Ihr Mann hat einen Hirntumor
Wenn du morgen noch da bist
Er hat einen Hirntumor, unheilbar. Sie versucht, Erinnerungen zu schaffen. Wie ist das, wenn alles, was man erlebt, das letzte Mal sein könnte?
Sterben - Wenn du morgen noch da bist
Sabine Cole und ihr todkranker Mann
Elissavet Patrikiou
Sabine ColePR
privat
Aktualisiert am 06.06.2024
10Min

"Heute Morgen kann ich reden wie ein Wasserfall." Mein Mann ist früh aufgestanden und hat uns einen Kaffee gemacht. Dazu gibt es ein kleines Stück Kuchen, Tassen und Tellerchen hat er auf einem Tablett ins Schlafzimmer balanciert. Wir trinken unseren ersten Kaffee des Tages immer im Bett. Das machen wir so, seit wir uns kennen, seit sechs Jahren. Zusammen wohnen wir erst seit kurzem. Nachdem er vor einem halben Jahr das dritte Mal am Gehirn operiert wurde, musste er zu mir ziehen, weil er in seiner alten Wohnung allein nur noch schwer zurechtgekommen wäre. Seitdem macht er in einer "fremden" Küche Kaffee. Zu Beginn hat er dafür fast eine Stunde gebraucht, mittlerweile 20 Minuten, kein Geklecker, und Hund und Katze hat er auch gefüttert.

Mein Mann ist 59 Jahre alt und hat einen sehr bösartigen Hirntumor. Das Glioblastom, Typ Wild, unmethyliert, kam bisher zwei Mal zurück und wurde drei Mal operiert. Wir ­sagen: hirnamputiert, denn ungefähr ein Viertel seines Hirns ist dabei entfernt worden. Glücklicherweise hatte er nicht nur ein sehr großes, sondern auch ein sehr leistungsstarkes Hirn in einem starken Kopf. So ist der Rest immer noch ziemlich funktions­fähig. Denken geht, nur neue Informationen wahrzunehmen und zu verarbeiten fällt ihm deutlich schwerer. Vor allem das Sprechen hat sich verändert. Erst war er fast verstummt, jetzt sind die Synapsen neu kontaktet, er spricht wieder, nur anders als vorher.

Er sagt nicht mehr "Ich möchte bitte . . .", sondern "Ich würde es bevorzugen, wenn . . .". Er kratzt nicht das Marmeladenglas aus, sondern "entleert gründlich das unpraktische Ge­binde"; das Glas kippelt nicht auf dem Tablett, sondern "die Standfestigkeit ist nicht gewährleistet". Mein Mann ist Ingenieur. Wenn er also "redet wie ein Wasserfall", ist das Ergebnis für ­Nichtingenieure sehr erheiternd. Mein Sohn und ich haben uns schon ein paar Formulierungen angewöhnt. Wir "bevorzugen" jetzt auch eine Apfelschorle, und ein Löffel "tut nicht not", wenn wir Spaghetti essen.

Für einen Patienten mit seiner Diagnose ist die mittlere Lebenserwartung sechs ­Monate. Zwölf Monate sind schon ein Langzeit­überlebender. Mit zwei Jahren ist mein Mann ein Wunder. Das sagt zumindest seine Onkologin. Der Tumor konnte bei der letzten OP nicht mehr ganz entfernt werden. Eine ­weitere OP ist nicht möglich. Die Chemooptionen sind ausgereizt. Austherapiert nennt man das. Und der Tumor wächst wieder. Dieses Jahr ist ­also selbst mit viel Optimismus sein letztes Lebensjahr. Was das bedeutet, kann ich nur erahnen. Im April bei einem Spaziergang im Wald, die Blätter grünten hell und frech, sagte mein Mann: "Das ist wohl mein letzter Frühling." Seitdem muss ich über diese Formulierung nachdenken. Irgendwann ist für alles das letzte Mal. Wie leben wir damit?

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Frau Cole, Ihre Schilderung geht unter die Haut und macht betroffen. Ihrer beider Schicksal wünscht man Niemandem.

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Vielen Dank für den Mut, so offen und ehrlich, so mutmachend und herzzerreißend über diese Krankheit und die damit zusammenhängenden Folgen für das Leben des Betroffenen und der Angehörigen zu sprechen und zu schreiben. Die Doku und der Artikel haben mich tief bewegt. Vor genau einem Jahr bekam mein Papa die Diagnose Glioblastom. Seitdem hat er zwei OPs, 2x 6Wochen Bestrahlung und verschiedene Chemotherapien durch. Vor einer Woche nun den ersten epileptischen Anfall... wenn Freunde fragen, was das alles für uns bedeutet, war es immer schwer zu erklären, denn verstehen kann man, vor allem die Wesensveränderung, nur, wenn man es selbst erlebt hat. Ich habe die Doku und den Artikel allen ans Herz gelegt, die wirklich wissen wollen, wie es für uns ist. Auch wenn jeder Fall einmalig und an sich anders ist, im wesentlichen sind sie ähnlich. Danke für den einfühlsamen Beitrag!

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Ich habe mir die Reportage angeschaut. Und was soll ich sagen?! Mein Herz und meine Seele waren und sind tief berührt . Was für ein Paar, was für eine Frau , was für ein Mann und was für tolle Jungs , ja und auch der Hund . Eine Liebe die so unfassbar selbstlos war. Eine Frau die in der härtesten Zeit dieses Mannes , geblieben ist und sich so um ihn gekümmert hat , ihm Raum gegeben hat und sich komplett zurück genommen hat. Die vielen kleinen Gesten des Alltags. Kuchen backen, seine Sachen ordnen , Spaziergänge, Frühstücken, reden, umarmen wenn der andere es braucht , die Wörter an der Wand. Unfassbar. Diese 2 Menschen bleiben in meinem Gedächtnis. Und dieses Lied " Spuren " , wer hat das gesungen? Mein Gott hab ich geheult.
Drückt alle eure Liebsten und sagt ihnen dass ihr sie liebt.

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Hat mich mitten ins Herz getroffen, Ihre Geschichte. Eine schöne Kurzgeschichte über das Leben mit Glioblastom. Wir durchleben gerade unsere eigene Kurzgeschichte mit diesem Tumor. Unerbittlich. Unbegreiflich. Wir finden uns in vielen Gedanken wieder. Die Liebe steht über allem.