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Vor wenigen Tagen saß in meinem Büro eine besorgte Mutter, deren Tochter zum Islam konvertieren möchte. Voller Angst erzählte sie mir, man habe ihrer Tochter eine Liste mitgegeben, mit allem, was sie tun muss und allem, was sie nicht mehr tun darf, sobald sie zum Islam übergetreten ist.
Ich schaute mir diese Liste an. Sie ähnelte den Benimmvorschriften für Gäste in einem Nobelrestaurant oder dem Verhaltenskodex einer Sekte: Du sollst mit der rechten Hand und nicht mit der Linken essen und trinken, Trinken darfst du außerdem nicht stehend, sondern nur sitzend. Deine Wohnung darfst du nur mit dem rechten Fuß betreten, aber das Badezimmer niemals mit rechts, sondern mit links. Als Frau darfst du kein Parfüm und keine Schminke im öffentlichen Raum verwenden. Piercing ist auch haram (verboten). Nicht nur deine Haare, sondern auch deine Ohren und deinen Hals müssen im öffentlichen Raum bedeckt sein. Wenn du mit einem fremden Mann redest, dann darfst du ihn nicht ins Gesicht schauen. Ihm die Hand zu geben, wäre eine große Sünde.
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Die Liste war voller Verhaltensregeln, die angeblich Gott angeordnet habe. Am Ende stand: Wenn du das machst, bekommst du Punkte bei Gott gutgeschrieben, und wenn du jenes tust, werden dir Punkte abgezogen. Es war eine Anleitung zur angeblichen Frömmigkeit. Welchen Beitrag kann ein solches Verständnis von Religion zur Bereicherung dieser Welt leisten? Keinen! Denn wenn Religion als Gesetzesreligion praktiziert wird, die möglichst alle Lebensbereiche und alle Schritte des Alltags bestimmen will, ist die menschliche Freiheit darauf beschränkt, Pluspunkte zu sammeln. Sie sabotiert sich zu einem buchhalterischen Werkzeug.
Dabei geht es in der Religion doch eigentlich um die "verantwortete Freiheit". Sie gibt uns das Ruder der Geschichte in die Hand und erwartet von uns, diese selbst zu lenken. Im Brief des Paulus an die Gemeinden in Galatien heißt es: "Zur Freiheit hat uns Christus befreit. Bleibt daher fest und lasst euch nicht von neuem das Joch der Knechtschaft auflegen!" (Gal 5,1) Auch in der Botschaft Mohammeds stand die Verkündigung des Glaubensbekenntnisses im Vordergrund, das in erster Linie ein Bekenntnis ist zur Befreiung von jeglicher Bevormundung und somit von allem, was den freien Blick des Menschen einschränkt und ihn in Abhängigkeiten verstrickt.
Im muslimischen Glaubensbekenntnis heißt es nämlich nicht: "Ich bezeuge, dass es nur einen Gott gibt". Sondern: "Ich bezeuge, dass es keine andere Gottheit gibt, außer dem einen Gott". Das islamische Glaubensbekenntnis beginnt also mit einer Negation; es geht darum, sich von allem zu befreien, was uns geistig, sozial oder politisch bevormundet. Diese Befreiung zur Freiheit ist allerdings nur die eine Seite der Medaille, sie befreit von etwas. Was die verantwortete Freiheit ausmacht, ist die zweite Seite der Medaille: die Freiheit zum verantworteten Handeln. Hier handelt es sich um eine Freiheit zu etwas. Und genau diese Form der Freiheit bildet die Essenz der religiösen Praxis. Religiös zu sein, das bedeutet, hier und jetzt diese Welt verantwortungsvoll zu gestalten, zu verändern, sich für das Menschliche einzusetzen. Es geht darum, die eigene und die Existenz anderer lebenswerter, humaner, freundlicher zu gestalten.
Deshalb befremdet es mich, wenn Kirchen und Moscheegemeinden aus dem Blick verlieren, dass Religion heute den Auftrag hat, die verantwortete Freiheit ins Bewusstsein der Menschen zu rufen. Die Welt braucht unseren aktiven, verantwortungsvollen Einsatz! Im Persönlichen bedeutet das, dass man sich weiterbildet, dass man seinem Körper Gutes tut, sich gesund ernährt, Empathie, Mut und Achtsamkeit entwickelt. Zu einem verantwortungsvollen, freiheitlichen Leben gehört auch, dass man sich für seine Mitmenschen einsetzt, dass man sich für die Familie Zeit nimmt, einen Beitrag für die Gesellschaft leistet. Es reicht, wenn jeder in seinem Alltag danach strebt, ein Lächeln ins Gesicht seiner Mitmenschen zu zaubern.
Menschen dazu zu bewegen, muss das Ziel religiöser Bildung sein. Wenn nicht, werden andere die Freiheit für egoistische oder zerstörerische Motive als "unverantwortete Freiheit" missbrauchen. Gewalt, Terror, Kriege, aber auch alltägliche Diskriminierung, Homophobie, patriarchales Denken sind Ergebnis von egoistischen Machtinteressen.
Wer meint: "Durch mein bescheidenes Zutun wird sich ohnehin nichts groß in dieser Welt verändern", dem sei gesagt: Die Mächtigen sind nur mächtig, wenn die Masse ihre verantwortete Freiheit nicht nutzt und sich mit der Rolle des passiven Zuschauers begnügt. Jede und jeder soll sich fragen: Wie kann ich in meinem Kontext und mit den mir zur Verfügung stehenden Mitteln einen Beitrag leisten, um diese Welt ein Stück freundlicher zu gestalten. Wenn meine 80-jährige Nachbarin nur wüsste, wie viel Kraft, Hoffnung und Freude sie mir jedes Mal schenkt, wenn sie mich mit einem Lächeln begrüßt! Man sollte keine noch so kleine Geste als "unbedeutend" oder "zu bescheiden" unterschätzen.