"Hey Siri", sagt Uwe Schneider. "Haustür auf!" Siri kriegt das hin, und die Tür öffnet sich automatisch. Für den 63-jährigen Hessen ist das keine technische Spielerei, sondern eine große Erleichterung. Schneider sitzt seit über 40 Jahren im Rollstuhl und kann unterhalb des Halses nur seinen rechten Arm bewegen. Er lebt im integrativen Wohnpark des Selbsthilfevereins Erlensee nahe Hanau und steuert den Zugang zu seiner Wohnung und viele Geräte darin mit Künstlicher Intelligenz. Das Smartphone, das er für die Steuerung braucht, hängt in einem braunen Ledertäschchen an der Armlehne von Schneiders elektrischem Rollstuhl.
Schneider rollt ins Haus und fährt mit dem Aufzug in den zweiten Stock zu seiner Wohnung. "Hey Siri", sagt er wieder, "Wohnungstür auf!" Schneider hat eine moderne Küche mit roten Schrankfronten, im Wohnzimmer stehen eine Ledercouch, ein Glastisch und ein Schreibtisch mit einem iMac. An den Wänden Vitrinen mit Modelleisenbahnen. Vom Bett im Schlafzimmer führt eine Schiene an der Decke für einen Lift direkt ins Bad.
"Der Nutzen ist für mich enorm" - Uwe Schneider
1977 hatte Schneider einen Unfall. Er fuhr mit Freunden im Auto durch den Vogelsberg, saß auf dem Beifahrersitz. Der Wagen kam von der Straße ab und knallte gegen einen Baum. Seine Begleiter waren leicht verletzt, Schneider ist seitdem hochgradig querschnittsgelähmt. 1983 wurde er Mitglied im Selbsthilfeverein Erlensee, der das Ziel verfolgt, Menschen mit Behinderung ein eigenständigeres Leben zu ermöglichen. Seit 2001 ist er Vorsitzender. Unter seiner Ägide wurden auf dem Gelände des Vereins zwei neue Häuser gebaut. Mittlerweile bietet der Wohnpark 85 barrierefreie Wohnungen an: für behinderte Menschen, alte Menschen und für Familien mit geringem Einkommen. 2005 zog Schneider selbst als Mieter ein. Für seinen ehrenamtlichen Einsatz bekam er das Bundesverdienstkreuz verliehen. "Das hätte ich ohne meine Familie und die technischen Möglichkeiten alles nie erreichen können", sagt er.
Zino Peterek
Früher musste Schneider für jede Kleinigkeit, die er nicht selbst erledigen konnte, einen Pfleger oder ein Familienmitglied fragen. Jetzt kann er vieles allein: das Licht anschalten, die Klimaanlage regulieren, Radio hören und Fernsehen: "Hey Siri, Fernseher einschalten!", ruft Schneider. "Ich schalte deinen Fernseher im Schlafzimmer ein", antwortet die Stimme aus dem Smartphone. Der Fernseher ist so über Schneiders Bett an die Decke montiert, dass er im Liegen gucken kann. Jetzt spricht Schneider direkt mit dem TV: "Hi LG, Netflix einschalten", "okay, ich schalte zu Netflix", antwortet der Fernseher. "Hi LG, spiele ‚Körper in Flammen‘ ab." Auch Onlinebanking und Mails erledigt Schneider via Sprachsteuerung.
"Der Nutzen ist für mich enorm", sagt Schneider. Die Sprachsteuerung zu installieren war relativ einfach und günstig. Für Türen mit Gegensprechanlage brauchte er nur einen funkfähigen Adapter. Ebenso an Fernseher und Radio. Für Lampen nutzt er zwischengeschaltete Adapter an den Steckdosen. In einem Kästchen auf dem Küchenschrank befindet sich ein Modul, in dem alles zusammenläuft. Die wichtigste Voraussetzung ist ein Smartphone. Seit etwa zehn Jahren baut Schneider seine Wohnung sukzessive zum Smarthome aus. "Erst habe ich mich gegen den neumodischen Kram gesperrt", sagt er, "aber es bringt wirklich mehr Lebensqualität."
Spätestens seit ChatGPT Ende 2022 öffentlich bekannt wurde, ist Künstliche Intelligenz im Alltag vieler Menschen angekommen. Sie lassen sich Rezepte suchen, lustige Bilder basteln oder Texte schreiben. Menschen mit Behinderung versprechen sich von KI noch viel mehr: echte Teilhabe, erleichterten Zugang zum Arbeitsmarkt und mehr Autonomie im Privatleben. Seit Jahren forschen Hochschulen und Unternehmen an sogenannten KI-basierten assistiven Technologien. Es gibt Apps, die über die Handykamera die Umgebung scannen, Texte vorlesen und Geldscheine identifizieren. Ähnlich funktionieren kleine Kameras, die man an der Brille befestigt. Andere Anwendungen übersetzen Gespräche aus dem Umfeld des Handys fast ohne Verzögerung in geschriebenen Text. Viel aufwendiger und bisher entweder zu teuer oder noch ein Versprechen für die Zukunft: Pflegeroboter und steuerbare Prothesen.
Aber was ist mit den Möglichkeiten, die es schon gibt – werden sie ausgeschöpft? Läuft alles so rund wie bei Uwe Schneider? Und wenn nicht – woran liegt das?
Etablierte Anwendungen sind kostengünstig und einfach nutzbar
Ein Anruf bei Lothar Kempf vom Bundesverband Selbsthilfe Körperbehinderter (BSK). Er sagt, dass Menschen mit Behinderung selten extra für sie entwickelte Anwendungen nutzen, sondern lieber Technologien, die in der breiten Gesellschaft angekommen sind. Das sind zum Beispiel Google Maps, Siri oder Alexa von Amazon. "Die sind einfach nutzbar und kostengünstig", sagt Kempf. Man muss auch nicht fürchten, dass plötzlich keine Updates mehr kommen oder das Projekt eingestellt wird, von dem man sich in gewisser Weise abhängig macht – ein Risiko bei Nischenprodukten. Außerdem kosten Geräte oder Apps, die speziell für behinderte Menschen entwickelt wurden, oft viel Geld. Es ist leider nicht selbstverständlich, dass Kostenträger wie die Krankenkassen das dann auch bezahlen.
Dabei könnten KI-basierte Technologien auch dazu beitragen, dass mehr Menschen mit Behinderung wieder einen Beruf ausüben. Marcus Graubner, Vorsitzender des Allgemeinen Behindertenverbandes in Deutschland (ABiD), sieht drei große Herausforderungen: "Menschen mit Behinderung müssen sich zu KI fortbilden können", sagt er, "zum Beispiel durch Bildungsträger und die Arbeitsagentur." Auch die Arbeitgeber müssten fit gemacht werden für KI-basierte Inklusion. Und: "Auch wir Menschen mit Behinderung müssen bereit sein, uns zu bewegen." Er verweist auf VHS-Kurse und Stammtische, die sich professionell beraten lassen. Die dafür nötigen Technologien müssten aber auch bezahlbar sein. "Die Menschen, die in unsere Beratungsstellen kommen, können sich kein iPhone für 1400 Euro leisten", sagt er. "Was wir brauchen, ist ein Zugang für alle."
Auch der Datenschutz ist eine Bremse. Im Wohnpark in Erlensee bieten sie zum Beispiel barrierefreie Übergangswohnungen für Menschen, die nach einem Unfall oder einer Operation nicht ohne weiteres in ihre Wohnung zurückkönnen. In diese Wohnungen dürfen die Bewohner die Sprachsteuerung nur mit ausdrücklicher Genehmigung einbauen. "Alles, was da aufgenommen wird, liegt auf Servern in den USA. Die haben andere Datenschutzbestimmungen als wir in Europa", sagt Rasim Kohaupt, Geschäftsführer der SHK Service gGmbH, die zum Wohnpark Erlensee gehört. Uwe Schneider findet den Datenschutz nicht so wichtig: "Ich, als Privatperson, gehe dieses Risiko ein, weil der Nutzen für mich größer ist und mein Leben leichter macht."
Zuletzt sind da auch noch Sicherheitsaspekte. "Das System kann gehackt werden", sagt Schneider, "und die Abhängigkeit von der Technik nervt." Wenn der Handy-Akku leer ist, kann er sein Smarthome nicht mehr steuern und niemanden anrufen, um nach Hilfe zu fragen. Vor kurzem reagierte die Sprachsteuerung nicht mehr. Schneider musste warten, bis jemand vorbeikam, der sein Handy neu startete. "Aber ich bin lieber von der Technik abhängig als von Menschen", sagt Schneider. "In meinem direkten Umfeld sind mir ja alle wohlgesonnen, aber das ist nicht überall so." Für Menschen ohne Behinderung sei kaum nachvollziehbar, wie oft man auf fremde Hilfe angewiesen ist, sagt er. "Nicht behindert zu sein ist eine Gabe, die einem jederzeit genommen werden kann." Ein bisschen von diesem Geschenk gibt ihm die KI zurück.
Inklusion: Wo KI gut funktioniert und wo noch nicht
Summ AI: Leichte Sprache auf Knopfdruck
Etwa sechs bis zehn Millionen Menschen in Deutschland können Texte nur mit Mühe oder kaum verstehen. Auch die Tante von Flora Geske, Gründerin und Geschäftsführerin von Summ AI, gehört dazu. "Sie ist sehr an Politik interessiert und hat mir immer Artikel geschickt und mich gebeten, ihr zu erzählen, worum es genau geht", erzählt Geske. Also haben sie und ihr Team eine KI entwickelt, die Texte automatisch in Leichte Sprache übersetzt. So können User mit Lese- und Verständnisschwierigkeiten die Informationen auf Websites von Unternehmen und Behörden besser verstehen.
Übersetzt wird nicht erst, wenn man die Seite aufruft. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der jeweiligen Institution lassen Infotexte durch die KI laufen und prüfen dann, ob alle Fakten richtig übersetzt worden sind. Dann gehen die Texte online. Kunden sind zum Beispiel die Stadt Hamburg oder die Deutsche Bahn. "Behörden und Unternehmen haben die Barrieren aufgebaut, jetzt helfen wir ihnen, sie auch wieder abzubauen", sagt Geske. Ihre Kunden schicken die übersetzten Texte korrigiert zurück, woraufhin die KI weiter trainiert werden kann. Regelmäßig veranstalten Geske und ihr Team außerdem Feedback-Sessions mit Menschen, die Leichte Sprache nutzen.
Avatasi: Gebärdensprache im Museum
Wer auf die Website des Zeppelin-Museums Friedrichshafen geht, sieht bei der Sprachauswahl oben rechts zwei Hände – das Zeichen für Gebärdensprache. Klickt man darauf, blickt man in die Augen von Avatasi, schwarze Haare, blauer Kapuzenpulli: eine digital-animierte Figur, die geschriebene Texte in Gebärdensprache übersetzt. Für viele gehörlose Menschen ist geschriebener Text eine Fremdsprache, die sie nicht so leicht verstehen wie Gebärdensprache. In der App des Museums führt der Avatar einmal komplett in Deutscher Gebärdensprache (DGS) durch die Ausstellung.
"Wir haben viel Text, dynamische Inhalte wie Öffnungszeiten, die kurzfristig geändert werden müssen, und es gibt nur wenige Dolmetscher*innen, die sich dann auch nicht immer filmen lassen wollen", erklärt Susanne Nikeleit vom Museum. Das Feedback aus der Gehörlosen-Community ist gemischt, sagt Nikeleit. Einerseits findet es Anklang, dass Gebärdensprache sichtbarer wird. Andererseits kamen Rückfragen, warum dafür Geld da sei, aber nicht für Führungen in Gebärdensprache. Nikeleit kann die Kritik verstehen, aber die Entwicklung von Avatasi war vom Bund gefördert worden, im Rahmen eines Projekts, das sich nur auf den digitalen Raum bezog. Für ganzheitliche Lösungen fehlt es oft an Geld und Personal.
Envision AI: Digitale Sehhilfe im Alltag
Wenn Domingos de Oliveira aus Bonn früher den PC angeschaltet hat und eine Fehlermeldung auftauchte, war er aufgeschmissen. De Oliveira hat nur fünf Prozent Sehkraft, und die Sprachausgabe, die ihn bei der Arbeit unterstützt, startet erst, wenn der PC komplett hochgefahren ist. Seit einiger Zeit nutzt er die App Envision AI, die mit Hilfe von KI Texte erkennt und vorliest. Also hält de Oliveira sein Handy vor den Bildschirm, und Envision AI informiert ihn über das Problem.
De Oliveira arbeitet als Experte für digitale Barrierefreiheit. Das heißt, er überprüft Websites von Unternehmen auf Zugänglichkeit für behinderte Menschen und macht anschließend Vorschläge, wie Barrieren abgebaut werden können. Die KI-App ist für ihn eine nützliche Hilfe, aber er relativiert auch: "Texte und Geldscheine erkennt die App sehr gut, aber bei Beschreibungen der Umgebung würde ich mich nicht darauf verlassen, wenn ich ganz blind wäre", sagt de Oliveira. Und beim Scannen von Produkten im Supermarkt ist ihm die App zu langsam. "Das dauert einfach ein paar Sekunden und bis dahin habe ich schon an Form und Farbe erkannt, ob es der Frischkäse mit oder ohne Kräuter ist."