Kolonialismus in Kirchenmusik
Gott steckt in den Liedern
In Tansania erlebte Sarah Vecera bei einem bestimmten Lied einen heiligen Moment – ­seitdem liebte sie es. Später änderte sich das
Zwei illustrierte Figuren, die auf Noten und Fragezeichen blicken
AHAOK
Sarah VeceraPrivat
12.05.2024

Nach der Schule ging ich für ein Jahr nach Tansania. Sonntags besuchte ich die Evangelisch-Lutherische Kirche. Die Melodien der Lieder waren mir alle vertraut, allerdings war der Text auf Suaheli. Zum ersten Mal wurde mir bewusst, dass diese Kirche von Deutschen in der Kolonialzeit gegründet wurde und daher die Lieder unseres Evangelischen Gesangbuchs bis heute übersetzt und gesungen werden.

Ich wurde mit der erschreckenden Kontinuität der ­Kolonialzeit konfrontiert. Und gleichzeitig vermittelten die Lieder mir etwas Vertrautes in der Ferne. Ich kannte sie seit meiner Kindheit und sie gaben mir das Gefühl von Verbundenheit. Heute ist es bei einem Lied genau andersherum. Wenn ich es auf Deutsch höre, singe ich es innerlich auf Suaheli mit, weil es zu jedem Gottesdienst meiner ­tansanischen Gemeinde zu Beginn gesungen wurde. Die Gemeinde am Victoriasee war voll und wuselig, aber es gab einen ­Moment, an dem die gesamte Aufmerksamkeit auf das Kreuz und nach ­innen gerichtet war.

Es war der Moment zu Beginn, an dem die ersten ­Töne von "Gott ist gegenwärtig" (EG 165) erklangen. Eine volle, ­laute ­Kathedrale mit bis zu 1000 Menschen wird ­plötzlich still und es ist so, als ob Gott selbst in diesem Moment die ­Kirche betritt und begrüßt wird. Es war ein ­heiliger Moment. Solch einen Moment kannte ich aus meiner evangelisch-­rheinländischen Prägung nicht. Die ­Menschen hielten inne und ich selbst spürte: Das hier ist mehr als ein gemeinschaftliches Treffen. Ich war Teil einer Menschengruppe, die tatsächlich darauf hoffte und vertraute, dass Gott mitten unter uns ist. Der Vers "Wenn zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, werde ich mitten unter ihnen sein" bekam eine reale Bedeutung.

Im Laufe meines Jahres in Tansania ist mir diese Vergegenwärtigung so wichtig geworden, dass ich sie mit nach Deutschland genommen habe. In fast all meinen ­Andachten und Gottesdiensten suchte ich mir dieses Lied aus. Um mich herum war es nie so wie in meiner ­Gemeinde in Tansania, aber innerlich half es mir, mich darauf einzulassen, Gott willkommen zu heißen.
Und dann, Jahre später, begegnete mir das Lied indirekt noch einmal. Afroamerikanische Frauen machten mich auf das Problem eines weiß*-männlichen Gottesbildes aufmerksam, welches noch problematischer wird, wenn ich mir als Schwarze Frau vorstellen soll, vor einem weißen Mann niederzuknien: mit der Geschichte der Sklaverei Amerikas im Hinterkopf undenkbar. Und diese Problemanzeige kam nun auch noch mal durch die ForuM-­Studie in Deutschland neu auf.

Lesen Sie hier: Warum beten wir? Und hilft es?

Mit Gott verbinde ich eine Macht, die Auswirkungen auf mein Leben und die Welt hat. Zu viele weiße Männer habe ich jedoch in Situationen erlebt, in denen sie ihre Macht nicht mehr unter Kontrolle ­hatten und Macht missbraucht haben – im politischen, gesellschaftlichen und kirchlichen Bereich. So will ich Gott nicht sehen und frage mich daher, ob es noch o. k. ist, wie in der achten Strophe des Liedes zu singen: "Herr, komm in mir wohnen, (. . .) lass mich dich erblicken und vor dir mich bücken." Lieder kreieren auf unbewussten Ebenen meine Vorstellung von Gott. Für Frauen, Schwarze ­Menschen, Betroffene von sexualisierter Gewalt und andere vulnerable Personen können solche Liedtexte retraumatisierend sein. Und ich frage mich auch, ob es überhaupt gut ist, sich Gott als weißen Herrscher vorzustellen – wie es ja vor allem Kinder oft tun. Wenn ich mir die aktuell herrschenden weißen Männer dieser Welt anschaue, hat das wenig mit meinem Gottesbild zu tun.
Ich möchte dazu beitragen, dass Kirche ein Ort ist, an dem Menschen heil werden können und geschützt sind. Gleichzeitig fällt es mir schwer, mich von alten Dingen, wie diesem Lied, eventuell verabschieden zu müssen, weil es mir persönlich doch so lieb und vertraut ist. Die zitierte Strophe werde ich daher definitiv nicht mehr ­singen; ob ich die anderen Strophen noch singen werde, weiß ich noch nicht. Vielleicht trete ich dazu noch mal in den ­Austausch mit Betroffenen sexualisierter Gewalt.

*"Schwarz" wird als Selbstbezeichnung großgeschrieben, "weiß" kursiv und klein, um die Unterdrückungserfahrung umzudrehen.

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Liebe Sarah Vecera, ich habe mit großer innerer Bewegung Ihren Beitrag in der aktuellen "chrismon plus", die ich abonniert habe, gelesen und möchte mit Ihnen meine Erfahrungen, Empfindungen und Gedanken teilen. Vor vielen Jahren (2003) habe ich als Ehrenamtler (alter weißer Mann) mit den "German Doctors" ein paar Monate auf den Philippinen (Mindanao) einen Einsatz geleistet und dort sehr oft (katholische)Gottesdienste oder auch nur Kirchen besucht. Ich selbst bin Christ aber aus vielen Gründen ohne Kirchenbindung. Jetzt mein Punkt: mir fiel es auch damals schon auf, und ich war entsetzt darüber, dass alle(!!!!) Christusdarstellungen einen WEIßEN CHRISTUS zeigten. Peinlich ist zu harmlos. Entsetzt war ich und bin es bis heute. Was haben die Conquistatores und Missionare für schreckliches Handwerk ausgeübt! Schon vor über 20 Jahren hat mich das fertig gemacht und heute nicht minder. Ich bin so dankbar dafür, dass Sie sich aus vielerlei Gründen und auf vielen Ebenen mit dieser Thematik befassen.
So, das musste jetzt raus. Endlich habe ich mit Ihnen/ in Ihnen die richtige Adresse für meinen Kummer und meine Empörung gefunden.
Mit herz-lichen Grüßen
Armin Kröning