In welchen Momenten fühlen Sie sich lebendig?
Wenn ich mich ausprobiere und meine Grenzen auslote. Nach und nach merke ich, was geht und was nicht. Was vor dem Unfall selbstverständlich war, muss ich mir nun hart erkämpfen. Ich kann mittlerweile alleine Auto fahren und mich mit einer Freundin in der Stadt treffen. Ich fange ein neues Leben an und kundschafte mich aus: Wer bin ich außerhalb des Sports? Worauf habe ich Lust? Was ist jetzt der Sinn? Ich würde gern Mama werden. Bevor ich allerdings die Verantwortung für jemanden so wichtigen wie ein Kind trage, möchte ich mich selbst im Rollstuhl kennenlernen.
Haben Sie eine Vorstellung von Gott?
Meine Mutter hat immer gesagt: "Gott gibt einem nur so viele Aufgaben, wie man seiner Ansicht nach schaffen kann." Das hat mir in den schwierigen Momenten meines Lebens sehr viel Kraft gegeben. Aber ich persönlich glaube nicht an Gott. Vielleicht ist manches für uns geplant. Dann war vielleicht dieser Unfall mein Schicksal. Und als ich 2009 den ersten schweren Unfall hatte, hat der da oben vielleicht gesagt: "Ich gebe dir noch ein paar Jahre, du hast noch eine Aufgabe." Vielleicht habe ich die erfüllt, und jetzt habe ich eine andere. Es ist sicher schön, wenn man an Gott glaubt: Dann könnte ich mehr darauf vertrauen, dass sich manches so regelt. Das gäbe mir in mancher Stunde mehr Zuversicht, ich bin oft recht pessimistisch.
Muss ich den Tod fürchten?
Ich glaube, danach ist alles vorbei – und ja, davor habe ich Angst. Der Unfall hat meine Einstellung zum Tod nicht verändert, eher die zum Leben. Ich habe mir fest vorgenommen, mehr an mich zu denken, weil ich noch mehr auf meinen Körper achten muss. Aber ich kann schon wieder schlecht Nein sagen, versuche, anderen gerecht zu werden.
Kristina Vogel
Dirk von Nayhauß
Wer oder was hilft in der Krise?
Die Familie, die Freunde, bei denen habe ich immer Rückhalt. Im Krankenhaus haben sie mich nie alleingelassen, in den ersten zwei, drei Wochen hat Michael an meinem Bett geschlafen. Das gab mir extremste Zuversicht. Ich weiß, dass ich mit ihm alles schaffen kann. Natürlich gibt es Momente, in denen mich alles nervt und ich gern gegen was treten möchte – aber ha, geht ja nicht. Es ist schön, dass ich mein Selbstmitleid, meine Frustration mit ihnen teilen kann, und es ist schön, dass sie mich rausziehen. Und wenn ich mal nicht weiterkomme, ist da jemand, der mich trägt. Wut empfinde ich nicht. Was soll ich mich über Sachen ärgern, die ich nicht ändern kann? Je länger ich mich bedauere, desto länger bin ich darin gefangen. Je schneller ich das begreife, desto schneller kann es losgehen mit dem neuen Leben.
"Mit 28 war ich zum ersten Mal auf einem Konzert"
Wie wäre ein Leben ohne Disziplin?
Schlecht, dann wären wir wahrscheinlich alle dick und fett und würden aussterben. Machen ist wie wollen, nur krasser – dieser Satz begleitet mich schon lange. Disziplin hat auch negative Seiten. Vieles, was Leute in meinem Alter so tun, habe ich nicht erlebt. Im Dezember war ich zum ersten Mal auf einem Konzert, bei Clueso. Mit 28! Entweder hat es nicht ins Training gepasst, oder ich hatte Angst, mich in den Menschenmassen anzustecken. Zurzeit möchte ich nicht in den Leistungssport zurück. Ich müsste auch erst einmal eine Sportart finden, für die ich bereit wäre, wieder so viel aufzuopfern. Momentan bin ich froh, nicht mehr zu müssen. Wenn ich im Kraftraum eine Übung mit nur zwei Scheiben mache anstatt drei, ist es okay.
Welche Liebe macht Sie glücklich?
Familie, Freunde, Michael: Von ihnen werde ich geliebt, wie ich bin. Sie fangen mich auf. Und verzeihen mir, wenn ich Fehler gemacht habe – das gehört auch dazu.
Welchen Traum möchten Sie sich unbedingt erfüllen?
Wenn ich sterbe, würde ich gern auf ein glückliches Leben zurückschauen. Ich möchte an jedem Tag gelacht haben. In meiner Vorstellung sitze ich auf meiner Veranda und blicke in den Sonnenuntergang. Ich würde gern einschlafen in dem Gefühl: Ich habe der Welt etwas zurückgegeben, für mich alles richtig gemacht. Klar gibt es immer etwas, das man bedauert, aber Chancen kommen immer wieder. Es gab Fehler und Tiefen, doch insgesamt habe ich gemacht, was ich mir gewünscht habe. Die letzten 18 Jahre waren komplett ausgefüllt mit Radsport, und da war ich schon ein bisschen erfolgreich.