Herr Alaows, Sie sind vor fast zehn Jahren aus Syrien nach Deutschland geflüchtet. Nun ist Assad überraschend gestürzt. Wie geht es Ihnen mit der Situation?
Tareq Alaows: Es ist eine Mischung aus großer Freude und tiefer Unsicherheit. Einerseits ist es ein historischer Moment: Das Regime, das uns verfolgt, getötet und bombardiert hat, ist endlich gestürzt und hat keine Kontrolle mehr über unser Leben. Diese Entwicklung macht Hoffnung auf Demokratie und Freiheit, die für uns ein lang ersehnter Traum sind. Andererseits gibt es auch große Ängste, denn was die Zukunft bringen wird, ist völlig unklar.
Tareq Alaows
Wie vorsichtig sollte man mit der islamistischen Gruppierung Hajat Tahrir al-Scham (HTS) sein?
Man muss äußerst vorsichtig sein. Wir sprechen tatsächlich über islamistische ideologische Gruppen, die gerade die Macht in Syrien anstreben. Auch wenn der islamistische Rebellenführer Abu Mohammed al-Dschulani sich als moderater Politiker darstellt, ist seine Vergangenheit fragwürdig. Abgesehen von seiner islamistischen und dschihadistischen Vergangenheit hat er in Syrien eine islamistische Gruppe gegründet, nämlich Al-Kaida. So ist auch die HTS entstanden. Er hat seine Kritiker mit Gewalt bekämpft und viele Menschen verhaftet. Wenn er jetzt von der Befreiung von Gefängnissen spricht, stellt sich natürlich die Frage, ob das auch für seine eigenen Gefängnisse gilt? Werden auch seine Kritiker freigelassen, oder müssen sie weiterhin in Gefängnissen ausharren?
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Was bedeutet der Machtwechsel für ethnische und religiöse Minderheiten in Syrien?
Die Situation ist jetzt schon besorgniserregend. Es werden bereits Racheaktionen befürchtet. Das alte Regime hat sich als Schutzmacht für Minderheiten inszeniert und damit Propaganda betrieben. Tatsächlich entstand ein Narrativ in der Öffentlichkeit, dass Assad und die Minderheiten gemeinsam einen Krieg führten. Dieses Narrativ könnte dazu führen, dass Menschen sich bemächtigt fühlen, Rache an Minderheiten nehmen – was keinesfalls geschehen darf. In Syrien sind viele Waffen in Umlauf. Daher ist die Frage der Sicherheit für die Minderheiten besonders brisant.
Wollen viele Syrerinnen und Syrer zurückkehren? Ist es überhaupt sicher dort?
Die Frage ist schwierig, weil man zwischen Wollen und Können unterscheiden muss. Emotional würde ich sagen, dass ich gerne zurückkehren würde. Aber man muss die Frage rational beantworten. Man weiß nicht, in welche Richtung sich das Land entwickelt und es herrscht keine Sicherheit dort. Es ist keine Entscheidung, die man leichtfertig treffen kann, und in der aktuellen Situation halte ich es für unverantwortlich, wenn die deutsche Politiker eine Rückkehr als generelle Option darstellen.
Es gibt Forderungen unter anderem von der CSU, Syrer aus Deutschland abzuschieben. Wie bewerten Sie das?
Ich hatte von der deutschen Politik erwartet, dass sie über den Wiederaufbau spricht, über Unterstützung der syrischen Exil-Community und darüber, wie man die Machtübernahme durch islamistische Gruppen verhindern kann. Stattdessen scheint es, dass Politiker wie Jens Spahn es in Kauf nehmen, die gesamte Community in Deutschland zu destabilisieren, indem sie die Unsicherheit schüren – in der Hoffnung, damit am rechten Rand der Gesellschaft ein paar Stimmen zu fangen. Sie nehmen in Kauf, dass Menschen, die in Gefängnissen saßen, gefoltert wurden und Familienmitglieder verloren haben, erneut traumatisiert werden. Diese Forderungen sind politisch und moralisch unverantwortlich. Die Lage in Syrien ist alles andere als stabil. Abschiebungen in ein Land, das noch immer von Gewalt, Unsicherheit und Konflikten geprägt ist, sind schlichtweg unverantwortlich. Jetzt sollte man mit den Syrerinnen und Syrern solidarisch sein, statt sinnlose Debatten zu führen.
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Wie kann die Solidarität konkret aussehen?
Wichtig ist, dass Deutschland konsequent bleibt, Menschenrechtsverletzungen verfolgt und das Land jetzt unterstützt. Erstens durch humanitäre Hilfe: Viele Menschen leben in Lagern, haben keine Wohnungen oder keinen Zugang zu Lebensmitteln und medizinischer Versorgung. Zweitens braucht die syrische Community in Deutschland Unterstützung bei der Aufarbeitung der Vergangenheit. Deutschland muss Menschenrechtsverletzungen in Syrien auch weiterhin klar verurteilen und könnte eine Vorreiterrolle bei der internationalen Strafverfolgung ehemaliger Regimeverantwortlicher übernehmen und bei der Aufarbeitung. Assad-Anhänger oder Personen, die Verbrechen begangen haben, dürfen nicht ungestraft bleiben. Gleichzeitig sollte man sich darauf konzentrieren, die Exil-Community hier zu stärken.
Denken Sie, dass Syrien langfristig ein stabiles Land wird?
Es ist schwer zu sagen. Die ersten Entscheidungen der neuen Machthaber, wie die Ernennung eines Ministerpräsidenten ohne demokratische Legitimation, lassen Zweifel aufkommen. Das zeigt tatsächlich, in welche Richtung sich Syrien bewegt. Ich denke, ohne internationale Unterstützung und klare demokratische Prozesse wird es schwierig, das Land langfristig zu stabilisieren. Es braucht eine neue Verfassung, freie Wahlen und eine Regierung, die von der Bevölkerung gewählt wird. Der Weg dorthin ist jedoch noch weit.