Es ist ein grauer, verregneter Morgen in der Gießener Nordstadt. Bärbel Weigand steigt zügig aus ihrem Auto, nimmt einen vollgepackten Korb aus dem Kofferraum und überquert entschlossenen Schrittes den weitläufigen Hof hin zu einem alten, unscheinbaren Kirchengebäude. Sie ist auf dem Weg zur Arbeit – wie jeden Tag. Ihren Beruf zu beschreiben, fällt ihr schwer: "Manchmal bin ich Sozialarbeiterin oder Familienhelferin, manchmal Altenpflegerin oder einfach Zuhörerin", sagt sie.
Ihre Berufsbezeichnung ist der 57-Jährigen nicht wichtig. Ihr geht es darum, Menschen nahe zu sein, sie zu unterstützen und ihnen zu helfen – egal in welcher Form. So arbeitete Weigand früher als gelernte Orthoptistin und behandelte Menschen mit Sehstörungen. Heute hilft sie Menschen in der "Werkstattkirche", die sie vor rund zehn Jahren gemeinsam mit dem damaligen Pfarrer Christoph Geist gegründet hat.
Von außen unterscheidet sich die Werkstattkirche, eine ehemalige neuapostolische Kirche, nicht von anderen Kirchengebäuden. Doch ein Blick ins Innere zeigt schnell, dass es sich um keine gewöhnliche Kirche handelt: Weder Kirchenbänke noch Altar oder Taufbecken sind hier zu sehen. Stattdessen stapeln sich in drei Räumen Stühle, Tische, Bücher, Haushaltsgeräte, Geschirr und allerlei Kleinkram – wie in einem Secondhand-Kaufhaus. Über die Jahre hat sich hier viel angesammelt. Verkauft werden die Möbel und Gegenstände nicht – sie warten darauf, bei Menschen in Not ein neues Zuhause zu finden.
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Mittlerweile sind Geist und Weigand fast täglich zusammen in Gießen unterwegs. Sie machen Hausbesuche bei Menschen, die krank und auf Hilfe angewiesen sind oder sich einsam fühlen. Sie vermitteln Möbel und Gegenstände aus ihrem Fundus an Menschen, die sich keine Wohnungsausstattung leisten können. Sie arbeiten zusammen mit Ärzten, Anwälten und dem Jugendamt, um in allen möglichen Problemlagen unterstützen zu können.
"Wir versuchen, Menschen wieder auf ihren Weg zu bringen und Gemeinschaft zu stiften. Jeder von uns hat eine Aufgabe und wird in unserer Gesellschaft gebraucht", sagt der 77-jährige Pfarrer. Weigand erinnert sich an eine Familie mit drei kleinen Kindern, die sie beim Umzug in eine größere Wohnung unterstützen wollte. Bereits beim ersten Kennenlernen gewann Weigand den Eindruck, dass die Familie nicht nur finanziell in Not war. Sie lud die Mutter zu einem persönlichen Gespräch ein – dabei erzählte sie, dass ihr Mann ihr gegenüber gewalttätig sei. Gemeinsam mit dem Jugendamt sorgten Weigand und Geist dafür, dass die Frau mit ihren Kindern sicher in eine neue Wohnung ziehen konnte.
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"Die Werkstattkirche ist ein Ort, an dem vieles versucht und ausprobiert werden kann", erklärt Weigand. Einmal wöchentlich ist hier eine Werkstatt, in der Ehrenamtliche Elektrogeräte reparieren. Etwa einmal im Monat verwandelt sich die Kirche in eine Suppenküche, und der Hof wird zum Treffpunkt für Menschen, die eine warme Mahlzeit und Gesellschaft suchen.
Oft ist die Werkstattkirche auch mobil – etwa, wenn Weigand mit ihrem "BollerBü", einem Bollerwagen, den sie zur Kinderbücherei umfunktioniert hat, durch die Straßen zieht. Oder wenn Ehrenamtliche Lebensmittel, die andernfalls im Müll landen würden, in einem bunt bemalten Schrank auf dem Kirchhof deponieren. So darf sich hier jeder bedienen.
Entstanden ist die heutige Werkstattkirche mit Hilfe des Förderprogramms "Bildung, Wirtschaft, Arbeit im Quartier" (BIWAQ), das vom Bundesbauministerium und von der Europäischen Union getragen wird und sozial und wirtschaftlich benachteiligte Stadtteile fördern soll. Im Jahr 2011 entwickelten zehn Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gemeinsam Angebote für Mütter und Kinder in der Gießener Nordstadt. Sie waren mit einem Bollerwagen auf Spielplätzen unterwegs und hatten Mitmachaktionen zum Spielen, Basteln oder Pflanzen im Gepäck.
"Wir kamen damals in einen Stadtteil, in dem uns keiner kannte. Das war nicht einfach. Wir mussten kreativ sein, um überhaupt das Vertrauen der Menschen zu bekommen", sagt Weigand rückblickend. Die Finanzierung durch das BIWAQ-Förderprogramm endete nach drei Jahren. Damit drohte das Projekt zu scheitern, bis Weigand und Geist beschlossen, die Werkstattkirche auf eigene Weise weiterzuführen – durch Spenden und ehrenamtliche Arbeit.
Während Geist inzwischen im Ruhestand ist und sich ehrenamtlich engagiert, arbeitet Weigand 30 Stunden pro Woche bei der Jugendwerkstatt Gießen, der Dachorganisation der Werkstattkirche und Einrichtung der Diakonie. Doch diese Stunden reichen kaum aus – Weigand ist oft rund um die Uhr per Mail und Telefon erreichbar.
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Auch an diesem verregneten Donnerstag hat Weigand einen langen Arbeitstag. Ihr Kollege fällt wegen einer Operation mehrere Wochen aus, so dass sie die Aufgaben in der Werkstattkirche allein bewältigt. Der Tag beginnt mit einem Schulbesuch, bei dem sie Grundschulkindern von ihrer Arbeit erzählt und mit ihnen über Nachhaltigkeit nachdenkt. Anschließend trifft sie sich in der Werkstattkirche mit einem Mann, der seinen reparierten Staubsauger abholt. In der Zwischenzeit kommen mehrere Ehrenamtliche – die sogenannten "Mitmachmenschen" – vorbei, um sich mit Weigand abzusprechen, ob sie Besuche übernehmen oder Essen für eine Veranstaltung am Wochenende vorbereiten können.
Obwohl es draußen bereits dunkel wird, ist für Weigand noch kein Feierabend in Sicht. Ein letzter Hausbesuch steht an – bei Gerd, der Anfang des Jahres die Diagnose Speiseröhrenkrebs bekam und nach der letzten Chemotherapie geschwächt ist. Sie bringt ihm Suppe und Lebensmittel vorbei. Gerd kennt die Werkstattkirche seit Jahren. Auch ihm half sie bei einem Umzug und vermittelte Möbel und eine komplette Küche.
"Der Umzug war ein wichtiger Schritt, damit es für mich wieder bergauf ging. Ohne die Werkstattkirche hätte ich das nicht geschafft", sagt er. Nachdem er eine Zeit lang Bürgergeld bezogen hatte, fand er einen neuen Job und konnte wieder Fuß fassen. Aus Dankbarkeit wurde er selbst ein "Mitmachmensch" – bis zu seiner Krebsdiagnose. "Wenn ich wieder fit bin, helfe ich weiter. Das ist mir wichtig. Die Werkstattkirche ist für mich ein Ort der Heimat."
Diese Worte berühren auch Weigand. Bevor sie geht, verspricht sie, Gerd Medikamente zu besorgen und in den nächsten Tagen noch einmal vorbeizukommen. "Auch wenn die Arbeit anstrengend ist, gehe ich jeden Tag mit einem guten Gefühl nach Hause, weil ich merke, dass ich etwas verändern kann", sagt sie. Für Weigand und Geist überwiegen die positiven Erfahrungen, die sie in der Werkstattkirche machen. "Wir sind Überzeugungstäter", sagen sie.
Dennoch stehen sie immer wieder vor Herausforderungen, besonders bei der Finanzierung. Sie sind auf Spenden angewiesen, denn nur etwa die Hälfte der benötigten Gelder wird durch Zuschüsse von Stadt und Kirche abgedeckt. "Wir zeigen, dass Kirche lebendig sein kann", sagt Geist. "Natürlich können auch wir nur Tropfen auf dem heißen Stein sein. Aber jeder, der wieder Vertrauen fasst zu sich selbst und anderen, ist aller Mühe wert."