Ein Lob auf die Bekanntschaft
Ein Lob auf die Bekanntschaft
Anne Albert
Bekanntschaft
Ein Lob auf die Bekanntschaft
Enge Freunde trifft man viel zu selten. Es sind die flüchtigen Bekanntschaften mit der Friseurin, dem Paketboten und Nachbarn, die uns im Alltag tragen
16.05.2024
3Min

Betrete ich morgens die Bäckerei, ­lächelt mir die Verkäuferin ent­gegen. "Wie immer?", fragt sie. Ich nicke, und während sie mein ­Croissant in die raschelnde Tüte schiebt, lobe ich ihre ­glitzernden Fingernägel oder sie erkundigt sich nach meinem magenkranken Hund. ­Unsere tägliche Plauderei reicht für fünf bis sechs Sätze, bis der nächste Kunde eintritt.

Manche halten derartige Unterhaltungen für oberflächlich und Zeitverschwendung. Das Wort "Bekanntschaft" hat für sie einen minderwertigen Klang. Sie sehen darin bloß lose, unverbindliche Kontakte zu Leuten, ­deren Namen sie teilweise nicht mal kennen. Für sie zählen nur tiefe, innige Beziehungen.

Doch gerade in Zeiten grassierender Einsamkeit ist diese Sichtweise bedauerlich. Denn wenn wir genau hinschauen, haben wir mit Bekannten deutlich häufiger zu tun als mit unseren allerbesten Freunden. Und nicht nur das: Es sind auch noch viel mehr!

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Die Handvoll Menschen, die ich wahre Freunde nenne, sehe ich recht selten. Dass ich meinen Autoschlüssel verloren habe oder furchtbar unter Heuschnupfen leide, kriegen sie selten mit. Aber die Bäckereiverkäuferin weiß es und wird mich morgen danach fragen.

Bekannte sind Menschen, die man sich nicht ausgesucht hat und trotzdem immer wieder trifft: Sei es in der Bäckerei, im Fitnessstudio, im Hausflur, an der Tankstelle oder als ­Schrebergartennachbarn. In sämtlichen ­Chören, Fußballvereinen und Kirchengemeinden wimmelt es nur so von ihnen.

Hundebesitzer haben einen besonders großen Bekannten­kreis, denn ihre Vierbeiner beschnuppern einander auf den täglichen Gassirunden, und so bleibt man gezwungenermaßen stehen und tauscht sich über das Nächstliegende aus: ­natürlich das Wetter, dann die Hunde, und vielleicht noch, was einen heute besonders geärgert oder erfreut hat. Alltagsgequatsche eben. Und selbst wenn es wieder nur fünf oder sechs gewechselte Sätze waren, so summiert sich das, denn wir treffen ja auch noch den Paketboten, die Supermarktkassiererin, den Hausmeister von nebenan und unsere ­Friseurin. Und dem Mann, der oft auf dem Balkon steht und raucht, winken wir wie ­immer auf dem Heimweg zu.

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Über kurz oder lang kommt es mit all ­diesen Menschen zu privaten Schwätzchen. So hört man irgendwann, dass der Paketbote mal Reiseleiter war und fünf Sprachen spricht, dass die Friseurin ihre Katzen über alles liebt und der schick angezogene Nachbar aus dem Dachgeschoss jeden Sonntag seine demente Mutter im Pflegeheim besucht.

Doch vieles bleibt auch im Dunkeln. So weiß ich nicht, welche Partei die schnaufende Dame auf der Yogamatte rechts von mir wählt, ob sie vegan lebt oder in Polygamie. Umso ­besser! Solange unser einziger Schnittpunkt der Sport ist, müssen wir nicht über unterschiedliche ­Ansichten streiten und können einander ­fröhlich zuschnaufen, während wir zweimal wöchentlich unsere Übungen absolvieren.

Einsamkeit bedeutet, nicht wahrgenommen zu werden. Das kann mit einem noch so oberflächlichen Bekanntenkreis nicht so schnell passieren, denn bei jedem Kontakt fällt zumindest ein netter Gruß ab. Obendrein ist kaum Aufwand nötig, Bekannte zu gewinnen, denn im Gegensatz zu Freundschaften, die über Jahre wachsen, fallen sie uns in den Schoß. Und wenn man sich um Freundlichkeit bemüht, verdichtet sich mit jedem kurzen Kontakt der positive Eindruck, den man voneinander hat.

So sind es diese mehr oder weniger flüchtigen Bekannten, die uns durch den Alltag tragen. Obwohl wir mit keinem von ihnen jemals einen Kaffee getrunken haben, wissen wir mit der Zeit erstaunlich viele persönliche Geschichten übereinander, und das ist das ­Gegenteil von Einsamkeit.

Bekanntschaften sind obendrein günstig, wenn man eine neue Wohnung sucht oder eine vertrauenswürdige Kfz-Werkstatt. Ist der Kontakt noch so lose, bekomme ich trotzdem Zugang zum Netzwerk des Gegenübers, denn was zählt, ist das bekannte Gesicht. Je häufiger wir uns über den Weg laufen, desto stärker wächst das gegenseitige Vertrauen. ­ So könnte ich bedenkenlos bei meiner ­Bäckersfrau ohne Geld einkaufen, sie weiß ja, dass ich morgen sicher wiederkomme.

Seit ich das begriffen habe, kultiviere ich solche Begegnungen, nehme Pakete für Nachbarn an, mache hier ein kleines Kompliment, höre mir dort ein Seufzen an, bedanke mich für vermeintlich Selbstverständliches und ­genieße jedes unverbindliche Schwätzchen. Zu guter Letzt wollen wir nicht vergessen: Die Vorstufe aller Freundschaften dieser Welt ist eine Bekanntschaft gewesen.

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Dieser Artikel spricht mir aus dem Herzen!

Wie erfrischend ist es, auf dem Weg zum Einkaufen Nachbarn zu treffen und einen Smalltalk zu halten. Oder mit der Kassiererin im Supermarkt ein paar nette Worte zu wechseln.
Das tut dem Gegenüber gut - man selbst fühlt sich oft auch leichter.

Die kleinen Gespräche und Freundlichkeiten am Rande finde ich sehr wichtig.

In diesem Sinne: Danke für diesen Artikel und auch für die anderen Beiträge in chrismon.

Herzliche Grüsse aus Köln

Gisela Brandt