False Balance in der Berichterstattung
Wie Medien rechte Positionen stärken
Von 2015 bis heute hat sich der mediale Diskurs rund um das Thema Migration stark nach rechts verschoben. Wie kam es soweit? Ein Gespräch mit Ella Schindler von den Neuen deutschen Medienmacher*innen
Bakal/iStockphoto
12.08.2025
5Min

"Wir schaffen das!", sagte Angela Merkel 2015. Jetzt gibt die AfD mit rechtsextremen und menschenfeindlichen Begriffen wie "Remigration" den Ton in der Migrationsdebatte an. Wie sind wir an diesem Punkt gelandet?

Ella Schindler: Dafür gibt es vielschichtige Gründe. Einer ist, dass die klassischen Medien immer wieder mit dem Vorwurf konfrontiert sind, dass sie nicht ausgewogen berichten, sondern Mitte-links stehen. Das ist zwar nur die gefühlte Wahrheit einer eigentlich kleinen Gruppe, aber sie findet zunehmend Gehör. In diesem Zusammenhang ist die Autoritarismus-Studie der Universität Leipzig interessant, die seit 2002 alle zwei Jahre durchgeführt wird. Die aktuelle Erhebung von 2024 zeigt, dass die Zufriedenheit mit der Demokratie über die Jahre deutlich abgenommen und Feindlichkeit gegenüber Menschen mit Einwanderungsgeschichte sich zu einem bundesweit geteilten Ressentiment entwickelt hat, auch Trans*feindlichkeit ist weit verbreitet. Medienhäuser haben den Eindruck, dass sie die Ängste von sogenannten "besorgten Bürger*innen" ernst nehmen und auch "andere Ansichten" in die Berichterstattung einbeziehen sollten. Dadurch entsteht eine falsche Ausgewogenheit. Die sogenannte "False Balance".

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Ella Schindler

Ella Schindler, Verlag Nürnberger Presse und Vorsitzende der Neuen deutschen Medienmacher*innen

False Balance, das heißt einer Minderheitenmeinung oder nicht belegten Behauptungen wird so viel Raum gegeben, dass der Eindruck von Gleichwertigkeit mit Fakten und der Mehrheitsmeinung entsteht.

Genau. Es wirkt dann, als ob es sich um eine legitime gesellschaftliche Position handelt. Doch es sind zuweilen falsche, rechtspopulistische Behauptungen, die nur Ängste auslösen, verstärken und ganze Menschengruppen stigmatisieren. Es passiert immer wieder, dass Medienschaffende den Begriff der Ausgewogenheit auf diese Art falsch auslegen.

Was hat noch zu dieser Entwicklung beigetragen?

Die Jagd nach Klicks, Abos und Aufmerksamkeit im Medienbetrieb. Das Spiel mit der Angst funktioniert oft so, dass Migration als Ursache für alle möglichen Probleme hingestellt wird. Nehmen wir die Berichterstattung zum Thema Messerangriffe als Beispiel. Wenn ein Mensch ohne migrantische Wurzeln Täter ist, dann ist das Interesse viel kleiner und wird auch durch Algorithmen nicht so weiterverbreitet. Medienhäuser vergessen allerdings eine große Gruppe: migrantische Menschen. Ungefähr ein Drittel der Menschen in ganz Deutschland hat migrantische Wurzeln. Stigmatisierende Berichterstattung verspielt Vertrauen bei diesen Menschen und damit nicht zuletzt auch viele potenzielle Klicks.

Welchen Einfluss hat Social Media auf diese Entwicklungen?

Das ist ein sehr großes Problem. Rechte und rechtsextreme Kräfte nutzen Social Media gezielt, investieren viel hinein. Sie wenden ihre Sprache dort so an, dass ihre Ideologie immer weiter in die Mitte der Gesellschaft vordringt durch zugespitzte oder Falschinformationen, die auf Emotionen und Ängste setzen.

Ein Beispiel ist die Kampagne gegen die Richterkandidatin der SPD für das Verfassungsgericht, Frauke Brosius-Gersdorf; AfD-nahe Onlinemagazine und teils KI-generierte Accounts verbreiteten die bekannten Fake News, Brosius-Gersdorf sei "Hardcore Abreibungsbefürworterin", die Schwangerschaftsabbrüche im neunten Monat legalisieren wolle. In der Sendung von Markus Lanz stellte sie klar: "Ich bin nie eingetreten für eine Legalisierung oder Straffreiheit des Schwangerschaftsabbruchs bis zur Geburt."

Von Medienschaffenden wird das, was online passiert, oft aufgegriffen, teilweise mit Zitaten in Überschriften, deren Inhalte nicht belegt sind. Diese Dynamiken normalisieren auch Begriffe wie "Remigration" immer weiter.

Worin liegt die Gefahr von Begriffen wie "Remigration"?

Er ist sehr verharmlosend. Man hat vor, Menschen aufgrund bestimmter Merkmale abzuschieben. Als das Recherchenetzwerk Correctiv vergangenes Jahr aufgedeckt hat, war die Empörung groß. Abertausende gingen auf die Straße. Heute geht niemand mehr auf die Straße. Vor kurzem gab es ein Sommerinterview mit Alice Weidel, einer Parteivorsitzenden, deren Gruppierung vom Verfassungsschutz als gesichert rechtsextrem eingestuft wurde. Sie wird im öffentlich-rechtlichen Fernsehen von Journalisten zu "Remigration" befragt. Parallel zu Themen, die tatsächlich relevant sind, etwa das Gesundheits- oder Rentensystem. In der ARD, einem von vielen als seriös eingestuften Medium, wirkt das erst recht normalisierend. Die Gefahr liegt in der Etablierung rechtsradikaler Narrative.

Welche weiteren Beispiele für solche Begriffe und Vorstellungen gibt es?

Ich sage nur "Migrationswelle". "Welle", das ist ein Ereignis in der Natur, das dich überkommt und schlimme, ja tödliche Folgen haben kann. Dabei sind wir in der westlichen Welt auch an den Fluchtursachen beteiligt. Deswegen ist dieser Begriff so unpassend. Außerdem handelt es sich um Menschen, die zu uns kommen und Schutz suchen. Wir entmenschlichen mit solchen Begriffen. Genauso das Wort "Migrationskrise". Das wird so oft verwendet. Aber es ist nicht die Schuld der Migrant*innen, dass unsere Schulen marode sind, dass uns Lehrkräfte fehlen, dass die Mieten zu hoch sind. Da werden viele Dinge miteinander vermischt. Wir Medienschaffende reflektieren oft zu wenig, übernehmen solche Begriffe und Narrative zu leicht oder ordnen zu wenig ein.

Einerseits sind es Begriffe, andererseits aber auch bestimmte Kontexte..

Deutschland ist ein Einwanderungsland, meistens wird das Thema Migration aber nur im Zusammenhang mit Problemen wie Kriminalität betrachtet. Selten im Kontext der Menschen, die hier leben, arbeiten und ganz unaufgeregt ihre Kinder großziehen.

Hat dies auch reale Auswirkungen?

Vorurteile verstärken sich. Mehr noch: die Mitte-Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung 2022/23 hat gezeigt, dass rechtsextreme Einstellungen stark angestiegen und immer weiter in die Mitte der Gesellschaft gerückt sind. Laut der Studie "Lauter Hass, leiser Rückzug" des Kompetenznetzwerks gegen Hass im Netz, in dem auch die Neuen deutschen Medienmacher*innen mitgewirkt haben, sind besonders häufig Menschen mit Migrationshintergrund, junge Frauen und Menschen mit homosexueller oder bisexueller Orientierung von Hass im Netz betroffen. Die Folge ist, dass sich viele aus Angst aus demokratischen Diskursen zurückziehen. Die deutlichste Auswirkung ist aber, dass Angriffe und Gewalt gegenüber migrantischen Menschen in Deutschland zugenommen haben. Ein Aufschrei der Gesellschaft bleibt hier allerdings aus. Das hat sicherlich auch damit zu tun, wie wir über diese Gruppen sprechen. Sprache ist Handeln. Von daher tragen wir als Journalist*innen eine enorme Verantwortung.

Was könnten Medien anders machen?

Nicht über Menschen sprechen, sondern mit ihnen. Wir brauchen mehr migrantische Stimmen in der Berichterstattung und eine kontinuierliche und differenzierte Berichterstattung. Wir sollten auf Framings achten und nicht kritiklos Aussagen und Begrifflichkeiten aus der Politik übernehmen. Außerdem müssen wir sorgsam mit Sprache umgehen, das ist unser Handwerk und eigentlich eine Selbstverständlichkeit. Das sind Grundlagen des Qualitätsjournalismus.

Gibt es auch Medien, die es richtig machen?

Es gibt grundsätzlich immer wieder gute, in unserem Sinne, ausgewogene Berichterstattung und Journalist*innen, die sich Mühe geben. Ich möchte aber ungern einzelne Medienhäuser nennen, weil es nicht immer gleichbleibend ist. Das Netzwerk Recherche ist sehr aktiv und Correctiv macht auch nach wie vor sehr gute Arbeit. Auch "Cosmo", ein mehrsprachiges Radioprogramm der ARD ist ein gutes Beispiel. Es gibt schon einige Initiativen, da steckt viel Enthusiasmus dahinter.

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