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Seit meiner Kindheit schwirren um mich und in mir Spruchbänder mit unterschiedlichen Weisheiten, Verboten und Geboten. Manche sind aus der Bibel, manche habe ich leibhaftig an der Wand gesehen: in der Universität oder mit weißer Schrift auf roten Transparenten: Der Marxismus ist allmächtig, weil er wahr ist. Das durfte man bei der Uniprüfung nicht im Konjunktiv beantworten. Also man durfte nicht sagen, Lenin ist der Meinung, der Marxismus sei allmächtig, weil er wahr wäre. Ich kann Ihnen nur eine Zwei geben, sagte dann die Dozentin mitleidig: Lenin ist nicht nur der Meinung, sondern es ist so. Manche wurden mir aber auch gesagt oder geschrieben, ins Gesicht oder per E-Mail.
So oft habe ich dann gedacht: Wehre dich, lass dir das nicht gefallen, wenn du dazu schweigst, wird die andere immer unverschämter, du musst deine Grenzen schützen, das wird sonst immer schlimmer, der andere wird sonst immer ungehemmter in seinen Beleidigungen, merkt ja, dass er das mit dir machen kann und nichts passiert. Der leugnet doch alle seine Beleidigungen dir gegenüber. Immer ohne Zeugen, damit er sagen kann: Alles gelogen, kein Wort wahr, alles ausgedacht.
Und dann habe ich gedacht, du darfst auf keinen Fall spontan wirklich sagen oder schreiben, was andere dir mit bitteren Worten gesagt oder geschrieben haben: Mit dir rede ich nicht mehr, ich rufe bei euch nur noch an, wenn ich ganz sicher bin, dass du nicht zu Hause bist, du bist für mich gestorben, ich komme nur noch, wenn du nicht zu Hause bist. Und wenn mich jemand deshalb fragt, sage ich einfach: Zufall, da musst du durch. Einfach mit dem andern nicht mehr sprechen, als ob er eine Glaswand ist. Du bist für mich tot.
Das versteinerte Gesicht mit zusammengepressten Lippen, das war deine Mutter. Ein Menschenleben kann nämlich so beginnen: Tat und Vergeltung.
Ich nahm mir für diesen Text vor, über Auge um Auge nachzudenken. Darum kam mir ein Ehepaar wie gerufen, das sich im ICE in die Reihe vor mir setzen wollte. Der Ehemann fragte mich, noch im Stehen, ob ich es bin, und die Ehefrau sagte, dass sie alle meine Bücher gelesen habe. In den folgenden zwei Stunden blieb er stehen, stützte sie, damit sie sich im Sitzen umdrehen konnte, und sprach mit mir. Als sie sagte, dass sie Pastorin war, stellte ich gleich meine Frage nach Auge um Auge.
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