Wäre ich nicht aus einem unwichtigen Grund bei meiner Hausärztin gewesen, hätte ich nichts von der Krankheit gewusst, denn es ging mir ja prächtig. Doch ich sollte Blut abgeben, und als das Ergebnis eintraf und die Ärztin mir erklärte, dass sie seit Jahren beobachte, wie sich meine Leukozyten vermehren, schwante mir Schlechtes. Nach einer zweiten, differenzierteren Blutanalyse holte ich mir in der Praxis eine Überweisung ab. Etwas umständlich formuliert, las ich auf dem Laborbericht: Der Befund ist vereinbar mit dem Vorliegen einer CLL. Einen Termin im Ambulanten Tumorzentrum hatte meine Ärztin bereits für mich vereinbart.
So fiel ich in rasender Geschwindigkeit aus allen Wolken. "Leukämie" – das ist ein schlimmes Wort, das in jedermanns Kopf sofort unschöne Gedanken aufkommen lässt. Da ich über sechzig bin, habe ich bereits Leute an Krebs sterben sehen, zuerst meine eigene Mutter - sie war so alt wie ich jetzt.
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Mit Überweisung und Laborwerten ging ich still und leise nach Hause und googelte ungefähr zwanzig Minuten lang. Die Begriffe "bösartig, unheilbar, chronisch" sprangen aus allen Erklärtexten hervor. Weil das Internet mir aber nicht erzählen konnte, wie es genau um meine Person stand, schloss ich den Browser wieder, außerdem musste meine Hündin raus.
Sie ist schon zehn Jahre alt. Wir verstehen einander wortlos, und ich weiß genau, wie ich sie kraulen muss, damit sie wohlig seufzt. Da ich außer ihr keine Angehörigen habe, hatte ich mich oft gefragt, wie ich ihren Tod ertragen würde, der in wenigen Jahren unweigerlich bevorstand.
Nun war es möglich, dass meine Hündin stattdessen mich überlebte. Das erste Mal schluckte ich. Wir waren doch zusammengewachsen, und sie würde nie verstehen, weshalb ich sie einfach irgendwo abgebe. Würde ich noch in der Lage sein, unsere ausgedehnten Morgenspaziergänge anzutreten, wenn ich eine Chemotherapie antreten sollte? Müsste ich dafür ins Krankenhaus? Würden mir die Haare ausfallen, und jeder würde es sehen? Die Antwort würde ich erst in einer Woche beim Hämatologen in der Tumorambulanz erhalten.
Es war Mai, und die Nachtigallen sangen betörend schön in knallgrünen Büschen und Bäumen. Ich saß auf dem Balkon und Gedanken zogen durch meinen Kopf wie Segelboote. Wenn ich tot war, würde ich das Auto nicht mehr abbezahlen müssen. Jemand würde meine Wohnung entrümpeln. Sollte ich vorher Sachen verschenken? Wem wären die paar Groschen, die ich vererben konnte, nützlich? Konnte man einen Hund als Erben einsetzen? Hatte ich eigentlich schon genug gelebt und wäre ich fähig, mich friedlich zu verabschieden? Würde ich mich mit Glatze, die mich sofort als todkrank identifizierte, überhaupt noch unter Leute wagen? Seltsam eigentlich, dass man sich für die Zeichen einer Krankheit schämt.
Würde überhaupt jemand an meiner Beerdigung teilnehmen? Wo wollte ich begraben sein? War das überhaupt wichtig? Ich horchte in mich hinein. Was mich von innen bedrohte, konnte ich nicht spüren. Wem sollte ich überhaupt von der Diagnose erzählen? Meiner Friseurin und der freundlichen Hausmeisterin sicher nicht.
Aber irgendwo musste ich meine Besorgnis abladen. Also schrieb einer uralten Freundin eine Mail, die in ihrem Leben schon manches Tal durchschritten hat. Umgehend erhielt ich eine sehr gefühlvolle, anteilnehmende Antwort. Da wusste ich: Dieser Freundin kann ich auch weiter berichten, offen und schonungslos.
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Tags darauf war ich mit einem Ehepaar verabredet. Wir haben schon viel miteinander gelacht. Jetzt saßen wir am Küchentisch, und ich erkundigte mich nach ihren Krankheiten. Der Mann hatte Gastritis und die Frau litt an Schlaflosigkeit. Irgendwann ließ ich einfließen, dass ich bei meiner Hausärztin gewesen war, und wie die Diagnose lautete.
Keiner von beiden zeigte eine Reaktion. Weil sich das so ähnlich anfühlt wie eine verschlossene Tür, durch die man nur mit Gewalt kommt, behielt ich meine weiteren Befürchtungen für mich, denn ich wollte so ein schwerwiegendes Thema niemanden aufdrängen. Also quatschten wir über Mückenschutzgitter. Wieder zuhause fiel mir zum ersten Mal auf, dass mir das Paar eigentlich nie Fragen zu meinem Befinden stellte, jedenfalls keine, die tiefer als eine Oberfläche reichten. Es waren Schönwetter-Freunde.
Einer Frau, mit der ich am frühen Morgen oft in schnellem Gleichschritt Gassi ging, während wir über Alltägliches oder Politisches plauderten, erzählte ich ebenfalls davon, doch sie schwieg und hielt nach ihrem Hund Ausschau. Vielleicht ist es eine natürliche, menschliche Reaktion, etwaiges Elend abzuwehren, mir jedoch versetzte es einen kleinen Stich. Offenbar war dies unser letzter Hundespaziergang gewesen, denn sie hat sich seitdem nicht wieder gemeldet.
Am Wochenende gab es ein Nachbarschaftsfest und ich zog mein schönstes Frühlingskleid an. Auf dem Fest grüßten mich Leute, und ich wurde gebeten, einige Stände zu fotografieren. Einer davon war von einem Hospiz. "Lächeln!", rief ich den Damen zu, die hier selbstgebackene Waffeln verkauften, und sie hielten fröhlich ihren Flyer hoch. Sie hatten keine Ahnung, dass ich sie mit ganz neuen Augen betrachtete.
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Als ich mich mit einem Kuchenstück auf einer Bank niederließ, entdeckte ich eine Bekannte. Sie kam auf mich zu und setzte sich zu mir. "Wie geht es Dir?", fragte sie, und es war eine echte, ehrliche Erkundigung.
"Ich habe Krebs", anwortete ich ohne Umschweife, und dies in ein offenes Herz zu sprechen, erleichterte mich sofort. Sie erschrak nicht, lenkte auch nicht ab, sondern beugte sich zu mir.
Jetzt erst erfuhr ich, dass auch sie Krebs gehabt hatte und nun alle drei Monate zur Kontrolle ging, ebenso ihr Mann. Zwanzig Minuten saßen wir zusammen, und ich konnte all meine Gedanken bei ihr abladen, die Sorgen, besonders die um meinen Hund. "Vielleicht kommt es nicht so schlimm", beruhigte sie mich. "Du machst alles Schritt für Schritt, tust schön, was die Ärzte sagen, und für deinen Hund wird sich eine Lösung finden."
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Das Gespräch mit ihr hat mich außerordentlich getröstet. Meine Sorgen wogen etwas weniger schwer. Das befreundete Ehepaar sendete mir interessante Links zu irgendwelchen Themen und erkundigte sich darüber hinaus nicht.
Am Abend vor meinem Tumorambulanz-Termin schaute ich mir auf der Website genau die Anfahrtskizze an. Daneben stand: Wir nennen Ihnen gerne Adressen von Fahrdiensten, Hospizen und Perückenmachern.
Lange Minuten im Wartezimmer
Nachts schlief ich nicht gut und kam mit dem Auto deutlich zu früh in der Praxis. Im Wartezimmer ließ ich unauffällig den Blick über die anderen Patienten schweifen. Keiner lächelte. Wie oft würde ich von nun an hier erscheinen müssen?
Schließlich saß ich vor dem Hämatologen, in höchster Aufmerksamkeit. Er war freundlich und sanft, studierte meine mitgebrachten Blutbefunde, tastete mich auf geschwollene Lymphknoten ab, setzte sich wieder hinter den Schreibtisch. "Ja, Sie haben CLL, aber in einem sehr frühen Stadium."
Zum Glück gehörte er nicht zu denen, die man alles fragen muss. Er erklärte mir, dass manche CLL-Patienten zehnfach so hohe Leukozytenwerte hatten wie ich, und solche Werte nur langsam steigen. Davon abgesehen sei Chemotherapie out. "Es gibt inzwischen Besseres, und die Forschung schreitet schnell voran." Schließlich sprach er das Wichtigste aus: "Sie sollten ab jetzt einmal jährlich Ihr Blut bei der Hausärztin untersuchen lassen."
"Mehr nicht!?"
Ich war entgeistert und brauchte eine Sekunde, um zu begreifen, dass mein Leben vorerst gerettet war. Dass ich meinen Hund nicht weggeben musste, dass wir morgen früh wieder losstromern würden, dass ich keinen weiteren Termin in dieser Praxis hatte und kein einziges Haar verlieren würde. Wie dankbar ich ihm für diese Auskunft war, sagte ich ihm zum Abschied wahrscheinlich dreimal.
Meine Hündin hob nur kurz den Kopf aus dem Tiefschlaf, als ich heimkehrte. Ich widerstand dem Impuls, sie an mich zu drücken, sondern machte mich ans Wäschewaschen, denn der Alltag hatte in den letzten Wochen etwas gelitten. Es bleibt die Erkenntnis, dass das Leben sehr, sehr endlich ist, dass Krankheit einen gehörigen Abstand schaffen kann, und ich weniger echte Freunde habe, als ich dachte.