Man müsste jetzt eigentlich nach Hause fahren. Es ist schon nach acht Uhr abends, die Badetasche ist längst gepackt, die leeren Wasserflaschen verstaut, die nassen Badeanzüge ins klamme Handtuch gewickelt, unser Auto das letzte, das noch am Waldweg steht. Heute Mittag waren hier Tausende, die Luft auf dem Schotterweg staubig, der See ein wogendes Meer. Aber jetzt herrscht hier Frieden.
Der See glatt wie ein Spiegel, die Luft klar, und es ist immer noch ein bisschen hell. Komm, wir hüpfen noch mal rein. Also schnell die feuchten Handtücher noch mal entrollt, runter zum Wasser, noch mal das samtige, weiche Wasser spüren, den leicht modrigen Geruch in die Nase kriegen und wissen: Dieser Duft von abgemähten Feldern, dieses spätsommerlich-milchige Licht, dieses letzte Schwimmen, das wir dem See noch abgerungen haben – das wird uns durch den ödegrauen Herbst, durch den blaukalten Winter tragen. Denn bald ist wieder Schluss mit der Badesaison am See.
Der See im August, wenn der Sommer sich langsam davon stiehlt – der ist nichts für harte Hunde. Der See am Ende vom August, der ist was für Melancholiker. Was war das für ein Sommer, voller viel zu heißer Tage, und doch, Herrgott, das kann doch nicht sein, dass er schon wieder vorbei ist. Wie viele Sommer bleiben uns noch? Aber auch: wie gut, dass der See jetzt allmählich wieder zur Ruhe kommt. Dass mit der Herbstkälte die Temperatur an der Oberfläche sinkt, so dass die obere Wasserschicht nicht länger abgeschieden bleibt vom kühlen Wasser am Grund. Zwei Mal im Jahr durchmischen sich die Wasserschichten eines Sees - im Frühjahr und im Herbst. Diese Zirkulation haucht dem See seinen Sauerstoff ein, hält ihn am Leben.
Dass der See ein Lebensspender ist, ein Wellness-Faktor, ein quietschvergnügtes Gummitier-Paradies – das ist eine neuzeitliche Idee. Dem antiken Menschen war der See vor allem eins: nicht geheuer. Wasser hat nach antiker Vorstellung ursprünglich die Erde bedeckt, bis Jahwe es eingedämmt und zurück getrieben hat. "Seine Erde hat Gott fest über Meeren und Strömen gegründet", heißt es im Psalm 24. Jahwe besiegt seine dämonischen Ungeheuer, gebietet seiner vernichtenden Flut, den dämonischen Wellen, die Seefahrer unter sich begraben. Auch die berühmte Geschichte von Jesus, der über das Wasser läuft (Markus 6,45–52), kann so gelesen werden: als Sieg Jesu über die dämonischen Mächte im Wasser.
Lesen Sie hier, warum mit Wasser getauft wird
Einmal saß ich im nassen Badeanzug am Ufer des See Genezareths. Ich war früh morgens schwimmen gegangen, als der Rest der Israel-Reisegruppe noch bei gesäuertem Brot und Schafskäse am Frühstück saß. Und ich hatte meine Brille am Ufer auf einem Stein abgelegt, den ich nun nicht mehr fand. Da kam Gabriele, die netteste Frau aus der Gruppe. Frühschwimmerin wie ich, Missionarstochter, bibelfest. Erstens fand sie meine Brille. Zweitens wusste sie, dass "auf Wasser laufen" einer der meist gebrauchten Bibelverse ist. Dichter, Popstars, Comedians – alle arbeiten sich ab am Jesus, der auf dem Wasser lief. Und zurück im Gästehaus, mit W-Lan der rheinischen Landeskirche, bewies sie mir: We've found 3,427 lyrics, 33 artists, and 100 albums matching walk on water.
Das Wasser bezwingen - im Gegensatz zum antiken ruft der moderne Freizeitmensch dafür nicht mehr Jahwe an, sondern Zaosu. Oder Sailfish. So heißen die Ausstatter der boomenden Triathlon-Szene. "Endlich wieder im Heiligen Gewässer", postet Christoph, und er meint den Langener Waldsee bei Frankfurt am Main. Christoph teilt der Facebook-Gemeinde nicht etwa mit, dass er seine Tochter am See taufen lässt – was übrigens theoretisch möglich wäre. Nein, Christoph Kaiser ist Triathlet und fährt zum Training immer Donnerstagabends zur "Swimnight". 75 Kilometer mit dem Fahrrad von seiner Heimat Wetzlar nach Langen, ans "heilige Gewässer". Heilig, weil hier einmal im Jahr der große Ironman stattfindet, im selben Wasser wie die "Swimnight".
"Beim ersten Mal", sagt er, "war es katastrophal. Panik pur. Puls 170. Enge in der Brust, Herzrasen." Nicht nur weil der Massenstart zu Platzangst im großen See führen kann. Sondern eben weil es ein See ist. Schwimmen ist mehr als Kachelnzählen, auch so ein Triathleten-Spruch. See ist was anderes als Schwimmbad. See ist, wenn man unter sich glitschige Wasserleichen wähnt. "Das Ding mit den Skeletten, das haben wir alle", schwört der Triathlet, der im zivilen Leben Teamleiter in einem Industriebetrieb ist. So weit weg ist die Panik denn doch nicht vom biblischen Ungeheuer.
Wer bezwingt hier wen, der Mensch den See oder der See den Menschen? Wieder so eine Melancholiker-Frage. Die man vielleicht nur in Frankfurt am Main, der Stadt des Wettbewerbs, so stellen kann. Wer im Frankfurter Bankenviertel morgens gedankenverloren mit der Rolltreppe fährt, wird schon mal weg geschubst, weil beim Dax jede Milisekunde zählt. Ach was, in Nanosekunden rechnet neuerdings der Hochfrequenzhandel. So kommen manche auch zur Swimnight. Mit Rädern, keines unter 3000 Euro, aus dem Bahnhofsviertel die Kennedyallee raus in den Stadtwald, unter den Lufthansa-Fliegern durch, die hier am Frankfurter Kreuz schon ganz tief fliegen. Dann wird der Weg schotterig, heißt Sehringstraße, weil das Kieswerk Sehring diesen See betreibt. Noch sind sie ganz Banker, den Anzug im Rucksack, unter Strom, sagen Sätze wie: "Ich kann heute nicht mit schwimmen, ich habe meine Uhr vergessen". Die Uhr misst, wie lange der Schwimmer braucht für die 900- oder 1800-Meter-Strecke, die der Veranstalter hier mit Bojen abgesteckt hat. Die Uhr zeichnet danach lustige rote Linien in den See auf Google Earth, wie Kreidelinien am Mörder-Tatort. Wer keine Uhr dabei hat, hat den See nicht vermessen, nicht bezwungen. Das ist das eine. Der Mensch macht was mit dem See.
Achtsam in der Natur - warum das gut tut
Das andere ist. Du stehst im Wasser, mit 500 anderen Gestalten, die jetzt keinen blauen Anzug, keine silberne Krawattennadel und kein beiges Etuikleid mehr tragen. Die alle dieselbe gelbe Kappe auf dem Kopf haben – sonst kann das Rettungsboot sie notfalls nicht erkennen. Die, und das ist das beste, ihr teures Handy in einer schnöden Plastiktüte mit Startnummer am Ufer zurück lassen mussten. Wenn jetzt der Dax steigt, in diesen 20 Minuten, dann ist es irgendwie egal, denn jetzt tauchen wir – "20, 19, 18,.—3-2-1 los"! – alle ab. Kloppen und strampeln und boxen uns noch auf den ersten Metern. Und dann ist jeder allein mit dem Wasser. Das wirklich ziemlich trüb ist, dreimal holt die DLRG einen Schwimmer raus, dem es blümerant wurde.
Ja, so ein See, vielleicht birgt er keine echten Dämonen. Aber die in uns drin, die machen jetzt komische Geräusche. Es gluckert, das ist der Nachbar im Überholmanöver, es klopft, das könnte das Herz sein. Oder doch der Magen? Und wer zu lange nachdenkt, ob der rechte Arm und das linke Bein synchron sind, verschluckt sich böse. Selten war die Welt da draußen so weit entfernt. Wenn alle wieder am Ufer sind, sagen sie nichts mehr von "Uhr vergessen". Sondern haben dieses selige Lächeln auf dem Gesicht. Der See, der macht was mit denen.
Dass Bewegung in der freien Natur den Menschen an Körper und Seele gut tut, ist eine Idee der Aufklärung. Erst dann siegte medizinisches Wissen über sittliche und hygienische Bedenken. 1761 wurde das erste Badeschiff in Paris eröffnet, es folgten Wien und Frankfurt am Main. Weil noch niemand schwimmen konnte, wurden die Badegäste in "Aalkästen" ins Wasser gelassen, in Becken und auch in den fließenden Fluss rund um das Badeschiff. Der Massentourismus ans Meer - und für die Arbeiter nach "St Tropez am Baggersee" - setzte sich erst nach dem Zweiten Weltkrieg wirklich durch. Und nur in Deutschland gibt es eine dreijährige Ausbildung zum Schwimmeister, überall sonst auf der Welt erledigen diesen Job, wenn überhaupt, Rettungsschwimmer.
Einer von ihnen ist Mario Beutsch, der über seinen Langener Waldsee keine lyrischen Worte verlieren will, "das ist hier ein Arbeitsplatz". Der "schönste der Welt", ja, das schon. Früher war er Schwimmeister im feinen Seedammbad in Bad Homburg, alles sauber, alles steril, für die Wasserqualität war die eine Firma zuständig, fürs Drehkreuz am Eingang die nächste. Hier am Langener Waldsee, "da gibt’s nur uns drei. Totale Freiheit".
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Einer reißt Eintritts-Billets von einer großen roten Papierrolle ab. Die anderen zwei machen den Rest. Morgens Gänse-Kacke weg räumen, abends Maoam-Papiere einsammeln. Bei schönem Wetter 20000 Köpfe im Blick behalten. Bei Regen einfach mal den Hänger beladen und im Gelände rumfahren, Sträucher beschneiden. Der Bademeister ist hier eine Art Ranger. Kein Wunder, dass der schönste Arbeitsplatz der Welt, eine Bretterbude oberhalb von See, wenig Inneneinrichtung braucht. Ein schepperndes Funkgerät, ein Fernglas, eine Sonnenmilch, auf der mit Edding "Mario" steht, ein Kermit der Frosch. Der Rest ist Natur-Kino. Wasser, Sand, Bäume.
Wenn Mario Beutsch das letzte Mal im September die Duschen sauber macht, das Wasser abstellt, die Leinen rein holt und dann das Tor abschließt. "Dann bin ich froh, weil der Sommer anstrengend war." Aber schon nach vier Wochen im Hallenbad denkt er: "Könnte wieder los gehen am See."
Eine erste Version des Textes erschien am 26. Juli 2017