Sterben
Wer stirbt, lebt noch
Am liebsten zu Hause sterben. Wir haben Menschen besucht, die dem Tod nahe sind, und ihre Angehörigen. Vier von ihnen berichten, was die schweren Tage etwas leichter macht
Anita Lux
Im August ist Anita Lux, 64, gestorben. Lange hat ihr Mann Micha sie in der kleinen Wohnung in Berlin versorgt
Sibylle Fendt / Ostkreuz
Portrait Anne Buhrfeind, chrismon stellvertretende ChefredakteurinLena Uphoff
Privat
21.11.2025
15Min

Im August ist Anita Lux, 64, gestorben. Lange hat ihr Mann Micha sie in der kleinen Wohnung in Berlin-Steglitz versorgt. Im Juli erzählten sie gemeinsam von Liebe und Schrecken und "Tumor-Humor"

Anita: Es war letztes Jahr im März, dass ich ins Krankenhaus gekommen bin.

Micha: Das kam unvermittelt, das kam schnell. Abgenommen, Darmspiegelung, Krebs im Endstadium.

Anita: Nach der Operation kam die ­Ärztin mit einem Pfarrer und sagte: Sie haben ­Metastasen im Bauch. Ich guck sie an und ­sage: Ja, und was macht der hier? Das ist mein ­Galgenhumor.

Micha: Das war eine Katastrophe. Es kamen erst mal drei Absagen von Onkologen. Anita war sauer.

Anita: Ich hab gesagt: Mich operiert keiner. Ich mach Palliativmedizin, lass es so ­ausgleiten. Die Ärztin hat auch gesagt: Wir könnten operieren, ein paar Metastasen rauskriegen, aber ich könnte meine Niere verlieren. Ich hab ja nur noch eine. Und das hätte nur zwei, drei Monate Verlängerung gebracht. Dann bleibe ich so, wie ich bin, lustig, und wenn’s zu Ende geht, schlaf ich ein, krieg ich nichts mehr mit.

Im ersten Moment waren Sie nicht so gefasst, oder?

Anita: Doch, vor Leuten ja! Ich hab äußerlich gelacht und innerlich geheult.

Dann haben Sie beschlossen, das zu Hause zu versuchen.

Anita: Ich habe einen guten Pfleger. Eigentlich wollte ich in ein Heim. Da hat er gesagt, das geht gar nicht, du bleibst bis zum Schluss hier. Aber das ist schon ein Hardcore-Job für meinen Mann, das zu bewältigen.

"Das Einzige, was ich noch kann: reden. Meine Schnauze funktioniert noch"

Anita

Wie lange kennen Sie sich?

Micha: 33 Jahre. Sie hat ihr Leben immer selbstständig geführt.

Anita: Ich war Köchin in einer Kita. Nach der Darmuntersuchung wollte ich gleich wieder arbeiten. Aber es geht nicht, ich kann gerade mal zehn Minuten stehen, dann haut’s mich zusammen. Und wenn ich Micha nicht hätte, dann hätte ich schon eine Tablettenvergiftung.

Micha: Ja, das mit den Tabletten mach ich jetzt. Mit diesen Schablonen, diesen bunten Kästchen, fünfmal am Tag. Sie ist gut eingestellt.

Anita: Er tut mir leid. Wenn er nachts auf­stehen und mich abbrausen muss. Das Einzige, was ich noch kann: reden. Meine Schnauze funktioniert noch.

Wer Anita Lux und Micha Shuster zuhören durfte, ahnte: Das Leben im Angesicht des Todes wird intensiv. Und schwer. Am Ende ist Anita auf der Palliativstation des Krankenhauses gestorben

Und für Sie, Micha, ist vieles dazugekommen.

Micha: Genau, ich bin rund um die Uhr im Einsatz. Aber ich sag Ihnen, ich mach das, ­fertig, aus. Da denke ich gar nicht drüber nach. Sie war für mich da, in meinen ­schwierigen Zeiten, jetzt bin ich da.

Anita: Du hattest ja nie schwierige Zeiten.

Micha (lacht): Das müssen wir jetzt nicht ausführen.

Anita: Er will mir helfen, aber er macht zu viel des Guten. Wenn ich auf die Toilette muss, nimmt er mich an der Hand, weil er weiß, ich kann nicht gut gehen. Ist auch gut, aber ­irgendwie – auch wenn ich zehn Minuten brauche, ich möchte es mal allein schaffen.

Micha: Ich weiß schon, wann du Hilfe brauchst und wann ich dich einfach lasse.

Anita: Ja, damals, als ich aus dem Bett gefallen bin, hast du mir nicht geholfen!

Micha: Da hab ich geschlafen! Da hab ich ­einfach nur ein Bumm gehört . . .

Anita: Und ich lag auf dem Rücken wie ein Käfer.

Micha: Ja, siehst du, und es ist nichts passiert, das ist das Wichtigste. Kein Knochenbruch. Sie soll sich nicht verletzen.

Anita: Er hat Angst, dass ich wieder so ein Blackout bekomme. Kann ja sein, dass die Metastasen langsam nach oben wandern. Aber wenn ich Sabberlätzchen brauche, dann brauche ich dich auch nimmer, dann geh ich ins Hospiz.

Micha: Noch ist es nicht so weit. Aber ich möchte lieber, dass du dann hier bist. Dass wir zusammen sind.

Anita: Manchmal ist mir die Fürsorge zu viel. Der Hund geht mir auch auf den Senkel. Der merkt, wenn’s mir schlecht geht, dann klebt der an mir. Aber ich will auch mal allein sein!

Was vermissen Sie?

Anita: Bewegung! Ich muss so aufpassen, dass ich den Ischiasnerv nicht einklemme. Deswegen soll ich mich wenig bewegen. Aber ich weiß: Wenn ich ein bisschen auf die Ärzte höre, dann lebe ich länger. Und ich habe einen Mann, auf den ich Rücksicht nehmen muss. Ich höre ihn manchmal heimlich weinen im Schlafzimmer.

Haben Sie Angst vor dem Tod, Anita?

Anita: Davor hab ich keine Angst mehr, ich habe nur Angst, meine Kinder, meinen Mann zurückzulassen. Das macht mir Sorgen.

Was könnte passieren?

Anita (weint): Aber da kann ich auch nichts ändern. Heute ist der Lymphomat gekommen, diese automatische Hose. Ich hab ja so viel Wasser gekriegt! Erst nur in den Beinen, dann ging’s auf die Hüften. Da hab ich zu meinem Mann gesagt: Der Arsch ist platt wie ’ne ­Flunder, aber der hängt jetzt an die Hüften. Bald kann ich ein Sektglas druffstellen.

Micha: Das wird besser. Jetzt gucken wir mal, wie es mit der neuen Hose geht. Lymph­drainage automatisch.

Anita: Du bist immer so sachlich! Du kannst doch auch mal den Tumor mit Humor nehmen!

Micha: Tumor-Humor, oje.

Anita: Ich hab noch Zeit. Aber die Ärzte ­sagen, es kann von heute auf morgen passieren. Auch wenn ich so gut drauf bin. Weil ich ja viel ­unterdrücke, sagen sie. Muss ich ja. Ich kann nicht richtig rauslassen, wie ich mich fühle. Dann verletze ich andere damit.

Christa Händle lebt jetzt allein in der schönen Wohnung im Westen Berlins. Sie will ein Buch schreiben über die letzte Zeit mit ihrem Mann Jürgen Peter

Christa Händle, fast 90, kennt als Hochschullehrerin und ­Bildungs­forscherin die Literatur, Generationen­arbeit war eines ihrer Themen. Sie empfiehlt gleich Klaus Dörners Buch "Helfens­bedürftig": Zwar bräuchten die ­Alten Hilfe, sagt sie, aber vor allem tue es den Jüngeren gut zu helfen

Als mein Mann starb, fühlte ich mich sehr einsam. Wir waren 50 Jahre ein Paar und viele nahe Menschen sind schon gestorben. Aber nach mehreren Monaten sehe ich auch die andere Seite: Jetzt habe ich viel freie Zeit! Diese Freiheit sehe ich als unglaubliches Geschenk nach der Erschöpfung durch die Pflege und Fürsorge.

Ich bin die Älteste von fünf Geschwistern. So schaue ich immer zuerst, ob es allen gut geht, bevor ich darauf achte, dass es mir gut geht. Jürgen Peter war da anders – als Einzelkind und Mutters Liebling.

Anfangs hatte ich Angst, ich dachte, ich schaffe das nicht, mit fast 90 meinen hin­fälligen Mann zu begleiten, aber dann habe ich viel Hilfe bekommen und viel gelernt. Ich wusste z. B. nicht, dass es im Krankenhaus Rooming-in nicht nur für Kinder gibt, ­sondern auch für alte Menschen. Ich habe gelernt, was man gegen Schluckstörungen tun kann, dass Inhalieren hilft und angedickte Flüssigkeit mit einem Strohhalm trinken.

"Die Einheimischen empfanden es eher als Einmischung, wenn ich Tag und Nacht bei meinem Mann war, die Migrantinnen als Entlastung"

Christa Händle

Mein Mann hatte ein sehr schwaches Herz und nach seiner Operation ständig Herz­flimmern und kleinere und größere Schlag­anfälle. Er wurde immer schwächer. Seine und unsere Kinder konnten ihm wenig ­helfen. Obwohl ich selbst eine Herz-OP hinter mir hatte, habe ich dann Tag und Nacht für ihn gesorgt, zu Hause, im Krankenhaus, als er bettlägerig wurde. Ich spürte, dass sein Ende bevorstand, aber die Kinder hofften auf die medizinische Versorgung im Kranken­haus und auf einen Reha-­Aufenthalt.

Die Pflegerinnen im Krankenhaus und ambulant bewundere ich sehr. Das sind wunderbare Menschen, insbesondere die Migrantinnen. Die Einheimischen empfanden es eher als Einmischung, wenn ich Tag und Nacht bei meinem Mann war, die Migrantinnen als Entlastung.

Der Alltag konzentriert sich auf einen kleinen Radius, doch die Gedanken reisen in Vergangenheit und Zukunft

Als Jürgen aus der Klinik wieder nach ­Hause kam, hat ein Pfleger aus Polen bei uns gelebt. Er hat vor allem die Tagespflege übernommen, ich die Nachtschicht. Wir haben dreimal am Tag zusammen mit Jurek gegessen und sind im Gespräch geblieben wie mit einem Familienmitglied. Nachts sind die Kriegsängste meines Mannes als Kind wieder aufgelebt. Er hatte Angst, in einem fremden Haus eingeschlossen zu sein, und ich habe ihm dann gesagt: "Wir kommen raus, wir sind schon auf der Treppe, schon im Garten. Dort ist der Wald, da sind wir sicher!" Wenn er verwirrt war und nicht wusste, wo er war, habe ich ihm gesagt, dass er jetzt überall hinfliegen kann, und Traumreisen angeleitet. Das war auch für mich schön, sich vorzustellen, noch überall hinfliegen zu können.

Lesetipp: Wolfgang Schmidbauer übers Altwerden als Paar

Unsere Beziehung war nicht immer harmonisch aufgrund unserer sehr unterschiedlichen Voraussetzungen. Auch dachte ich ­immer, dass sie gut sein muss, aber das hat ihn unter Druck gesetzt. In dem letzten halben Jahr war das kein Problem mehr, da brauchte er meine Hilfe und war dafür dankbar.

Fast an jedem Tag habe ich nahe Menschen eingeladen, ihn zu besuchen, und sie angeregt, ihm zu danken: Ihr habt doch eine lange gemeinsame Geschichte: Sag ihm, was du ihm verdankst! Ich habe ihm auch oft gesagt, was gut war in seinem Leben, was ihm gelungen ist und wofür ich ihm dankbar bin. Ich glaube, dass es sehr wichtig ist, dass Menschen am Ende ihr Leben positiv sehen können. Seine Töchter haben mit ihm Ausflüge gemacht, so zum Bauhaus in Dessau, das hat er sehr genossen. Auch Fahrten zum Wannsee und eine Schiffsfahrt mit der Rentner*innen-Gruppe unseres Instituts.

"In mir hat sich ein großer Frieden ausgebreitet, weil ich ihn liebevoll begleiten konnte"

Christa Händle

Sehr hilfreich war Olaf, ein ehrenamtlicher Hospizmitarbeiter, der einmal in der Woche kam und keine Angst vorm Sterben hat. Irgendwann konnte mein Mann zu seinem Arzt ­sagen: "Ich will sterben." Und der hat gesagt: "Ja, ich begleite Sie. Sie werden keine Schmerzen haben." Mich hat der Arzt auch gefragt und ich sagte: "Eigentlich möchte ich, dass er noch ein bisschen bei uns bleibt." Aber Jürgen Peter hat an seinem Entschluss festgehalten. Er hat immer leiser gesprochen und immer länger geschlafen. Jurek und ich waren immer bei ihm und haben seine Hände gehalten. Er ist dann friedlich mit einem Lächeln eingeschlafen.

So ist eine Abrundung unseres Lebens gelungen, und in mir hat sich ein großer Frieden ausgebreitet, weil ich ihn liebevoll ­begleiten und weil ich Hilfe annehmen ­konnte. Ich habe aber nicht gewusst, wie erschöpft ich hinterher sein würde. Nach der Abschiedsfeier habe ich fünf Wochen fast Tag und Nacht geschlafen.

Marianne Rosolski hat erst ihre Mutter und dann ihren Mann gepflegt – heute ist sie selbst pflegebedürftig. Das Palliativteam hilft ihr

Marianne Rosolski, 90, lebt allein in ihrer kleinen, hellen ­2,5-Zimmer-Wohnung. Ein richtig schönes Sterbezimmer hat sie sich eingerichtet, mit Puppen, Teddys, Büchern. Aber das ist für später. Sie empfängt nebenan, im früheren Schlafzimmer, heute stehen da Sofa und Couchtisch – und die Familienfotos

Sie sehen, ich bin ein glücklicher Mensch. Dass ich hier bei mir zu Hause sein kann, dass meine Schwiegertochter das für mich arrangiert hat – dafür bin ich ihr unendlich dankbar. Der Pflegedienst ist gleich um die Ecke, die jungen Frauen, die mich versorgen, sind lieb und nett, ich kann mich nicht beklagen. Jetzt am Freitag holt mich mein Sohn ab, dann verbringe ich ein Wochenende auf dem Land. Wir machen Ausflüge, fahren durch Brandenburg, diese herrlichen Alleen! Ich habe eine liebe ­Familie, meinen Sohn, der sich um mich kümmert, meine Enkelin, die mir sehr nahesteht und die ihre Hochzeit meinetwegen in Berlin hat stattfinden lassen, in dem Standesamt, wo ich auch geheiratet habe. Wir verstehen uns alle wunderbar. Aber keiner ist in Berlin . . .

"Ja, die Pflege ist mir schwergefallen, aber wir waren 58 Jahre verheiratet"

Marianne Rosolski

Meine Schwiegertochter hat schon damals, als ich meinen Mann gepflegt habe, viel Gutes für uns getan. Er hatte sich immer auf mich gestützt, im wahrsten Sinne des Wortes. Das hat mir nachher die Wirbelsäule gebrochen, ich musste operiert werden. Ja, die Pflege ist mir schwergefallen, ich war auch schon alt und krank, aber wir waren 58 Jahre verheiratet, da macht man das, weil man sich liebt. Ich habe immer gefragt, wie geht es dir, was kann ich Gutes für dich tun? Er hat gesagt, mir geht’s gut, er war immer hochzufrieden. Aber dann ist er die Treppe runtergestürzt, das ­Geräusch werde ich mein Leben lang nicht vergessen. In der Schlosspark-Klinik ist er gestorben. Da brach für mich eine Welt ­zusammen. Ich hatte ihn zu Hause ­weiterpflegen wollen. Aber die im Krankenhaus haben gesagt: Das schaffen Sie nicht, dann sind Sie eher tot als Ihr Mann.

Sechs Jahre ist das her. Er fehlt mir noch ­jeden Tag, jede Stunde. Ich habe die Hoffnung, dass wir uns eines Tages wiedersehen. Die Hoffnung ist ein schöner Trost!

Hinter dem Fenster ein Stück Natur, Gäste empfängt Marianne Rosolski im früheren Schlafzimmer

Letztes Jahr war ich dreimal im Krankenhaus, weil ich auch gestürzt war, dann kam ich nach Hause und war zu nix mehr in der Lage. Meine Schwiegertochter aus Hildesheim sorgte dafür, dass ich versorgt wurde. So habe ich Dr. Schindler kennengelernt.

Er war der Meinung, die Hochzeit meiner Enkelin würde ich noch miterleben, aber ­meinen Geburtstag im März? Und gar den Sommer? Könne er mir nicht versprechen. Jetzt sagt er, es könnte noch lange gehen. Aber die Werte werden schlechter.

Vorigen Donnerstag besuchte mich eine Dame aus der Gemeinde, wir sind mit dem Rollstuhl zum Ludwigkirchplatz, haben Eis gegessen, waren in der Kirche, wir haben so viele Leute draußen getroffen, die ich sehr lange nicht gesehen hatte. Das war sehr schön.

Ich möchte gern noch in meiner Wohnung bleiben. Hier habe ich nicht nur meinen Mann, sondern vorher auch meine Schwiegermutter gepflegt. Auch meine Mutter, die wohnte zwei Treppen höher. Mit den Leuten vom Pflegedienst habe ich vereinbart: Wenn es aber gar nicht mehr geht, gehe ich ins Hospiz. Ich nehme an, ich merke das, wenn es schlechter wird.

Ich hadere nicht mit meinem Schicksal. Wie sagte Margot Käßmann? Ich kann nicht tiefer fallen als in Gottes Hand. Schon zweimal stand ich an der Schwelle, einmal, als ich meinen Herzinfarkt hatte. Ich lag allein auf der Intensivstation und spürte eine Berührung an der linken Schulter. Und die Stimme meiner Mutter sagte: Hab keine Angst, es wird alles gut. Insofern hab ich keine Angst. Ich weiß, es wird alles gut, das ist doch ein Trost!

Ich bedanke mich bei meinem Herrgott für jeden Tag, den ich so erleben kann. Für den Fall ist alles geregelt, alle Unterlagen sind bereit. Meine Schwiegertochter sagt: Hast du denn schon mit dem Pfarrer gesprochen, welche Lieder sollen wir singen? Also, so weit möchte ich nicht denken.

Chris Brückner starb im Januar. "Man braucht nur eine Insel / allein im weiten Meer. / Man braucht nur einen Menschen, / den aber braucht man sehr." Ihr Mann Tom Sauer schrieb das Gedicht von Mascha Kaléko in die Traueranzeige

Sie waren beide Professoren, Tom Sauer und seine Frau Chris Brückner. Sie lebten das Leben von Wissen­schaftlern, mit vielen Umzügen. ­Zuletzt wohnten sie in einer großzügigen Altbauwohnung im alten Westberlin. Tom Sauer hat abgenommen, das sieht man. Er spricht sehr leise und sehr traurig

Chris war eine sehr schöne und starke Frau, ein lebensbe­jahender Mensch, trotz ihrer ­chronischen Erkrankung, die ihrer Reiselust und im Alltag Grenzen setzte. Aber sie ist immer wieder aufgestanden und aktiv geblieben: Sie hat ihre Vorlesungen gehalten, Häuser renoviert, Räume gestaltet, Blumen arrangiert. Und sie ging immer wieder offen auf Menschen zu. Das alles war ihr wichtig.

Ja, wir haben eine schöne Wohnung. Sie hat sie eingerichtet, mir gefiel es gut. Immer waren Blumen da, Chris liebte Blumen. Und wir hatten hier noch eine gute Zeit.

Privat

Sibylle Fendt

Sibylle Fendt, Fotografin, hat ihren Mann verloren, im Mai 2024. Die letzten Lebenstage, die er im Kreis der Familie zu Hause verbrachte, waren für sie und ihre Kinder eine intensive Zeit. Einige Monate später entschied sie sich, andere Menschen, die in einer ähnlichen Situation waren, fotografisch ein Stück ihres Weges zu begleiten. "Was ihnen bevorstand und was ich erlebt hatte, verband uns auf unbeschreibliche Weise." Aus ­ihren Be­gegnungen hat die ­renommierte Ostkreuz-Fotografin ein Buch gemacht. "Bevor es so weit ist" erscheint in diesem Monat im Kehrer-­Verlag, Heidelberg.

2020 bin ich selbst an Krebs erkrankt, in der Folge war ich stark gehbehindert. In dieser Zeit hat Chris mich gepflegt, war an meiner Seite. Und kaum konnte ich wieder laufen, ist zusätzlich zu ihrer chronischen Darm­erkrankung noch eine ­Niereninsuffizienz ­aufgetreten, die sie sehr schwächte. Von da an pflegte ich sie. Die Blutbildung funktionierte nicht mehr. Chris wurde eines Morgens – wir waren gerade auf La Gomera – bewusstlos, brauchte Infusionen, Medikamente und künstliche Ernährung, um wieder zu Kräften zu kommen. Wir waren froh, als wir wieder nach Hause fliegen konnten.

Lesetipp: Pia Pritzel, 38, hat Brustkrebs – und erzählt jeden Dienstag bei chrismon, wie es ihr gerade geht

Die anschließenden Krankenhausaufenthalte in Berlin brachten keine Besserung. Eine Dialyse wollte sie nicht, diese hätte ­ihre Lebensqualität weiter eingeschränkt. Auf der Palliativstation im Franziskus-Krankenhaus haben ihr die Ärzte dann wieder Mut gemacht – und ihr Palliativpflege zu Hause vorgeschlagen. Diese hat ihr Leben um fast ein Jahr verlängert.

Mit den Palliativpflegerinnen fand morgens eine intensive Kommunikation statt und in regelmäßigen Abständen auch mit den ausgezeichneten Palliativärzten. Einige ­Pflegerinnen waren eher mütterlich – diese emotionalen Aspekte gehörten auch dazu. Andere erlebten wir neutral-professionell, ­ebenfalls okay. Sie alle waren für Chris sehr wichtige Kontakte, denn zeitweise hat sie ­keinen Besuch empfangen, sie wollte sich in diesem Zustand nicht präsentieren. Also waren die Pflegerinnen und Pfleger unser soziales Netz. Wunderbar. Ich habe nicht gewusst, dass das in diesem Maße möglich ist.

Stillleben mit Huhn, Chris Brückner liebte Blumen. Eine Wärmflasche lindert die Schmerzen

Später gab es noch mal so eine schlimme Nacht wie damals auf La Gomera. In so ­einer Phase ist ein Mensch nicht mehr bei sich, wir haben bis drei Uhr durchgehalten, sie hier ­vorne auf der Liege, wir haben ­DDR-Winnetou geguckt oder irgendwas, bis wir vor ­Er­schöpfung eingeschlafen sind. Schließlich kam der ­Rettungswagen und hat sie wieder ins ­Franziskus gebracht.

Als sie zurückkam, haben wir die ­Pflege verstärkt. Das Team war wirklich spitze. Sie trafen jeden Morgen zwischen zehn und zwölf ein, da war ich schon fertig, mit ­unserem Hund Gassi gegangen, Brötchen gekauft. Das Wichtigste war die Infusion. Und das Reden! Chris und ich haben uns gern über alles Mögliche unterhalten, Literatur, Filme, Politik, wir waren beide unser Leben lang politisch aktiv.

Sibylle Fendt: Bevor es soweit ist. Kehrer Verlag, 140 Seiten, 48 Euro

Wir haben immer versucht, füreinander da zu sein. Als ich an Krebs erkrankte, hat Chris sich für mich engagiert, recherchiert, wir ­haben diskutiert, in welches Krankenhaus ich gehe – und umgekehrt war es dann genauso.

Was ich tun konnte? Ich konnte ihr ­nahe sein. Der Schriftsteller Frank Schätzing hatte in chrismon gesagt, das größte Glück in der Liebe sei der Alltag, den man teilt. Gegen­seitige Hilfe und Zärtlichkeit. Das ist der Reichtum, den wir hatten. Chris wollte leben. Und ich habe versucht, ihr zu helfen, wo ich konnte. Was ich nicht so gut konnte, war ­kochen. Einmal hatte ich ein Essen so vermasselt, dass Chris jemanden gesucht hat, der für uns kochte. Obwohl sie selber kaum noch Appetit hatte. Da kam genau die richtige Frau aus der Nachbarschaft um die Ecke, die gut kochen konnte und mit Karli, unserem Hund, zurechtkam. Aber zum Schluss wollte Chris gar nicht mehr essen. Sie konnte nicht mehr.

Hörtipp: Die Ärztin Eva Reumkens leitet eine große Palliativstation. Was macht das mit ihr? Und was glauben die Menschen kurz vor ihrem Tod?

Im Oktober hatte Chris noch einen guten Monat, da ist sie sogar zweimal ausgebüxt, zum Kaffeetrinken mit Freundinnen. Und sie sah richtig gut aus! Wir waren glücklich, als wir den Heiligabend noch zusammen ­erleben konnten. Da war sie schon sehr schwach. Wir fühlten uns wie auf einem langsamen Gleitflug nach unten. Sie brauchte alle zwei ­Monate Bluttransfusionen, das hatte ihr immer ­wieder einen Schub gegeben, aber das Niveau blieb nicht dasselbe. Sinkflug. Irgendwann hatte sie es sich doch überlegt, eine ­Dialyse auszuprobieren. Aber das ging schon in der vorbereitenden OP im Krankenhaus ­katastrophal schief. Kreislaufkollaps, Blutvergiftung. Sie war nicht mehr ansprechbar und ist kurz darauf auf der Intensivstation gestorben. Ich konnte nichts mehr für Chris tun. Es war furchtbar. Im Januar ist sie verstorben.

Infobox

Was heißt palliativ?

Palliare ist ein lateinisches Wort und bedeutet: umhüllen, bergen. Palliative Versorgung kann nicht heilen, aber lindern. Menschen, die chronisch krank sind und am Ende ihres Lebens stehen, aber auch deren Angehörige, werden zu Hause, in Pflegeheimen oder in Hospizen begleitet, ärztlich und pflegerisch unterstützt und zu allen anstehenden Fragen beraten.

Als besondere Versorgungsform gibt es in Deutschland die Spezialisierte Ambulante Palliativversorgung (SAPV) für Menschen "mit einer nicht heilbaren, fortschreitenden und weit fortgeschrittenen Erkrankung, bei einer zugleich begrenzten ­Lebens­erwartung, die eine besonders aufwändige Versorgung benötigen" – so steht es im Sozialgesetzbuch. Sie wird von Hausarzt oder Hausärztin verordnet und von der Krankenkasse bezahlt.

Ein Palliativteam kümmert sich dann ­zusammen mit den Angehörigen darum, dass die Situation für die Betroffenen erträglich bleibt. Ärzte, Ärztinnen und besonders geschultes Pflegepersonal ­helfen, die letzte Lebenszeit so leicht und so wenig angst- und schmerzvoll ­zu ­erleben wie möglich.

Die Patientinnen und Patienten in dieser chrismon-Geschichte wurden alle von Dr. Thomas Schindler betreut. Der Berliner ­Palliativarzt besuchte sie zu Hause. Das Team, in dem er arbeitet, war rund um die Uhr erreichbar. Solche Palliativteams gibt es fast in jeder Stadt. Die Pflegerinnen und Pfleger kommen je nach Bedarf, ­besorgen Medikamente und Hilfsmittel, alles, was die Pflege zu Hause erleichtert. Sie unterstützen die Angehörigen und helfen, mit der Situation fertig zu werden. Vor allem geht es darum, Schmerzen, Atemnot und Übelkeit zu lindern sowie auch andere Symp­tome (wie Verwirrtheit, Angstzustände, Schwäche) positiv zu beeinflussen.

www.wegweiser-hospiz-palliativmedizin.de

Infobox

Die Fotoserie "Bevor es soweit ist" von Sibylle Fendt ist bis Ende November 2025 auch im Berliner "Haus#1" am Waterloo Ufer von Freitag bis Sonntag jeweils von 14 bis 19 Uhr zu sehen. Der Eintritt ist frei.

Die Kommentarfunktion ist nur noch für registrierte Nutzer verfügbar. Um einen Leserkommentar schreiben zu können, schließen Sie bitte ein Abo ab, schreiben Sie uns eine Mail an leserpost@chrismon.de oder diskutieren Sie auf Instagram, Facebook und LinkedIn mit.