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Vor ein paar Jahren habe ich im Ostseeurlaub zufällig vom Strand aus eine Regatta beobachtet und gar nichts verstanden. Das Chaos der Segelmasten sah aus, als hätte jemand ein gigantisches Mikadospiel auf dem Meer ausgeschüttet. Auch nach längerem Zuschauen hat sich mir nicht im Ansatz erschlossen, nach welchen Regeln das Ganze funktioniert und vor allem welchen Kurs die unzähligen Boote fahren. Verglichen damit kam mir Autoscooter wie eine wohlgeordnete Angelegenheit vor.
Ich finde, die Malerin Helen Frankenthaler fängt dieses Durcheinander in ihrem Gemälde "Regatta" gut ein. Etliche Linien erstrecken sich nach oben in das Blau, die Assoziation von Masten am Himmel oder über dem Meer drängt sich auf. Allerdings ist kein einziges Boot oder Segel konkret zu erkennen. Dieses Bild könnte ebenso gut ein farbenfrohes Stachelschwein darstellen oder ein Tiefseewesen mit Tentakeln. Genau diese Offenheit macht für mich die Faszination abstrakter Kunst aus, hier gibt es keine eindeutige Interpretation.
Das unterscheidet abstrakte Malerei vom Bleigießen, bei dem man in jedem unförmigen Klumpen eine Wolke, einen Felsen oder Drachen erkennen muss. Bei abstrakter Kunst wird uns nicht vorgegeben, was wir zu sehen haben, es geht nicht darum, die Werke restlos zu verstehen. Genauso kann ich die Schönheit des Walgesangs bewundern, ohne ihn zu entschlüsseln.
Helen Frankenthaler ist eine wichtige Vertreterin des abstrakten Expressionismus. Diese Kunstrichtung kam nach dem Zweiten Weltkrieg in den USA auf. Man suchte neue Ausdrucksformen, beispielsweise legte der Künstler Jackson Pollock Leinwände auf den Boden und spritzte, schleuderte, tropfte die Farbe auf das Bild, sogenanntes Action-Painting und ein Alptraum für jedes Parkett – sein Spitzname daher: "Jack the Dripper". Helen Frankenthaler entwickelte die Malweise "Soak-Stain" (Tränken-Einfärben). Dabei wird Farbe auf eine ungrundierte Leinwand geschüttet und aufgesogen – wie verschütteter Rotwein von der Tischdecke. So entstehen bei Frankenthaler sanfte, nahezu hingehauchte Farbverläufe, wie man sie auf "Regatta" findet.
Ich hatte kürzlich die Gelegenheit, viele Gemälde von Frankenthaler im Original zu sehen, denn das Reinhard-Ernst-Museum in Wiesbaden widmet ihr aktuell eine Ausstellung (bis 28. September 2025). Dort kann man richtig in Kunst baden, denn oft malt Frankenthaler auf gigantischen Formaten. Einige ihrer Bilder haben deutlich mehr Quadratmeter als meine Küche. Die Künstlerin sagte über ihre Arbeiten: "Ich betrachte meine Bilder als explosive Landschaften, Welten und Distanzen, die auf einer flachen Oberfläche festgehalten sind." Frankenthalers Kunst ist zweidimensional und doch saugt sie uns förmlich ein. Vor ihren Werken zu stehen, fühlt sich an wie ein Bauchklatscher mitten in fantastische Farbwelten.