parolen, jeder soll sich wohlfühlen", erklärt er. Und auch das ist politisch. Ein Ort, an dem alle tolerant sein müssen, ist ein Ort, an dem man sich begegnet.
Vor knapp zehn Jahren war es fast so weit. Bruno wollte wegziehen, zu grau, zu trist schien die Stadt zu sein, keine Kultur, keine Angebote, die Kunstplantage gab es damals noch nicht. Er hatte gerade seinen Wirtschaftsfachwirt gemacht, hätte überall in Deutschland arbeiten können. Doch er wurde Vater – und auch wenn es mit der Mutter nicht klappte, blieb Bruno. Er wollte für seine Tochter da sein, mit ganz viel Liebe, wollte sie nicht alleinlassen, so wie er alleingelassen worden war.
Bruno wurde Schichtleiter in einem Lagerzentrum für einen Autobauer. Die Teile kommen rein, werden zwischengelagert, um dann exakt zum richtigen Zeitpunkt in der Fabrik zu sein. "Ich mag diese Arbeit sehr. Organisieren, die Leute motivieren, darauf achten, dass alles seine Ordnung hat." Er ist auch keiner, der nur am Schreibtisch hockt, wie er sagt. "Ich setze mich auch auf den Gabelstapler, schwinge den Besen oder gehe auf die Knie und mache den Dreck weg."
Einer seiner Mitarbeiter war ein Glatzkopf, Hass-Runen auf den Händen, Rechtsrockmusik im Ohr. Der habe am Anfang nur grimmig geschaut und mit niemandem geredet. Doch Bruno ist ganz normal auf ihn zugegangen, hat sich mit ihm unterhalten, hat ihn gelobt oder Verbesserung angemahnt. "Ich sehe ja nur sein Äußeres. Ich weiß nicht, was in seinem Inneren los ist. Ob er vielleicht nur den Absprung nicht geschafft hat." Mit der Zeit, erzählt Bruno, fing der Glatzkopf an, zu lächeln und sich auch mit ausländischen Leuten im Team zu unterhalten. Am Ende habe er nur noch zu Bruno in die Schicht gewollt.
Bruno scheint zu wirken.
Florian steht auf der "Seeadler", dem Boot seines Vaters, schaut auf die unruhige Ostsee hinaus und sagt: "Ich bin der Letzte, nach mir kommt keiner mehr." Dann zeigt er auf die Fischerhütten, die hier in dem kleinen Hafen von Mönchgut auf Rügen stehen. Leer. Die anderen haben aufgehört. Land auf, Land ab, in allen Häfen ist es dasselbe. Der Grund: Es gibt kaum noch Fisch.
Florian, 32 Jahre alt, knallorangene Gummistiefel, schwere Arbeitshose, wetterfeste Jacke, will nicht aufhören. Vom Boot schwingt er sich auf die Pier und führt in die Hütte seines Vaters. "Thoms Hütte" steht auf einem Holzschild. Drinnen baumeln präparierte Fische von der Decke. Kisten stehen in der Ecke. Jacken sitzen auf Haken. Schiffsglocken hängen an den Wänden. Fotos über Fotos von Schiffen, von vollen Netzen, von Fischern, von einem kleinen Jungen, der stolz einen großen Fisch in die Kamera hält. "Das bin ich", sagt Florian, grinst erst, lacht dann, hell und giggelnd. Es ist ein einfaches, unkompliziertes Lachen, das häufig aus ihm herausbricht.
Weiter führt er in die Nachbarhütte. Auch hier hängt ein Holzschild: "Flo’s Hütte". So einfach sind die Koordinaten in Florians Welt. In der Hütte baut er sich gerade eine Fischräucherei auf. Hell, sauber, gefliester Boden, blitzender Stahltisch. "Das ist mein Projekt", sagt er stolz.
So viele Tagesanbrüche hat Florian schon gesehen
Stark und kräftig wirkt er, wie er sich immer wieder automatisch breitbeinig hinstellt, die Füße fest auf dem Boden. Wer die meiste Zeit des Tages auf einem schwankenden Schiff steht, sucht automatisch einen sicheren Stand. Florian weiß gar nicht mehr, wann er den Entschluss gefasst hatte, das zu werden, was sein Vater ist. Im Kindergarten vielleicht? Er erinnert sich, wie sein Vater ihn immer wieder mit aufs Meer genommen hat. Wie er so stolz auf diesen riesigen Fisch in seinen Armen war. Wie all die anderen Jungs Polizisten und Feuerwehrmänner werden wollten er aber immer nur Fischer, hier in Mönchgut, an dem Ort, an dem seinen Urgroßeltern schon gelebt haben.
Florians Tag beginnt in der Nacht. Um zwei Uhr steht er auf, um drei ist er am Hafen, um 3.30 Uhr laufen sie aus. So viele Tagesanbrüche hat Florian schon gesehen, mit strahlendem Sonnenaufgang, mit leichtem oder dichtem Nebel, mit Niesel- oder Prasselregen – nie beginnt der Morgen gleich. Mal ist hier ein Stück von der Steilküste abgebrochen oder dort ein Baum umgefallen. Mal sind die Felder gelb, dann wieder stoppelig. So vergehen die Jahreszeiten.
Netze einholen, Netze aufstellen. Jede Fischart, die sie fangen, hat ihre eigenen Netze, das verringert den Beifang. Gerade war der Hering dran. 1,2 Tonnen durften sie aus dem Wasser holen, 2016 waren es noch 120. Flundern, Aale gibt es noch, Hechte und Dorsche kaum noch. So fischen sie sich durch die Monate, von Fischart zu Fischart. Restaurants und Privatkunden kaufen den Fisch weg, sobald die Tiere am Nachmittag entschuppt und ausgenommen sind. Um 17 Uhr ist Feierabend. Im Winter wird nicht gefangen, dann melden sich Florian und sein Vater für ein, zwei Monate arbeitslos.
Während Florian erzählt und herumführt, kommen Nachbarn, Kunden und die Matrosen von der anlegenden Passagierfähre vorbei. Es wird gelacht und geschnackt, über das Wetter, die Fische, die Boote, die Party von gestern, den Bürgermeister. Die Fischerhütte ist kein einsamer Ort. Florian kein wortkarger Fischer. Im Gegenteil.
Nur ein Problem hat Florian. Seine Frau hat das anstrengende Fischerleben ihres Mannes nicht ausgehalten. Sie ist gegangen und hat die Tochter mitgenommen. Vor ein paar Jahren war das. "Wenn ich einen schlechten Tag habe, was im Schiff kaputtgeht, dann diese Gedanken noch dazu kommen, dann tut das schon weh."
Doch er ist sich sicher, dass es das noch nicht war, auch wenn es schwierig ist. Da ist die Liebe, dann das Menschliche, dann das Verständnis für den Alltag. "Es muss einfach passen. Am besten wäre es, wenn sie einfach mitmacht, bei der Fischräucherei zum Beispiel, da könnte sie den Verkauf übernehmen." Er scheint sich das schon gut überlegt zu haben. "Auf jeden Topf passt ein Deckel, und ich werde meinen noch finden."
Klemens steht an der kleinen Mole vom Hafen von Sassnitz. Da ist eine Steinmauer, da ein kleiner Turm und da der Blick aufs Meer. Wenn die Sonne scheint und der Himmel blau ist, treffen sich hier die Jugendlichen. Sie stolzieren auf und ab, albern rum, stehen schüchtern in der Ecke. Andere haben ihre Musikboxen dabei, drehen voll auf und springen immer wieder von der Mauer ins Wasser. Klemens’ Stimme bekommt so einen schwärmerischen Klang, wenn er von diesen Szenen berichtet. Er liebt diesen Ort. Liebt es, wenn die Sonne auf dem Wasser glitzert, wenn er mitten in das Glitzern hechtet, wenn er entspannt in den Tag hineinleben kann.
Sassnitz liegt auf Rügen. Hier fahren die Fähren in Richtung Schweden ab. Von hier aus starten die Wartungscrews der Windkraftanlagen ihre Fahrten aufs Meer. Sobald aber die Saison beginnt, überfallen die Touristen das Städtchen, drängeln sich in den Gassen, am Strand, in den Eisdielen. Klemens findet das toll, endlich was los hier. Er freut sich aber auch über die geheimen Orte, die nur die Sassnitzer Jungs und Mädels kennen: den Kreidefelsensee direkt hinter der Stadt zum Beispiel, hier haben sie ihre Ruhe. "Ja, man kann schon sagen, dass ich Sassnitz einmal durchgespielt habe. Das gibt mir Ruhe. Manchmal möchte ich hier weg, aber das Gefühl ist nie stark genug, um wirklich zu gehen. Einmal war ich in Berlin zum Feiern. So viele Leute, so laut, so hektisch. Nie würde ich da leben wollen."
"Für mich muss ein Mann nicht hart und durchsetzungsfähig sein"
Klemens
Klemens, 25 Jahre, einen stolzen Schnurrbart unter der Nase, hat eine ruhige Art. Bedächtig setzt er ein Wort nach dem anderen zu einem Satz zusammen. Er hat noch nie woanders als in Sassnitz gewohnt. Als Kind lebte er mit seinen Eltern in einer der Neubausiedlungen am Rand der Stadt. Da klingelten die anderen Kinder unten an der Tür, fragten durch die Gegensprechanlage, ob der Klemens runterkommen könnte?
Seine Grundschule hieß Ostseeblick, seine Lehrerin prophezeite ihm eine dunkle Zukunft, wenn er weiterhin so zappelig sei und weiterhin auf seiner eigenen Meinung beharre. Doch seine Eltern standen hinter ihm. "Sie haben mir Empathie und Menschlichkeit beigebracht. Mobbing an der Schule geht gar nicht, da habe ich nie mitgemacht", sagt Klemens.
Wenn Klemens seine Kumpels besuchte, hörte er, wie die anderen Väter über ihre Frauen sprachen: "‚Die Olle‘, haben sie gesagt oder ihre Frauen angeherrscht." Klemens’ Vater war überhaupt nicht so, der weinte sogar vor seinem Sohn, wenn ihn etwas bedrückte. "Das hat bestimmt etwas mit meinem Männlichkeitsbild gemacht. Für mich muss ein Mann nicht hart und durchsetzungsfähig sein."
Heute hat Klemens eine eigene kleine Wohnung direkt auf der Hauptstraße. Von hier aus geht er zur Arbeit, je nach Schicht, morgens, nachmittags oder abends, auch am Wochenende oder am Sonntag. Klemens ist Hafenlogistiker. Er fängt die dicken Taue auf, die ihm von den Schiffen heruntergeworfen werden. Er navigiert die Passagiere, die Autos, die Lkws an oder von Bord. Er kümmert sich darum, dass die Ladung in den Hafen gefahren wird. "Der Job ist okay", sagt er. Seine Jungs sind aber die wahre Freude. Eine eingeschworene Gruppe von ganz unterschiedlichen Männern, manche Deutsche, andere nicht, alles kein Problem. Zum Job ist er eher zufällig gekommen. Er rief an, weil er sich für eine Ausbildung als Bürokaufmann bewerben wollte. "War aber schon besetzt. Hafenlogistiker sei aber noch frei."
Die Überschaubarkeit seines Lebens gibt Klemens Kraft. "Vor allem wenn in der Welt so viel los ist. Krieg, Klimakrise", sagt er. Ob er hier jemals weg möchte? Wenn seine Freundin das möchte, vielleicht. Aber nicht weit, Rostock wäre eine Option, da werden auch Hafenlogistiker gebraucht.
Eine erste Version dieses Textes erschien am 07.08.2023.
Vom Gehen und Bleiben
Von 1991 bis 2021 wanderten rund 1,2 Millionen Menschen mehr von Ost nach West als umgekehrt, etwa die Hälfte davon in den ersten zehn Jahren nach der Wiedervereinigung. Neuerdings sehen die Zahlen etwas anders aus: 2021 zogen 85 100 Menschen von Ost nach West – und 90 656 von West- nach Ostdeutschland. (Zahlen vom Statistischen Bundesamt). Der Männerüberschuss in Ostdeutschland ist heute deutlich ausgeprägter als 1990. In einigen Regionen leben 25 Prozent mehr junge Männer als junge Frauen.
Lieber Herr Grünberg,
Lieber Herr Grünberg,
Ihren Ausführungen über die Hiergebliebenen im Osten kann man gut folgen. Ich verstehe sie. Sassnitz auf Rügen zum Beispiel, habe ich 1991 und 2018 besucht. 1991 mit einem Freund per Fahrrad von Süd bis Nord. Fasziniert von der Natur und erschreckt über den Verfall. . Sassnitz schien ein aufgegebener Ort ohne Zukunft. Die stolze Fischfangflotte der DDR war abgezogen, ebenso die Volksmarine. Von Beidem lebte Sassnitz . Mit Müh und Not fanden wir mal ein passables Restaurant. Beim zweiten Mal 2018 also 27 Jahre später logierten meine Frau und ich an der Hauptstraße in Sassnitz in einem feinen Kurhotel, das vormals ein Seemannsheim gewesen war. Nichts erinnerte an Behelf und DDR Muff. Sassnitz war neu erblüht. Kaum vergleichbar mit dem grauen Fischereistädtchen von 1991. Freundliche Leute, nette Läden, nicht überfüllte Küste. Uns gefiel es auf Anhieb. An Komfort fehlte nichts. Wir schauten überall hinein. Sassnitz,wie auch die Insel Rügen, hatten sich neu erfunden. Kein Hypertourismus wie an vielen Stellen der Nordsee und des Mittelmeeres. Die Ruhe,die unberührte Natur sowie die Gelassenheit der Bewohner gefiel uns. So wie Klemens, dem Protagonisten, in Ihrer Geschichte. Bei unseren Wanderungen über den Hochuferweg zum Königsstuhl begegneten uns zuweilen Familien aus Bayern und Österreich , die ihrer Heimat entflohen waren, um in Rügen Ruhe zu finden.. Das hätte Ihren Sassnitzer Klemens bestätigt. Wir können ihn voll verstehen. Es gibt viele Gründe, den Osten zu lieben. Besonders aber Rügen. Danke für Ihren Beitrag.
Mit freundlichen Grüßen
Hans-Jürgen und Gabriele Lieber
- Anmelden, um Kommentare verfassen zu können
Sehr geehrter Herr Grünberg!
Sehr geehrter Herr Grünberg!
Es ist für die ev. Kirche symptomatisch, dass Sie die Rechten thematisieren, wohingegen Sie Linke, etwa die vermummten Schlägertrupps von Leipzig-Connewitz, ausklammern.
Viele Grüße
Hanns Schneider
- Anmelden, um Kommentare verfassen zu können