Syrien
"Wenn ich nicht antworte, bin ich tot"
Meine Freundin Leila ist Alawitin und stand früher auf Assads Seite. Vergangene Woche haben islamistische Kämpfer Hunderte Alawiten ermordet - in Leilas Nachbarschaft Wie geht es ihr? Gibt es trotz allem Hoffnung?
Nach den koordinierten Angriffen auf die syrischen Küstengouvernements Latakia und Tartus durch Assad-Loyalisten in der Hafenstadt Tartus an der syrischen Mittelmeerküste am 10. März 2025 hat sich der Alltag wieder normalisiert
Nach dem Massaker im Nordwesten Syriens haben viele die Hoffnung verloren. Ob es gelingt, ein neues Syrien für alle zu schaffen?
Tamam Jerbi / Anadolu / picture alliance
13.03.2025
4Min

"Khalid, erinnerst du dich?", fragte meine Freundin Leila am Freitag. Vor vier Jahren hatte sie mir geschrieben. "Wenn ich dir nicht mehr antworte, dann hat das Regime mich ins Gefängnis gesteckt." Vergangenen Freitag schrieb sie: "Wenn ich nicht antworte, dann bin ich tot."

Leila ist eine Freundin von mir, sie lebt in Syrien in der Stadt Tartus an der Mittelmeerküste – also dort, wo am vergangenen Freitag viele Hundert Menschen getötet wurden. Ich kenne sie seit der Revolution, also seit 14 Jahren. Laila und ich hatten damals sehr unterschiedliche politische Auffassungen. Sie ist Alawitin wie der frühere Diktator Baschir Al-Assad und seine Familie, und sie war Anhängerin des Assad-Regimes wie die meisten Alawiten und die meisten Menschen in der Region um die Stadt Tartus, wo die Revolution quasi nicht stattgefunden hat.

Ich war in der Opposition, musste damals viel reisen, floh in die Türkei, nach Jordanien und schließlich nach Deutschland. Leila blieb, und sie blieb auch bei ihrer Haltung. Wir blieben trotzdem in Kontakt. Wir wussten, dass keiner von uns Blut an den Händen hatte, und konnten einander deswegen achten.

Leila hatte immer davon geträumt, Journalistin zu werden. Als die wirtschaftliche Lage in Tartus schwierig wurde, erinnerte sie sich an diesen Traum. Sie ist Mutter von zwei Kindern und wollte etwas Geld verdienen. Sie kontaktierte eine Produktionsfirma und bekam den Auftrag, in den Straßen der Stadt zu filmen und die Meinung der Menschen einzuholen. Die Firma veröffentlichte ihr Video auf einem oppositionsnahen syrischen Kanal. Das wurde ihr zum Verhängnis. Sie meldete sich bei mir um zu erfahren, was passieren könnte.

Wenig später schrieb sie: "Wenn Du nichts mehr von mir hörst, dann bin ich im Gefängnis." Genau das geschah. Das Regime verhaftete sie, obwohl sie aus Assads Anhängerschaft und Konfession stammt und Mutter zweier Kinder ist. Nach einigen Monaten wurde sie freigelassen, doch sie sagte mir nur: "Ich werde dir eines Tages alles erzählen, aber jetzt kann ich nicht." Dann löschte sie meine Freundschaft auf den sozialen Medien.

In der Nacht, als Assad stürzte, erhielt ich eine neue Freundschaftsanfrage von ihr. Sie schrieb: "Jetzt gibt es keine Angst mehr, und ich kann mit dir sprechen..." Sie hatte gerade erfolgreich eine Krebsbehandlung hinter sich gebracht – das Geschwür war vermutlich eine Folge des psychischen Drucks und der Folter, die sie in den Gefängnissen des Assad-Regimes erlitten hatte. Sie hatte das Gefühl, dass jetzt ein neues Leben anfing.

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Vergangenen Freitag kam dann der Schock. Die "Neue Syrische Armee" startete eine Offensive an der syrischen Küste, nachdem verbleibende Offiziere und Soldaten des Assad-Regimes Menschen entführt und ermordet hatten. Die britische Zeitung "The Guardian" berichtete, dass Assad-Anhänger 383 Menschen töteten, darunter 211 Zivilisten und 172 Sicherheitskräfte des syrischen Regimes. Und dass die Sicherheitskräfte des Regimes 396 Menschen töteten, darunter Zivilisten und unbewaffnete Kämpfer. Der Guardian beruft sich auf das "Syrian Network for Human Rights (SNHR)", das als unabhängige Organisation gilt und strenge Dokumentationsstandards anwendet.

Ich musste sofort an Leila denken, die Gräuel fanden in ihrer Nachbarschaft statt. Sie schrieb zurück: "Falls ich nicht antworte, werde ich unter den Getöteten sein. Wir haben versucht, in diesem Land würdevoll zu leben, aber es scheint keine Hoffnung mehr zu geben..." Ich versuchte, sie zu beruhigen und ihr Hoffnung zu geben, indem ich mich auf die Erklärungen von Ahmad Al-Sharaa und der neuen Führung bezog und die Bildung eines Untersuchungsausschusses erwähnte. Leila war nicht die Einzige, die die Hoffnung verloren hatte. Auch für Freundinnen, die von Anfang an die Revolution unterstützt hatten, war der Freitag ein schwarzer Tag.

Seit Montagabend ist wieder ein bisschen Hoffnung zurückgekehrt. Vielleicht gelingt es doch, ein neues Syrien für alle zu schaffen. Die neue Regierung und die "Demokratische Kräfte Syriens", die das kurdische Gebiet und den Nordosten des Landes kontrollieren, konnten sich einigen. Im Laufe der Woche wuchs die Hoffnung weiter, nachdem ein Abkommen zwischen der neuen syrischen Regierung und den Fraktionen in der mehrheitlich drusischen Stadt Suwayda bekannt gegeben wurde.

Letztendlich bleibt die einzige Lösung für Syrien eine Verfassung, die die Würde aller wahrt, ihre Rechte auf Leben und freie Meinungsäußerung schützt und zur Gerechtigkeit für die Familien der zivilen Opfer beiträgt – sowohl für diejenigen, die bei den jüngsten Ereignissen an der Küste ums Leben kamen, als auch für jene, die in den letzten 14 Jahren durch die Verbrechen des Assad-Regimes getötet wurden.

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