Bundesjugendspiele
Teilnehmerurkunde, ade?
Wettkampf oder nur kindlicher Wettbewerb - wie Bundesjugendspiele an Grundschulen aussehen sollen, ist immer wieder umstritten. Fünf persönliche Geschichten aus der chrismon-Redaktion von Erfolgen, Misserfolgen und großen Erkenntnissen
Schüler beim Schulsport - Bundesjugendspiele. Es sind nur die Beine und die Schatten der Kinder zu sehen
Die Bundesjugendspiele: schlimm oder schön?
Thomas Imo / photothek / picture alliance
Tim Wegner
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Carsten Selak
Tim Wegner
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Aktualisiert am 07.06.2024
5Min

Katharina Müller-Güldemeister kämpft für eine Ehrenurkunde

Auf die Plätze, fertig, peng! Schon in der Startposition klopfte mein Herz, ich stieß mich mit meinen dünnen Beinen ab und raste los. Der Rest der Klasse stand neben der Tartanbahn und schrie: "Zieh, zieh, zieh!" Die ersten Meter konnte ich noch mithalten, dann wurde der Abstand größer und als meine Mitschülerin nach 50 Metern die Ziellinie erreichte und sich vor Seitenstechen krümmte, hatte ich noch einige Meter zu rennen. Ich hasste das Zweiter-Sein, vor allem, wenn alle zuguckten. Immerhin wurde ich nicht noch geärgert.

Weitsprung mochte ich lieber. Da zählte bei den Bundesjugendspielen von drei Versuchen der beste. Die Leistungen der anderen spornten mich an, aber vor allem sprang ich mit mir selbst um die Wette. 2 Meter und 24 Zentimeter maß meine Sportlehrerin einmal. Der Frauen-Weltrekord lag damals bei rund fünf Metern mehr. Für mich war das schon Fliegen.

Einmal allerdings verfehlte ich knapp die Siegerurkunde und die Teilnahmeurkunde machte meine Niederlage noch größer. Dann erfuhr ich, dass man durch eine gute Zeit beim 2000-Meter-Lauf zusätzliche Punkte holen kann und schloss mich meiner Mutter und unserer Nachbarin beim Joggen an. Ein Jahr später erlief ich mir eine Ehrenurkunde und gebe zu: Ich bin immer noch stolz auf sie.

Marta Thor entdeckt den Ehrgeiz

Meine früheste Erinnerung an die Bundesjugendspiele ist Anfang der 1990er Jahre. Als Kind deutsch-polnischer Einwanderer war ich denkbar schlecht auf diesen Tag vorbereitet. Meinen Eltern war die Institution der Bundesjugendspiele weitgehend unbekannt. Die Klassenlehrerin sagte nur, an diesem Tag gibt es keinen Unterricht, aber wir sollten Sportsachen mitbringen. Es war brüllend heiß auf dem Sportplatz. Zum Glück mochte ich Sport und Leichtathletik ganz besonders. Ich kletterte viel und lief ständig herum, so dass mir die sportlichen Herausforderungen leichtfielen. In diesem Sommer entdeckte ich aber erstmals in meinem Leben ein neues Gefühl: den Ehrgeiz. Nur um einen Hauch verpasste ich die Ehrenurkunde. Das wurmte mich total. Bei späteren Wettkämpfen entflammte dieser Ehrgeiz dann nur noch beim 50-Meter-Sprint. Die Ehrenurkunde geriet in Vergessenheit. Mittlerweile bedeuteten Bundesjugendspiele nämlich nur noch eines: kein Matheunterricht!

Claudius Grigat macht seine eigenen Regeln

Wie habe ich sie gehasst: die Bundesjugendspiele! An meiner Schule fanden sie sogar zweimal im Jahr statt: im Winter in Turndisziplinen (wie tat das weh, mit dem Allerwertesten auf den Barren zu knallen!) und im Sommer in den Leichtathletik-Varianten (wie dunkelrot mein Gesicht werden konnte!). Aber: Es gab keine Wahl. Nicht, ob man überhaupt mitmachen wollte – und auch nicht, worin man sich messen wollte. Im Sommer zum Beispiel: nicht Hochsprung oder Langstrecke, nicht Kugel oder Diskus, immer nur Weitsprung, Weitwurf und Sprint. Und immer ging es nur um Leistung: besser sein als die anderen in der Klasse. Besser sein als die aus der anderen Klasse. Besser sein als die, die letztes Jahr in meinem Alter waren. Und natürlich besser sein als die bundesweiten Vorgaben.

Zwar hat es aufgrund meiner Wurfleistungen hin und wieder zu einer Siegerurkunde gereicht. Aber Spaß hat es mir trotzdem nie gemacht. Ich fand die auf die Spitze getriebene Form des Leistungsprinzips einfach nur doof.

Bei meinen letzten Spielen, im Sommer der Jahrgangsstufe 10, machte ich dann meine eigenen Regeln: Als das Startkommando über die Tartanbahn schallte, lief ich zwar los. Nach der Hälfte der Strecke verlangsamte ich aber ins Gehen und schlenderte schließlich Richtung Ziellinie. So konnte ich die Aussicht auf die feixenden Leute links und rechts der Laufstrecke genießen. Und erst das Gesicht der Lehrerin, die mit ihrer Stoppuhr auf mich wartete. Diese weit aufgerissenen Augen, als ich sie bat, meine "Rekordzeit" ruhig zu notieren!

Heute wünsche ich mir manchmal, ich wäre auf der Schule gewesen, in der meine Frau als Lehrerin arbeitet: Dort denkt sich die Schulgemeinde jedes Jahr für die Bundesjugendspiele andere Disziplinen aus, die dann mit viel Freude angegangen werden: Gummistiefelweitwurf, Kartoffellauf, Rückwärtsgehen, Wasserrutschen …

Sabine Oberpriller lernt, worauf es im Leben ankommt

Ich war eine glückliche Erstklässlerin: Der Lernstoff flog mir zu und ich platzte vor Selbstvertrauen. Dann kamen die Bundesjugendspiele und – Skandal – ich erhielt nur eine Siegerurkunde! Ganz oben stand meine beste Freundin mit Medaille und Ehrenurkunde. Was zerfraß mich die Wut, der Neid, ein bisschen auch die Scham. Es war vielleicht einer der ersten Momente, in denen ich entdeckte, dass ich nicht alles kann.

Zu Hause konnten auch Trostguttis meine Laune nicht bessern, denn meine Mutter fand das Ganze überhaupt nicht so skandalös wie ich. Ich verkroch mich bockig, was meine Freundin traurig machte. Meine Großmutter holte mich aus meiner Umnachtung mit ihren etwas umständlichen Worten, die ihre Botschaft aber nie verfehlen. In diesem Fall: Was bist du denn für eine, die sich nicht mit ihrer liebsten Freundin mitfreut!

Auf der weiterführenden Schule zählte: Hauptsache keine Abfragen. Uns wurde bewusst, dass wir uns nicht nur untereinander maßen, sondern auch mit vorgegebenen Bestwerten – die fast niemand erreichte. Aber ob ich noch im Sieger- oder schon im Teilnehmerurkundenbereich war? Keine Ahnung. Es gab keine Preisverleihung, keine Urkunden und für die Note zählte es auch nicht. Die Spiele waren im Prinzip schon so entzahnt, wie diverse Eltern sich das nun wünschen.

Ich finde die Art der Leistungsbewertung in Schulen insgesamt diskutabel. Und doch weiß ich auch von Kindern und Sportlern, wie beflügelnd und kameradschaftlich Wettkampf sein kann, wie schön es ist, gemeinsam das Beste aus sich herauszuholen. An Leistung und an Charakter. Und das ist es doch, worauf es im Leben ankommt! Die Frage ist nur, ob Schule und Gesellschaft diese Werte aktuell adäquat vermitteln. Und ich? Platze heute vor Stolz für meine beste Freundin und ihre tollen Fähigkeiten!

Dorothea Heintze ist heute versöhnt

Ich war eigentlich ganz gut im Sport – und ich mochte auch Wettkämpfe. Mit der Mädchen-Volleyballmannschaft waren wir dreimal Hamburger Meister. Super. Aber die Bundesjugendspiele bedeuteten: laufen, springen, werfen. Furchtbar. Ich war fast immer ganz hinten und bekam dann so eine bescheuerte "Du-hast-aber-fein-mitgemacht"-Medaille.

Neulich radelte ich morgens an Sportplätzen vorbei. Da fanden gerade große Wettkämpfe statt. Ich sah Kinder laufen, springen, werfen und fühlte mich sofort zurückversetzt. Doch mit dem Blick von heute war das nicht mehr schlimm. Einiges konnte ich eben gut, anderes nicht. Das auch körperlich zu erfahren, war als Kind schmerzhaft; für mein Leben aber wertvoll. Von mir aus also: Bitte erhalten und gern die Palette der Wettkampfarten weiter aufziehen.

Hinweis: Eine erste Version dieses Textes erschien am 07.07.2023