Femizide
"Die Frauenverachtung beginnt mit der Erziehung"
Jeden dritten Tag stirbt in Deutschland eine Frau durch einen Partner oder Ex-Partner. Täglich werden Frauen belästigt, vergewaltigt oder genötigt. Wie kann diese Gewalt gestoppt werden?
Frau schreit laut mit dem Gesicht zum Betrachter.
Sie schreit gegen die Gewalt an.
Tommaso Tuzj/Getty Images
Tim Wegner
Aktualisiert am 24.09.2024
7Min

chrismon: Am 25. November ist der Internationale Tag gegen Gewalt an Frauen. Warum brauchen wir speziell einen Tag gegen Gewalt an Frauen und nicht generell gegen Gewalt an Menschen?

Christina Clemm: Auch Männer erfahren häusliche Gewalt, aber in sehr viel geringerem Ausmaß und selten mit so gravierenden körperlichen Folgen. Sexualisierte Gewalt gibt es fast ausschließlich gegen Frauen und queere Personen, sowohl innerhalb als auch außerhalb des sozialen Nahraums.

Wie viele Frauen sind betroffen?

Sexualisierte Übergriffe wie etwa das ungewollte sexuell konnotierte Anfassen, Küssen, Umarmen haben fast alle Frauen schon einmal erlebt. Wir müssen aufgrund von Dunkelfeldforschungen davon ausgehen, dass circa 35 Prozent aller Frauen schon einmal physische Gewalt innerhalb einer Partnerschaft erlitten haben und 30 Prozent sexuelle Handlungen gegen ihren Willen. Eine Studie aus dem Jahr 2023 wurde vom Sächsischen Staatsministerium der Justiz und für Demokratie, Europa und Gleichstellung in Sachsen durchgeführt. Bei Partnerschaftsgewalt muss man stets mitdenken, dass Kinder betroffen sein können. So gehen wir davon aus, dass in jeder Schulklasse zwei bis drei Kinder sitzen, die zu Hause Gewalt, vor allem an ihren Müttern, beobachten. Es ist kein Randphänomen, sondern ein riesiges gesamtgesellschaftliches Problem, das oft zu erheblichen Schäden bei den Betroffenen führt.

Alena Schmick

Christina Clemm

Christina Clemm ist Fachanwältin für Familien- und ­Strafrecht und ­vertritt seit fast 30 Jahren Frauen, die Opfer von ­Gewalt wurden. Im September 2023 erschien ihr Buch "Gegen Frauenhass" (Hanser ­Berlin, 256 Seiten, 22 Euro).

Wer sind die Betroffenen typischerweise?

Alle Frauen und alle Menschen, die weiblich gelesen werden. Ganz besonders betroffen sind Transpersonen oder queere Personen und Frauen, die mehrfach marginalisiert sind, also zum Beispiel Beeinträchtigungen haben oder rassistische Diskriminierung erfahren. Es trifft aber die Chefärztin genauso wie die arbeitslose Frau, die in einer Obdachlosenunterkunft lebt, die Aufsichtsratsvorsitzende wie die Hausfrau und Mutter. Alle Frauen können Opfer sein und alle Männer Täter.

Meinen Sie, jeder Mann ist ein potenzieller Täter? Stellen Sie damit nicht alle Männer unter Generalverdacht?

Nein, es geht vielmehr darum, die Realitäten anzuerkennen und das Problem nicht mehr von sich zu schieben, zu behaupten, dass nur die "Fremden", die ökonomisch schlecht Gestellten, die Abwegigen geschlechtsbezogene Gewalt ausüben. Wer das behauptet, fördert rassistische oder klassistische Vorurteile, bekämpft aber nicht das Problem der Gewalt gegen Frauen.

Warum ist das Problem trotzdem so oft unsichtbar?

In meiner alltäglichen Praxis als Anwältin ist es natürlich sehr sichtbar. Ganz viele Menschen, die meine Lesungen besuchen oder mit denen ich darüber spreche, sagen: Ah ja, ich kenne auch eine Betroffene. Häufig kennen sie sogar Verletzte massiver Gewalt. Erstaunlich ist aber, dass scheinbar niemand Täter kennt. Bei meinen Vorträgen sind vor allem Frauen im Publikum, Männer scheint das Thema wenig zu tangieren. Dabei sind nicht die Frauen, sondern die Männer das Problem. Wenn sie endlich aufhören würden, zuzuschlagen und zu vergewaltigen, bräuchten wir keine Schutzräume, keine Frauenhäuser mehr.

Warum schlagen Männer zu?

Ich würde sagen, es gibt eine emotionale Gewohnheit der Frauenverachtung, die beinhaltet, dass Frauen in vielen Bereichen als weniger fähig angesehen werden. Das drückt sich etwa bei der unterschiedlichen Bezahlung von Männern und Frauen, bei der schlechteren medizinischen Forschung an Frauenkörpern oder auch bei der Hinnahme aus, dass Frauen sich nachts im öffentlichen Raum ganz anders bewegen können als Männer. Dabei wird verkannt, dass nicht die Frauen sich falsch verhalten, sondern die Täter. Die Frauenverachtung beginnt mit der Erziehung. Wir erziehen leider Mädchen und Jungs statt Kinder. Mädchen bekommen bestimmte Eigenschaften zugeschrieben: eine höhere Emotionalität, Fürsorge, Freundlichkeit. Jungs hingegen dürfen durchaus wild sein, ein gewisses Maß an Aggressivität gehört zur männlichen Sozialisation dazu.

Lesetipp: Eine Geburt tut weh, und immer wieder erleben Mütter dabei Gewalt. Ein Erfahrungsbericht (Abo)

Wird Jungs in deutschen Kitas nicht beigebracht, Grenzen zu achten?

Kinder wachsen damit auf, dass Mädchen die süßen Prinzessinnen und Jungs die Rabauken sind, Mädchen Puppen betütteln und Jungs sich balgen. Selbstverständlich kann man nicht alle über einen Kamm scheren, aber in der Regel werden Empathie und Grenzwahrungen anderen gegenüber den männlichen Kindern weniger anerzogen als den Mädchen. Mädchen wird von Kindheit an beigebracht, dass sie auf ihren eigenen Schutz achten müssen und sind im Umkehrschluss immer auch ein wenig selbst schuld, wenn etwas passiert. Wir könnten und müssten Jungs dazu erziehen, dass es vollkommen egal ist, wie sich eine andere Person kleidet, wo und wie sie sich bewegt, wie betrunken sie ist. Sondern dass es darauf ankommt, stets die Interessen des Gegenübers wahrzunehmen und zu respektieren.

"Alle Menschen können Täter sein"

Zeigen Täter bestimmte politische Einstellungen oder Gesinnungen?

Nein. Es wäre schön, wenn man sagen könnte, Linke oder Liberale sind gewaltfrei und können keine Täter sein. Wir wissen ja auch, dass auch Kirchenämter nicht davor schützen, sexualisierte Gewalt auszuüben. Alle Berufsgruppen, alle ökonomischen Schichten, alle Menschen, egal ob mit oder ohne Migrationshintergrund, können Täter sein. Es gibt oft ein falsches Bild in der Öffentlichkeit, da viele Frauen in den Frauenhäusern eher arm sind oder viele einen Migrationshintergrund haben. Das liegt aber daran, dass andere Frauen eher andere Möglichkeiten finden, um sich zu retten. Das Frauenhaus ist ja keine gute Alternative.

Warum nicht?

Die meisten Frauen leben mit anderen Gewaltbetroffenen auf engstem Raum irgendwo an den Stadträndern, sie können keinen Besuch empfangen, teilen mit den Kindern ein Zimmer, lassen alles erst einmal zurück. Zwar unterstützen Frauenhausmitarbeiterinnen tatkräftig und kompetent, was meist stabilisierend wirkt, aber Frauenhäuser sind auf die kurzfristige Aufnahme Gewaltbetroffener ausgerichtet. Sie sind in der Regel unterfinanziert und schlecht ausgestattet. Frauen, die ein gutes privates Hilfesystem haben, etwa durch Verwandte und Freund*innen, benötigen oft keine Frauenhäuser. Wohlhabende Frauen können sich Ferienwohnungen anmieten, in Hotels schlafen, sie haben oft Freundinnen, die selbst genügend Möglichkeiten zum Unterschlupf anbieten können. Aus meiner Berufserfahrung weiß ich, dass Frauen, die ökonomisch besser gestellt sind, äußerst selten in Frauenhäuser gehen und noch seltener Strafanzeigen erstatten. Sie versuchen meist, außergerichtliche Einigungen zu erzielen.

Reichen die Gesetze nicht aus?

Man müsste die vielen, zum Teil sehr guten Opferschutzgesetze erst einmal richtig anwenden. Dafür bräuchte man bessere Fortbildungen in der Justiz, bessere Ausstattung bei den Ermittlungsbehörden und in den Gerichten. Ich glaube gar nicht an möglichst hohe Strafen. Aber wir brauchen schnelle Reaktionen der Justiz, wenn etwas passiert, schnelle Zeichen, dass dieses Verhalten nicht geduldet werden kann. Drei Jahre später eine Geldstrafe – das interessiert keinen Täter. Ein zügiger, qualitativ hochwertiger Antiaggressionskurs wäre in einem solchen Fall viel besser. Das Strafrecht wird es aber allein nie richten. Deshalb bin ich davon überzeugt, dass wir dieses Problem gesamtgesellschaftlich lösen müssen. Die Strafjustiz kann sich immer nur um die Spitze des Eisbergs kümmern.

Was kann ich tun, wenn ich den Verdacht habe, dass eine Person Opfer von Gewalt ist?

Sie können die Person ansprechen und ihr Unterstützung anbieten. Sie können sagen, dass Sie da sind, dass Sie jetzt oder zu einem späteren Zeitpunkt bereit sind zuzuhören, auch wenn sie erst mal nicht sprechen will. Aber richtig gut wäre es auch, nicht zurückzuschrecken, die vermeintlichen Täter anzusprechen.

Da hätte ich Angst, dass ich den Täter so provoziere, dass er es am Ende wieder an der Frau auslässt.

Ja, da muss man sehr gut abwägen. Wenn ich als Nachbarin durch die Wände höre, wie die Frau geschlagen wird, dann sollte ich das auch so formulieren. Also nicht sagen: Das hat mir ihre Frau erzählt. Sondern: Ich habe das gehört und es kommt mir komisch vor. Es kann natürlich sein, dass er dann das nächste Mal die Frau noch massiver malträtiert, sie anhält, ruhiger zu sein. Aber das kann er ja sowieso machen. Man muss den vermeintlich Gewaltausübenden ja nicht sofort als Täter beschimpfen, sondern den Verdacht äußern. Dann weiß er zumindest, dass sein Verhalten wahrgenommen und argwöhnisch betrachtet wird. Es wird immer gefordert, dass misshandelte Frauen ihr Schweigen brechen sollen. Aber auch alle außen herum müssen ihr Schweigen brechen.

Was könnte ich ganz allgemein dafür tun, dass Gewalt gegen Frauen ein Ende gemacht wird?

Es gibt viele Initiativen, die sich über Unterstützung freuen. Aber vielleicht sollten wir alle darüber nachdenken, wie wir die Männer dazu bekommen, sich auch endlich zu positionieren und etwas zu ändern? Warum lesen sie diese Bücher nicht? Wir könnten alle Männer, mit denen wir in Kontakt sind, immer wieder fragen: Warum ist das ein Problem, was euch anscheinend nichts angeht?

Was gibt Ihnen Hoffnung?

Die Arbeit mit meinen Mandantinnen. Weil es oft so großartig ist mitzuerleben, wie sie es trotz dieser schrecklichen Gewalterlebnisse schaffen, weiterzuleben und zu einem besseren Leben zu finden.

Eine erste Version dieses Textes erschien am 24. November 2023.

Infobox

Beratung für Betroffene und Angehörige

Hilfetelefon "Gewalt gegen Frauen": 116 016

Die telefonische Beratung ist kostenlos und 24 Stunden erreichbar. Sie richtet sich an betroffene Frauen. Angehörige können die Onlineberatung auf www.hilfetelefon.de nutzen.

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lässt sie immer wieder zu unmenschlichen Tätern werden- Zum Glück sind nicht alle Männer gleich Schläger.
Ich habe in meiner beruflichen Tätigkeit überwiegend mit Frauen zu tun gehabt, alle Berufe, alle Religionen. 45 Jahre Bundesbehörde und das schönste. mir traute man es zu, mit Frauen umzugehen. Ausserhalb des Dienstes wurde ich oft von meinen Kundinnnen angesprochen und zu einer
Tasse Kaffee, zum MIttagessen oder einfach mal zum Klönen eingeladen. Wenn das man nicht ein göttliches Zeichen war!

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Sie stand vor mir, wir stritten um Belanglosigkeiten, das Küchenmesser in der Hand stach Sie nach mir, insgesamt drei Mal. Die Schnitte am Arm ließ ich kommentarlos ausheilen. Wenig Später trennte ich mich von Ihr, Sie war angehende Lehrerin. Nur um der Frage vorzubeugen, ich habe nie nach Ihr geschlagen.

Wir waren nach dem Kino essen, ihr gefiel etwas nicht an meinem Verhalten. Sie schlug mich ins Gesicht, es war einer der letzten gemeinsamen Abende mit der angehenden Rechtsanwältin. Auch gegen Sie habe ich nie die Hand gehoben.

Wir hatten unsere erste gemeinsame Wohnung, streit über Einrichtung und Hausarbeit. Ich kniete währenddessen auf dem Boden um etwas wegzuputzen. Sie nahm die Sprudelflasche vom Esstisch und zerschlug sie auf meiner Schädeldecke. Dem Arzt der mich mit 3 Stichen nähte sagte ich, ich wäre auf der Treppe ausgerutscht. Es war weder das erste noch das Einzige Mal das Sie mir Gewalt zufügte, es endete als ich Sie verließ. Lange danach konnte ich keiner Frau mehr vertrauen. Auch Sie habe ich nicht geschlagen.

Wir Männer schweigen, haben keinen Ort an dem Wir Verständnis bekommen. Ich kenne viele Männer die unter physischer und seelischer Grausamkeit Ihrer Partnerinnen leiden. Am schlimmsten sind diejenigen Ausgeliefert denen der Verlust der Kinder droht. Angesichts der Folter die viele Männer erdulden müssen ist es ein regelrechtes Wunder das es überhaupt noch Beziehungen gibt die halten. Manchmal, wenn wir unter uns sind, reden wir. Aber nie in der Öffentlichkeit. Glaubt Uns sowieso niemand. Hätte mir auch keiner geglaubt. Also verschweigen wir es.

Manchmal wird aber auch das Schweigen erzwungen. Opa und Oma bekamen streit unter dem Christbaum. Oma schlug Opa vor den Augen der Enkel mehrfach mit der Faust auf die Lippe. Das wäre nie passiert, wir wollen doch nicht das Oma sich in einen Racheengel verwandelt? Opa hatte die Weihnachtsfeiertage um die Flecken abschwellen zu lassen. Den Kindern haben wir gesagt das Sie das falsch verstanden hätten.

Damit will ich nicht relativieren was Anderen schlimmes widerfährt. Aber plötzlich war er wieder da, der Moment als ich nach Oben gesehen habe und die Flasche auf meinem Kopf zersprang. Es klirrt nicht so hell wie im Film, wissen Sie? Es ist ein dumpfes Knirschen begleitet von einem blitzartigen Schmerz wenn sich die Bruchkante in die Kopfhaut bohrt.

Bis heute habe ich nie darüber geredet, es ist das erste Mal das ich es niederschreibe. Es wird das einzige Mal bleiben das ich es erwähne, denn ich bin ein Mann.

Danke für Ihre Aufmerksamkeit
Dietmar