chrismon: Am 8. Dezember 2024 floh der Diktator Baschar al-Assad aus Syrien. Ex-Rebellenführer al-Scharaa bildete eine Interimsregierung. Kürzlich wurden bei Übergriffen offizieller syrischer Sicherheitskräfte und islamistischer Milizen nach Medienberichten mehr als 1000 Menschen getötet und teils auf offener Straße hingerichtet. Konnten Sie sich vor Ort informieren, was passiert ist?
Joseph Kassab: Mein Dienstsitz ist in Beirut im Libanon. Aber ich bin täglich in Kontakt mit unseren 80 evangelischen Gemeinden in Syrien. Ich war auf dem Weg nach Syrien, aber dann wurde die Reise aufgrund der Gewalttaten verschoben. Ich hoffe, ich kann sie bald nachholen.
Joseph Kassab
Was hat die Gewalt ausgelöst?
Man muss wissen, dass an der Mittelmeerküste zwei Bevölkerungsgruppen stark vertreten sind. Das sind zum einen die Alawiten. Dieser Gruppe gehört auch Assad an. Zum anderen sind es Sunniten. Beide Gruppen stellen etwa die Hälfte der Einwohner in der Küstenregion. Soweit mir bekannt ist, kam es zu einigen Übergriffen von Assad-Anhängern auf Vertreter des neuen Regimes und auf Armeeangehörige. Diese Übergriffe lösten einen sunnitischen Mob aus. In Moscheen wurde zum Dschihad aufgerufen, zum sogenannten "Heiligen Krieg". Die Gewalt ging dann nicht nur von syrischen Sunniten, sondern auch von islamistischen Kämpfern aus, die aus anderen Ländern nach Syrien gekommen waren. Ich habe gehört, 1700 Menschen seien umgebracht worden, größtenteils Alawiten. Einige Beobachter sagen, die Gewalt gehe weiter, wenn auch auf geringerem Niveau. Ich glaube das aber nicht. Es scheint wieder ruhig zu sein.
Wie geht es den Christinnen und Christen in Syrien?
Das neue Regime weiß, dass sie keine Gefahr für die neuen Machthaber in Damaskus darstellen. Christen bilden in keiner Region Syriens die Mehrheit und haben keine politischen Ambitionen. Das Regime hat kein Interesse, sie zu verfolgen. Aber es geht ihnen nicht gut, besonders nicht nach den Gewaltexzessen am Mittelmeer. Auch die Kurden im Norden und die Drusen im Süden des Landes sind verunsichert. Viele Menschen - auch die Christen - hatten den Traum von einem säkularen, zivilen Staat, der Menschenrechte achtet. Aber dieser Traum scheint ausgeträumt zu sein. Es gibt die Befürchtung, dass die Situation sich rasch verschlechtern kann.
Dabei war im Dezember die Hoffnung groß, der neue Machthaber al-Scharaa könnte die Minderheiten schützen ...
Unter den Rebellen sind auch islamistische und dschihadistische Kräfte. Wie werden sie sich verhalten? Wie al-Qaida? Oder wie der sogenannte Islamische Staat? Oder die al-Nusra-Front? Man wusste es nicht. Mein Eindruck war, dass regionale und internationale Mächte, die ebenfalls gegen Assad kämpften, ihnen klargemacht hatten: Ihr könnt das Land nicht übernehmen, wenn euch Rachegedanken umtreiben. Das war noch im Februar meine Hoffnung. Die Gewalt gegen Alawiten hat mich entsetzt und desillusioniert.
Wie kann es weitergehen in Syrien?
Insgesamt ist die Sicherheitslage in Syrien brisant. Entführungen und Überfälle sind in vielen Regionen an der Tagesordnung, aber das ist eine Bedrohung für alle Menschen in Syrien, nicht nur für Minderheiten oder Assad-Anhänger. Es herrscht noch immer Chaos, und niemand weiß wirklich, wie das Syrien der Zukunft aussehen wird.
Welche Möglichkeiten gibt es?
Wird es ein islamistischer Staat sein? Eine weltliche Demokratie? Wir wissen es nicht. Und mein Eindruck ist: Die jetzigen Machthaber wissen es auch nicht. Meine These ist, dass sie in Kontakt zu Nachbarstaaten wie der Türkei und auch zu europäischen Staaten stehen, deren Ratschläge sie befolgen. Auch Katar und Saudi-Arabien üben einen großen Einfluss aus. Syrien ist ein armes Land, die Machthaber können Staatsbedienstete nicht bezahlen. Assad-treue Mitarbeiter wurden entlassen, sie sitzen ohne Gehälter oder eine Pension zu Hause. Tausende Familien müssen ohne jedes Einkommen leben.
"Wenn jemand behauptet, dass die eigenen Überzeugungen direkt von Gott kommen, ist das gefährlich"
Joseph Kassab
Eine Gefahr ist und bleibt: Die neuen Machtinhaber sind zum Teil islamistisch geprägt. Wie schätzen Sie die Risiken ein?
Alle politischen Ideologien vertreten das, was sie für richtig halten. Aber wenn jemand von sich behauptet, dass die eigenen Überzeugungen direkt von Gott kommen, ist das immer gefährlich. Es gibt nicht den einen Islam, sondern unzählige Traditionen. Welche Interpretation des Islams sich durchsetzen wird, ist offen. Es wird auch davon abhängen, ob und wie ausländische Mächte sich einmischen und ob die Europäische Union, die Syrien Hilfe in Milliardenhöhe zugesagt, die Gelder an Bedingungen knüpft. Fest steht für mich: Wenn sich in Syrien ein politischer Islam und ein islamistisches Regime durchsetzen, wird es keinen stabilen Frieden mit Israel geben. Und klar ist auch: Christen können in muslimischen Ländern leben. Aber in einem islamistischen Staat hätten sie keine Zukunft.
Um den Wiederaufbau stemmen zu können, ist die Regierung in Syrien auf alle Menschen angewiesen – unabhängig vom Glauben. Könnte das eine Art Sicherheitsgarantie für Minderheiten sein?
Ich bin fast sicher, dass Minderheiten in Syrien vorerst keine Verfolgung aus religiösen Gründen droht. Die neuen Machthaber haben aber ein Triumphgefühl. Das ist vor allem eine Gefahr für Alawiten, die besonders von der sunnitischen Mehrheit der Bevölkerung ausgeht – unter ihnen viele schwer traumatisierte Menschen, die unter Assad im Gefängnis saßen. Das hat der entfesselte Mob nun leider auch gezeigt.
Was macht Ihnen Hoffnung?
Der Einfluss der syrischen Diaspora kann noch zu einem Segen werden. Hunderttausende Syrerinnen und Syrer sind nach Europa geflohen und erfahren dort seit Jahren, wie gut es ist, in Gesellschaften zu leben, die Menschenrechte achten. Ich hoffe, dass die Auslandssyrer einen guten Einfluss haben werden.
Passen Islam und Demokratie zusammen? Unser Kolumnist Mouhanad Khorchide gibt Antworten.
Werden viele zurückkehren?
Das weiß ich nicht. Nach der jüngsten Gewalt ist das fraglich. Aber manchmal ist die Diaspora einflussreicher als die Menschen, die im Land geblieben sind.
Wie viele syrische Christen leben heute in Europa, weil sie geflohen sind?
Es gibt leider nur Schätzungen. Vor dem Bürgerkrieg machten Christen zehn Prozent der syrischen Bevölkerung aus. Heute sind es noch zwei Prozent. Mindestens 1,2 Millionen Christen haben Syrien verlassen. Die meisten davon sind nach Europa gegangen – nach Deutschland, in die Niederlande, nach Schweden. Viele sind jung und gut ausgebildet. Ich glaube nicht, dass sie zurückkehren werden. Wenn sie Einfluss auf ihr Heimatland nehmen, dann von anderen Teilen der Welt aus.
Gibt es Orte, Städte oder Regionen in Syrien, in denen heute die meisten Christen leben? Oder sind die Gemeinden übers ganze Land verteilt?
Christen sind im ganzen Land verbreitet. Sie leben im Norden, Süden, Osten und Westen. Wir sollten nicht vergessen, dass die christliche Präsenz in Syrien bis in die frühe Zeit des Christentums zurückreicht. Es ist ganz natürlich, sie in jedem Teil des Landes zu finden.