Tamriko Sholi
Alle verbindet ein gemeinsamer Kummer
Zurück ins Kriegsland
Viele glauben, dass alle neu angekommenen Ukrainer*innen um jeden Preis in Deutschland bleiben wollen. Das ist nicht so. Jeden Tag beschließen Dutzende von ihnen, in die Ukraine zurückzukehren, obwohl dort der Krieg weitergeht. Warum?

privat
19.12.2023

Im Frühjahr kehrte Olga, eine Freundin von mir, mit ihrer siebenjährigen Tochter in die Ukraine zurück. Sie lebte ein Jahr in Deutschland und fand sogar einen Job in einem Kindergarten. Auch mit der Unterkunft hatte sie Glück: Sie mietete eine Wohnung zusammen mit einer anderen Ukrainerin, die eine fünfjährige Tochter hatte. Und doch beschloss Olga, in ihre Heimatstadt zurückzukehren. Als sie zurückkehrte, kam es in der Ukraine immer häufiger zu nächtlichen Beschüssen. Ich machte mir Sorgen um sie. Olga erzählte mir jedoch, dass die Rückkehr in die Ukraine ihr im Gegenteil große Erleichterung gebracht hat. 

Das kann man erklären und verstehen

Tatsache ist, dass in der Ukraine alle Menschen im gleichen Kontext leben. Alle verbindet ein gemeinsamer Kummer, ein gemeinsames Ziel und ein gemeinsamer Wunsch. Einwohner der Städte verstehen, was ein „Luftangriff“ ist, wie man „Shaheds“ von ballistischen Raketen unterscheidet, was Geräuschgeneratoren erzeugen, wie Ausgangssperren funktionieren usw. Während der fast zwei Kriegsjahre bildeten sich in der ukrainische Gesellschaft bestimmte Verhaltens- und Kommunikationsregeln, der Wortschatz und die Gewohnheiten veränderten sich. Neue Witze und Zeichen dieser Lebensperiode tauchten auf. Das alles vereint die ukrainische Gesellschaft sehr und gibt den Leuten das Gefühl, wirklich dazuzugehören. Mit diesem inneren Gefühl fällt es leichter, Gleichgesinnte zu finden und über Ziele/Pläne zu entscheiden. Das bringt Selbstvertrauen und damit ein Gefühl gewisser Sicherheit oder eben, wie bei Olga, Erleichterung.

Es ist wissenschaftlich erwiesen, dass ein Gefühl des Respekts und der Verbundenheit mit der Gesellschaft, wenn man zu den Seinen gehört, für die Menschen sehr wichtig ist. Dabei werden Hormone (Neurotransmitter) produziert, die den Menschen glücklich und zufrieden machen. 

Geflüchtete leben in zwei Realitäten

Jede Auswanderung ist ein großer Stress, da der Mensch seiner früheren Umgebung, Kultur und Traditionen beraubt wird. Im Falle eines Krieges muss dies mit einer Million multipliziert werden: Ukrainische Geflüchtete, wie alle Kriegsflüchtlinge, verloren nicht nur alles Vertraute, sie fanden sich gleichzeitig in zwei Realitäten. In der ersten Realität sind sie physisch in Deutschland (oder einem anderen Land), lernen die Sprache, arbeiten, kaufen Lebensmittel usw. 

In der zweiten Realität, der psychologischen, leben sie geistig in ihrer Heimat, im Fall meiner Landsleute in der Ukraine: Sie lesen ukrainische Nachrichten, schauen ukrainisches Fernsehen und ukrainische Filme im Internet, kommunizieren mit Freunden und Verwandten über WhatsApp, diskutieren drängende Probleme ukrainischer Städte in ukrainischen sozialen Netzwerken, helfen ukrainischen Freiwilligen. Sie weinen um tote Soldaten, sie machen sich Sorgen um jeden Beschuss und ihre Angehörigen in der Ukraine. Alle ihre Gedanken drehen sich um den Krieg, um die schreckliche Realität. Während in Deutschland die meisten Menschen ganz andere Alltagsprobleme, Prioritäten und Ziele haben. 

Nicht jeder kommt mit dem „Leben in zwei Realitäten“ zurecht. In jedem dritten Post in ukrainischen Gruppen in sozialen Netzwerken geht es um Probleme mit Schlaf, Haut, Haarzustand und Ernährung. So reagiert der Körper auf anhaltenden Stress und auf die negativen Emotionen, die ein solches „Doppelleben“ mit sich bringt.

Anna lebt in Hamburg, ihr Man in der Ukraine. Dort arbeitet er: „Wir leben seit anderthalb Jahren auf Distanz: Er ist dort, und ich bin mit zwei Kindern hier. Wir telefonieren oft, aber unsere Gespräche werden immer komplizierter. Er hält alle meine Probleme für Unsinn, und ich verstehe seine Einstellung zu vielen Dingen nicht ganz. Er hat sich sehr verändert, und ich auch. Wenn wir noch ein Jahr getrennt leben, wird unsere Ehe enden. Ich werde also höchstwahrscheinlich bald in die Ukraine zurückkehren.“

Keine Wohnung, keine Arbeit 

Neben den psychologischen Gründen für die Rückkehr der Ukrainer in ihr Heimatland gibt es noch andere. Zum Beispiel Wohnen und Finanzen. Deutschland ist überfüllt und erlebt eine echte Wohnungskrise. Es gibt buchstäblich keine freien Wohnungen. Allerdings sind nicht alle Lager oder Wohnheime für Flüchtlinge für längere Aufenthalte, beispielsweise mit kleinen Kindern oder mit gesundheitlichen Problemen, geeignet. Viele derjenigen, die nach langer Suche keine Unterkunft fanden, kehrten in die Ukraine zurück. 

Auch finanzielle Gründe spielen eine große Rolle. Es ist kein Geheimnis, dass die Steuern in der Ukraine viel niedriger sind und es viel einfacher ist, ein eigenes Unternehmen zu eröffnen. Wer hier keine Arbeit hat, kein Unternehmen eröffnen konnte, kehrte zurück. Ein weiterer Grund sind die Aussichten auf den Ruhestand. Diejenigen Ukrainer, die jetzt 45 Jahre oder älter sind, werden in Deutschland wahrscheinlich keine angemessene Rente verdienen. Wenn sie hier also keine finanziell wohlhabenden Kinder haben, wird das Leben im Zukunft sehr schwierig und arm sein, sogar wenn sie eine Aufenthaltserlaubnis im Land haben.

Nach offiziellen Angaben des Mediendienstes Integration planen nur 44 % der Ukrainer, für längere Zeit (fünf Jahre oder länger) in Deutschland zu bleiben. Darunter sind Studierende, junge Berufstätige, alleinstehende Frauen und diejenigen, die Arbeit und eine getrennte Wohnung gefunden haben.

 

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Kolumne

Tamriko Sholi

Wer bin ich, wenn ich keine Heimatgefühle mehr habe? Was machen Krieg und Flüchtingsdasein mit mir? Darüber schreibt die ukrainisch-georgische Schriftstellerin Tamriko Sholi in Transitraum