Friedhöfe
"Wir brauchen einen Ort zum Abschiednehmen"
Rheinland-Pfalz hat sein Bestattungsrecht liberalisiert. Jetzt darf Opas Asche auch im Rhein verstreut werden. Ist das nur gut? Nein, sagt der EKD-Kulturbeauftragte Johann Hinrich Claussen
Historische Statue einer trauernden Frau auf dem Ohlsdorfer Friedhof in Hamburg
Frauenskulptur auf dem Ohlsdorfer Friedhof in Hamburg
picture alliance / Bildagentur-online
Tim Wegner
02.12.2025
6Min

chrismon: Wissen Sie schon, wie und wo Sie beerdigt werden?

Johann Hinrich Claussen: In einem Sarg auf einem schönen Friedhof. Und meine Familie weiß auch: Nach meiner Beerdigung gibt es auf keinen Fall trockenen Streuselkuchen, sondern ein gehaltvolles, schmackhaftes Gericht. Und dazu einen guten Rotwein!

Damit gehören Sie schon bald zu einer Minderheit in Deutschland. Viele Menschen wollen weder eine große Beerdigung noch ein Grab auf einem Friedhof.

Das ist ihre freie Entscheidung, aber sie hat eben auch ihre Schattenseite. Für ungefähr die Hälfte der Verstorbenen gibt es in Metropolregionen keinen Abschied mehr. Natürlich ist es nicht leicht, genaue Zahlen zu erheben. Aber ich habe dies von Bestattern häufig gehört. Für fast jeden zweiten Menschen gibt es nach dem Lebensende nichts – keinen Abschied, kein Ritual, keinen Ort, der an ihn mit seinem Namen erinnert.

(Berlin) 11.02.16; Dr. Johann Hinrich Claussen, Portraet, Portrait; Kulturbeauftragter des Rates der EKD, Leiter des EKD-Kulturbueros, evangelischer Theologe Foto: Andreas Schoelzel/EKD-Kultur. Nutzung durch und fuer EKD honorarfreiAndreas Schoelzel

Johann Hinrich Claussen

Johann Hinrich Claussen, geboren 1964, ist Kultur­beauftragter der Evangelischen Kirche in Deutschland. Für chrismon schreibt er die Kolumne "Kulturbeutel". Von ihm er­schien zuletzt: "Gottes Bilder: Eine Geschichte der christlichen Kunst" (C. H. Beck, 2024); und von ihm zusammen mit M. Fritz, A. Kubik, R. Leonhardt, A. von Scheliha: "Christentum von rechts" (Mohr Siebeck, 2021). Außerdem ist er Autor des Podcasts "Draussen mit Claussen".

Das Bundesland Rheinland-Pfalz hat im Herbst 2025 sein Bestattungsrecht liberalisiert. Sie können dort die Urne Ihrer Großmutter mit nach Hause nehmen, die Asche in einen Diamanten pressen oder im Rhein verstreuen, wenn die Verstorbenen vorher ihr Einverständnis gegeben haben. Warum sehen Sie das kritisch?

Diese Diskussion wird einseitig geführt. Der Eindruck wird geweckt, dass die eine Seite für mehr Freiheit kämpft, während auf der anderen Seite die Kirche dies auszubremsen versucht. Dabei sind wir gerade auch als Kirche sehr für die individuelle Gestaltung des Lebens und seines Endes. Autonomie ist ein hohes Gut, auch am Lebensende.

Aber?

Das Individuum gibt es nur in einer Gemeinschaft. Tod, Beerdigungen, Abschiednehmen, Trauern – all das gehört zum Kreislauf des Lebens. Wer dies nur im engsten privaten Kreis oder gar nicht vollzieht, der blendet wesentliche Lebensbeziehungen aus und trägt zu einer weiteren Vereinsamung in der Gesellschaft bei. Ich nenne das: eine einseitige Vereinsamungsliberalisierung.

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Wem schadet es, wenn ich die Oma als Diamant am Finger trage?

Zunächst natürlich niemandem. Aber ich möchte einen kritischen Gedanken ins Spiel bringen: Wenn wir das Prinzip der Menschenwürde ernst nehmen, müssen wir verhindern, dass ein Mensch jemals einem anderen gehört. Auch nicht nach seinem Leben, also auch nicht als Asche an der Hand der Enkelin. Oder in der Urne im Küchenschrank. Gehören die körperlichen Überreste eines Menschen dann zum Hausrat seiner Erben? Zur Autonomie eines Verstorbenen gehört für mich, dass er einen eigenen, öffentlich zugänglichen Ort hat, wie es ein Grab auf einem Friedhof eben ist. Mich beunruhigt noch etwas anderes: Durch eine einseitig verstandene Liberalisierung verlieren wir die religiösen und kulturellen Formen, die uns bei Abschieden und in der Trauer helfen können.

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Welche Formen?

Zum Beispiel Friedhöfe, also Orte, wo der Name der Verstorbenen aufbewahrt bleibt. Sie ermöglichen uns einen Umgang mit unseren Toten. Das kann entlasten. Auch geht uns zunehmend die Sprache verloren, mit der wir unsere Gefühle uns selbst und anderen mitteilen können. Auf einem Friedhof aber finden wir Bilder, Symbole, Rituale und einen guten Ort, an dem wir unsere Toten besuchen, aber sie auch gehen lassen können. Um dann vielleicht auch in ein neues Leben zu starten. Wie soll das gelingen, wenn man die Urne eines Angehörigen im Haus immer vor Augen hat?

Wenn es denn überhaupt zum Trauern kommt?

Genau, denn auch das verlernen wir: das Trauern. Neulich war ich bei einer nicht kirchlichen Beerdigung: ein paar Minuten Schlager vom Band, banales Gerede, Schlager vom Band, banales Gerede, noch einmal Schlager vom Band, Bestattung später im engsten Kreis. Da gab es keinen Platz für die Trauer, Sehnsucht oder gemeinsame Verzweiflung. Stattdessen 20 Minuten Würdelosigkeit.

Aber wir sind nun mal nicht alle Bildungsbürger, die Bach in der Kirche hören wollen.

Genau darum geht es ja: Beerdigungsrituale eröffnen viele Möglichkeiten für unterschiedlichste Menschen. Man muss sie nicht selbst erfinden, man kann sich aus der Tradition das borgen, was für einen passt, und es erweitern. Diese Rituale sind wie ein großer Instrumentenkoffer, aus dem wir uns frei bedienen können. Der Tod ist ein unfassbares Phänomen für uns alle. Da brauchen wir Hilfe.

Dieser Instrumentenkoffer, wie Sie es nennen, kostet viel Geld. Genau darum wollen ja viele kein Grab mehr auf dem Friedhof, keine teure Beerdigung ...

Da stellt sich die Frage, was uns der Abschied von einem Toten wert ist. Und dann muss niemand zwingend ein Vermögen ausgeben. Pfarrer kosten nichts, die Trauerfeier in einer Kirche auch nichts, vielleicht bittet die Gemeinde um eine Spende. Viele Aufgaben können Freunde oder Familienangehörige übernehmen.

Mein Schwiegervater wurde in der Lübecker Bucht bei Travemünde in der Ostsee bestattet - eigentlich ist das ja anonym. Mittlerweile gibt es an einem der schönsten Aussichtspunkte am Uferweg einen Gedenkstein mit Bänken, und dort stehen immer brennende Kerzen und Blumen liegen da. Die Leute wollen die Kosten fürs Grab sparen und stellen ihre Kerzen am Wanderweg ab.

Das ist schon kurios. Es bestätigt mich in meiner Auffassung, dass wir eben doch einen Ort zum Abschiednehmen brauchen. Es gibt auch gute Kompromisse. Mir gefallen zum Beispiel die Felder auf Friedhöfen, wo es zwar keine Einzelgräber gibt, aber auf einer Stele die Namen der dort Liegenden aufgelistet sind. Damit hat man eine gute Alternative zu anonymen Gräbern geschaffen.

Ich selbst möchte ja mit Freunden und Wegbegleitern beerdigt werden, auch weil ich meinen Hinterbliebenen die alleinige Grabpflege nicht überlassen möchte. Aber das ist echt kompliziert. Man muss einen Verein gründen oder sonst eine Rechtsform. Sind Friedhöfe zu unkreativ?

Nach meiner Erfahrung sind die Friedhöfe viel kreativer, als häufig angenommen wird. Es genügt eben nicht, nur darüber zu klagen, dass die Zahl der Beerdigungen zurückgeht. Da wird viel ausprobiert – auch ohne große Gesetzesänderungen. In Hamburg haben zum Beispiel einige Kirchen eigene Grabgemeinschaften gegründet. Da kann man sich als Gemeindemitglied in einer Gemeinschaft beerdigen lassen. Am Ewigkeitssonntag oder Ostermontag kommt dann eine Abordnung der Gemeinde für eine Andacht zu Besuch.

In Berlin gab es gerade eine Woche mit Workshops für queere Menschen. Da ging es um alternative Beerdigungsrituale und vieles mehr. Also genau das Gegenteil der von Ihnen beklagten "einseitigen Vereinsamungsisolierung".

Es gibt zum Glück nie nur eine gesellschaftliche Tendenz. Es ist schön, dass es Gruppen gibt, die einander dadurch stärken und trösten, dass sie angemessen Formen des Abschieds entwickeln. Wir als Kirchen stehen dem offen gegenüber. Wer sich Gedanken über den eigenen Tod macht, kann sich übrigens auch an den örtlichen Pfarrer oder die Pfarrerin wenden. Suchen Sie das Gespräch mit uns. Wir haben Erfahrungen im Umgang mit dem Tod, die für Sie hilfreich sein könnten.

Zum Schluss noch mal zurück zur Asche im Wohnzimmerregal. Eine Kollegin erzählte mir, dass im Großelternhaus ihres peruanischen Ehemanns der Schädel eines Vorfahren auf dem Kaminsims steht. Ist das würdelos?

In westlichen Gesellschaften reicht unser Gedächtnis gerade noch bis zu den Großeltern. Doch in Südamerika, Ihrem Beispiel, geht das in den Familien oft viel weiter zurück. Da spielen die Ahnen eine andere Rolle. Man kennt ihre Geschichten, erzählt sie sich von Generation zu Generation weiter. Der Schädel im Haus gehört dann auch zu einer Geschichte und ist nicht nur ein Ding, das da herumsteht.

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