Der heilige Dionysius war mir schon immer ein Rätsel und eine Herausforderung, seit meiner Kindheit also, seit ich, als Achtjähriger vielleicht, zum ersten Mal an der Hand meiner Mutter durch die Gnadenpforte in den Bamberger Dom gegangen war und dort, auf einer Säule, die Statue des Heiligen erblickt hatte. Er trug ein Bischofsgewand am Körper und eine Mitra auf dem Kopf, aber seinen Kopf trug er in den Händen, was mich einerseits erschreckte und verstörte. Und andererseits sah es aus, als ob der heilige Dionysius keinen Schmerz empfände. Er sah sogar aus, als ob er lächelte.
Claudius Seidl
"Was ist ein Heiliger?", fragte ich.
"Dionysius ist nicht nur ein Heiliger. Er ist auch ein Märtyrer."
"Was bedeuten diese Wörter?"
"Ein Heiliger ist ein Mensch, der so gottgefällig gelebt hat, dass wir Christen ihn verehren. Ein Märtyrer ist einer, der für seinen Glauben gestorben ist."
"Kann ich auch ein Heiliger werden?"
"Sei brav, das reicht schon."
Meine Eltern waren sehr katholisch, ich fand zu Hause tatsächlich ein Buch, in dem das Leben der wichtigsten Heiligen verzeichnet war. Dionysius, so stand dort, war Bischof von Lutetia zu einer Zeit, als das Römische Reich noch heidnisch war. Der gallische Statthalter verurteilte ihn zum Tod; man steckte ihn in einen Backofen, der sofort erlosch. Man hängte ihn an ein Kreuz, von dem er lebendig wieder herunterstieg. Schließlich schlugen sie ihm den Kopf ab auf dem Montmartre, der eben deshalb so heißt: mons martyrium. Und Dionysius stand auf, nahm seinen Kopf in die Hände und wanderte zwei Meilen nach Norden bis zu dem Ort, wo er begraben werden wollte. Und der dann, ihm zu Ehren, Saint-Denis genannt wurde.
Ich gab nach der Lektüre den Berufswunsch, Heiliger und Märtyrer zu werden, sofort auf, träumte von einer Karriere als Raumschiffkapitän, wurde Ministrant und schließlich erwachsen, und erst als ich alt genug war, an meinem Glauben stark zu zweifeln, belesen und geschult genug, mich mit der Kunst und deren Geschichte zu beschäftigen, und ruhig genug, mal eine ganze Stunde in diesem Dom zu verbringen, eröffnete sich mir ein neuer Blick auf den Heiligen. Ich könnte auch sagen: Es offenbarte sich mir zumindest eine Ahnung davon, was das Heilige sein und was es mich angehen könnte.
"Ich schaute auf das Heilige; es hatte das Werk beseelt, und jetzt beseelte es mich"
Es war nicht nur der heilige Dionysius. Es waren Adam und Eva, Heinrich und Kunigunde am Adamsportal. Es war das Jüngste Gericht auf dem Tympanon des Fürstenportals.
Es war aber ganz besonders der heilige Dionysius, der, wenn ich ihn betrachtete und darüber nachdachte, wen oder was ich da sah, mir zu antworten schien. Im einen Moment glaubte ich, Zeitgenossen vor mir zu haben, Körper, Gesichter, Mienenspiele, wie sie mir auch draußen, auf den Straßen und in den vielen Wirtshäusern der Stadt begegnen konnten. Bodenständig, sinnlich, lebenstauglich.
Und im nächsten Moment kam die Erkenntnis, dass es mehr als siebenhundert Jahre waren, die nicht nur meine Blicke beim Betrachten des Heiligen überwanden. Er schaute ja zurück, er hatte mir etwas zu sagen, er bezeugte mit dem Lächeln auf seinem abgeschlagenen Kopf ein Gottvertrauen, das siebenhundert Jahre spielend überwand.
Ich schaute nicht einfach auf das Werk eines begabten Bildhauers und die Beständigkeit des Steins. Ich schaute auf das Heilige; es hatte das Werk beseelt, es hatte die Zeit, die zwischen ihm und mir lag, beseelt, und jetzt beseelte es mich.
An einem dunklen Wintertag vor ein paar Jahren besuchte ich den heiligen Dionysius mal wieder. Ich nahm mein Telefon heraus, wollte ein Foto machen, das Blitzlicht, das ich ausgeschaltet hatte, leuchtete auf, dann war der Akku, den ich eben erst geladen hatte, leer. Ich ging zu meinem Auto, wo ich das Telefon laden wollte, aber der elektronische Schlüssel funktionierte nicht. Es war kalt, ich fror, ich war verwirrt und ging erst einmal in ein Café, wo ich nachdenken und mich beruhigen wollte. Nach fünf Minuten klingelte das Telefon. Niemand war dran, der Akku zeigte einen guten Ladestand an.
Und der heilige Dionysius auf dem Foto war sehr gut getroffen.