In der Kneipe "Zum Windjammer" auf St. Pauli sagen Katja und Uwe Molzahn nach 25 Ehejahren erneut Ja zueinander. Pastorin Angelika ­Gogolin segnet sie. Dann stoßen sie mit Bier an
Heiraten in der Kneipe "Zum Windjammer" auf St. Pauli
Florian Thoss
Pop up-Kirche
Huch, die sind von der Kirche!
Plötzlich ploppen in Kneipen und Fußgängerzonen Pfarrer und Pfarrerinnen auf. Mit seltsamen Fragen. Finden die Leute das gut? chrismon hat sich das mal angeschaut. Auch den neuen Service für die besonderen Momente im Leben.
Tim Wegner
Privat
06.11.2023
14Min

Wie werden die Menschen reagieren, womöglich genervt? Es kostet die acht Pfarrerinnen Mut, in der Nürnberger Fußgängerzone den Talar überzuziehen und sich dann den Leuten in den Weg zu stellen mit einer Frage. "Hallo, was dürfen wir Ihnen aufs Brot schmieren?" Eine junge Pfarrerin lächelt ein Paar an. Das Paar biegt scharf ab, im Weggehen sagt der Mann mit weißem Haarzopf zu seiner Frau: "Damit haben wir nix am Hut." Sie knurrt bekräftigend: "Nä!" Immerhin spuckt den Pfarrerinnen diesmal niemand vor die Füße.

Die meisten gehen einfach weiter. Man hat ja was vor. Und wer lässt sich schon gern auf der Straße ansprechen. Wer stehen bleibt, bekommt eine Speisekarte gezeigt mit der Frage: Was würde das Leben gerade besser machen – Hoffnung? Liebe? Glamour? Geborgenheit? Wer derzeit dringend Hoffnung brauchen könnte, kriegt ein Butterbrot mit Kresse ge­reicht, weil die aus winzigen Samen wächst. Es gibt "Erdbeerliebe", "Geborgenheitshonig" oder "Hoffnungsperlen". Hoffnung geht gut, Frieden noch besser, auch Frieden mit sich selbst. Zudem kann man Mischbrote ordern.

Pfarrerin Tia Pelz in Nürnberg fragt: Was braucht es gerade ­besonders im Leben – Liebe, ­Geborgenheit, Glamour, ­Hoffnung? Bei einem Brot mit Hoffnungskresse kann man gut reden

"Wow, Sie sind von der Kirche?"

Viele Leute zeigen sich angenehm überrascht: "Wow, Sie sind von der Kirche?" Nach anderthalb Stunden sind 200 Brote weg und 60 Tassen Kaffee und die Pfarrerinnen müde und beglückt zugleich. So viele Gespräche, so viel Vertrauensvorschuss! Wenn nur der Anfang nicht wäre, die Überwindung und der Stoßseufzer: Was mach ich hier eigentlich?

Privat

Sebastian Lock

Sebastian Lock, Fotograf, war angetan von der Offenheit und Spontaneität vieler ­Passanten. Manchmal braucht es nicht mehr als einen kleinen Plausch bei Brot oder ­Schokoriegel, um den Tag zu versüßen.

Genau, was machen die da eigentlich? Das kann Pfarrerin Tia Pelz erklären, die Organisatorin der Nürnberger Aktion kurz vor Ostern. Vor ein paar Jahren war sie noch in der ­Ausbildung und mit anderen in ­ihrem Vikariats­kurs enttäuscht, weil so ­wenige Menschen in die sorgsam vorbereiteten ­Gottesdienste kamen. So ist es nämlich: Von den vielen Millionen Deutschen, die Mitglied in der evangelischen Kirche sind, besuchen nur 17 Prozent mindestens einmal im Monat den Sonntagsgottesdienst.

Also gingen Tia Pelz und die anderen ­jungen Leute raus, machten einen Gottesdienst in einem Hamburger Park, ­ungezwungen, kurz, mit Picknick. "Aber das hatte was von Straßenprediger mit Mikrofon, der in die Welt ruft und niemanden erreicht", erzählt Tia Pelz. "Ich glaube, die Leute hören heute genügend Podcasts, Vorträge, Impulse, sie wollen nicht vollgetextet werden. Spannender ist es doch eigentlich, ins Gespräch zu kommen."

"Wofür sollen wir beten?"

Neue Maxime der jungen Geistlichen: nicht selbst reden, sondern eine gute Frage stellen und dann zuhören. Es sind Expeditionen in die Wirklichkeit.
"Wofür sollen wir beten?", fragten sie die Passantinnen und Passanten in Hamburg und hatten am Ende über hundert kleine ­Zettel in ihrem "Gottesbriefkasten" gesammelt. Die Anliegen nahmen sie später in ihr Gebet auf.

Und zum Buß- und Bettag boten sie an, dass man auf Scherben den Namen von jenen schreibt, denen man gern sagen würde: ­"Verzeih mir." Wegen einer Unachtsamkeit, einer Lieblosigkeit oder einer Gemeinheit. Wegen Worten, die man gesagt hat, und Worten, die man nicht gesagt hat. Die Scherbe mit dem Namen konnte man dann neben eine große Kerze auf dem Boden legen, sozusagen "ins Licht Gottes".

Würde überhaupt jemand mitmachen? Aber genau dazu dienen die Aktionen ja auch: Die Kirchenleute senden Töne aus wie ein Echolot und lauschen, auf welche Töne Menschen antworten mögen. Und das waren die Reaktionen auf die "Verzeih mir"-Aktion, in den Worten von Pfarrerin Emilia Handke: "Kopfschütteln, Tuscheln, scheue Blicke; ein Betrunkener riss sich das Handy vom Ohr, um einen Namen aufzuschreiben; anderen fiel auch nach längerem Nachdenken niemand ein, den sie um Verzeihung bitten müssten; ein junger Mann gestand, dass es bei den eigenen Kindern immer am schwersten sei."

Pastorin Angelika ­Gogolin gutgelaunt hinter dem Tresen. Sina und Daniel Hökendorf sind nicht in der ­Kirche. Beim Hochzeitssegen durch Meike ­Barnahl hielten sie sich an den Händen. Dann sagten beide Amen

In Nürnberg, wo Tia Pelz jüngst ebenfalls solch eine "Verzeih mir"-Aktion organisiert hatte, suchten manche Menschen ein längeres Gespräch, während andere nur eine Scherbe nahmen, ­einen ­Vornamen draufschrieben und die ­Scherbe dann auf den Teller mit der Kerze legten. "Für mich ist das schon eine Art Gebet", sagt die Pfarrerin, "aber egal, wie man das nennt – an diesen Menschen zu denken, das macht ja was mit einem."

"Die Leute sprudeln und erzählen, was gerade los ist"

Die Befürchtung "Keiner will mehr was von der Kirche!" habe sich nicht bewahrheitet, so ihr Eindruck. Auch wenn die Kontakte oft kurz blieben, gehe es schnell tief. "Als ob da was angestaut ist, dann pikt man mit einer Frage rein, und die Leute sprudeln und erzählen, was gerade los ist. Und dann geht man auch wieder ­auseinander. Gerade das Flüchtige spricht an." Straßenseelsorge nennt sie das.

Es sind nicht viele Pfarrerinnen und Pfarrer, die sich so raus­wagen, aber es werden mehr. "Ich habe keine Lust, dem Niedergang der Kirche tatenlos zuzugucken", sagt der ­Mainzer ­Pfarrer ­Chris­toph Kiworr, "mich interessiert, was wir in Zukunft für eine ­Kirche sein ­möchten." Deshalb probiert er mit Kolleginnen und Ehrenamtlichen ­immer mal wieder was auf der Straße aus. ­Zentrale Botschaft soll sein: "Hier bist du ­willkommen, hier darfst du so sein, wie du bist: als ein von Gott geliebter Mensch."

Kneipenwirtin Izi hatte den Nebenraum mit den schweren Sofas, auf denen die Trau­gespräche stattfanden, extra dekoriert. Sie war ohnehin ­begeistert davon, dass in ihrer Kneipe an diesem Abend so viel von Gott die Rede war

Nie vergessen wird er eine Begegnung auf dem Sportfest des Fußballvereins. Er stand dort mit der Vikarin, beide im Talar, neben einem Spiegel, auf dem zu lesen war: "Du bist wunderbar", angelehnt an Psalm 139. Ein 19-Jähriger blieb stehen, ein cooler Typ, fand Christoph Kiworr, ein Schrank von Mann. Der schaute stumm und sagte dann: "Wissen Sie, das hat in meinem ganzen Leben noch nie jemand gesagt. Alle, vor allem mein Vater, sagen immer nur: Aus dir wird nichts, du kannst nichts, du bist nur laut."

Perfekt ist das nicht

Perfekt sind die Pop-up-Aktionen auf der Straße nicht. Im Gottesdienst treten die ­Kirchenleute als geübte Zeremonienmeister und -meisterinnen auf, aber "Aktionskunst" auf der Straße ist neu für sie. Mal wird zu viel auf einmal angeboten – Selfies, Süßigkeiten, Sinnsprüche und Sekt etwa. Oder die ­Aktion ist sehr ums Eck gedacht und für Vorbei­laufende nicht schnell genug verstehbar. Manch Unperfektes machen die Kirchenleute wett mit einer glaubhaften Freundlichkeit.

Was können Pfarrerinnen und Pfarrer besonders gut? Tia Pelz formuliert es so: "Wir können gute Fragen stellen, wir können zuhören und das Gesagte aushalten, und wir ­können durch kleine, symbolhafte Hand­lungen helfen."

Begehrt: "Segen to go"

Es gibt zumindest eine symbolhafte Handlung, die auf Nachfrage stößt: der Segen. ­Sogar in Mecklenburg. "Hier kommen ja nur ein paar Hanseln in die Kirche, der Rest ist atheistisch", sagt Renate Maercker, Gemeinde­pädagogin in Wismar. Trotzdem schaffte der ­Kirchenkreis wagemutig ein Lastenrad an, das sich zum Stand mit Schirm umbauen lässt. Darauf steht: "Segen to go". Man kann das Rad mit Hänger entleihen und auf Festen oder ­Supermarktplätzen aufstellen, eine ­Pfarrerin hat damit ihre verstreuten Dörfer besucht.

Und? "Wir sind baff, wie gut es geht", erzählt die Gemeindepädagogin. "Die Leute sind total neugierig." Wie erklärt sie denn, was sie da anbietet? "Ich sag: Ich hab was Gutes für Sie. Ich kann Ihnen gute Worte auf den Weg geben, und Gott gibt seinen Segen dazu." Dann komme sie mit den Leuten ins Gespräch.
So wie mit dem älteren Ehepaar: ein ­Leben lang zusammen gegangen, jetzt wird die Frau dement, beide wissen es, beide fürchten sich. Sie ließen sich segnen.

Meist legt Renate ­Maercker ihre Hände auf die Schultern oder auf den Arm, ganz wie es gewünscht wird. "Dann bringe ich das, was die Leute gesagt haben, vor Gott und bitte Gott, sie auf ihrem Weg zu begleiten – zum Beispiel eine Studentin, der vor ihrer Prüfung graute. Ich kann es nicht wegmachen, aber ich bitte um Weg­begleitung." Sie sehe oft Tränen laufen.

Was gehört zum "Urgeschäft" der Kirche?

Wie lange hatten sie im Kirchenkreis vorher überlegt, was sie zu geben hätten! Jetzt ist sie sich sicher: "Was wir wirklich zu geben ­haben, ist der Segen. Wir empfangen die ­Liebe Gottes und geben sie weiter an andere Menschen. Und das nehmen uns die Leute ab. Es geht gleich rein, und es ist ehrlich. Ich glaub, das ist unser Urgeschäft."

Zum "Urgeschäft" gehört eigentlich auch die kirchliche Begleitung bei großen ­Lebenswenden – die Taufe, die Hochzeit, die ­Bestattung. Aber es ist für evangelische ­Kirchenmitglieder längst nicht mehr selbstverständlich, sich dafür an ihre Kirche zu wenden. In Hamburg zum Beispiel werden gerade noch 50 Prozent der evangelischen Verstorbenen kirchlich bestattet. Und nicht mal die Hälfte der Kinder in Hamburgs Familien, in denen mindestens ein Elternteil evangelisch ist, wird noch getauft.

Könnten auch Taufe, Trauung und kirchliche Bestattung begehrenswert sein, wenn sie nur irgendwie "näher" an den Menschen wären? Diesen Eindruck bekam zum Beispiel Katharina Scholl, die bis vor kurzem Pfarrerin im Hanauer Stadtteil Großauheim war.

Auch möglich: Trauung in der Partygarage

Die Pfarrerin war beim Feuerwehrfest (ja, sie ist viel dort unterwegs, wo die Leute ­zusammenkommen), dort sprach sie mit einem Paar, das hatte sich bei der Garagenparty kennengelernt. Die beiden erzählten begeistert von ihrer Liebe. Dass sie heiraten wollten, auch eine kirchliche Heirat überlegt hätten, aber das sei nicht so der richtige Ort für sie. Das ist so krass, dachte die Pfarrerin: "Die beiden sind ganz selbstverständlich Mitglied in der Kirche, können sich aber nicht vorstellen, in einer Kirche ihre Trauung zu feiern." Im Weggehen nachts um halb zwei sagte Katharina Scholl zum Abschied: "Ich trau euch auch in der Partygarage, wo ihr euch kennengelernt habt."

Monate später meldete sich das Paar wieder: Ob das Angebot gilt? Na klar, die Garage sei ja offensichtlich ein heiliger Ort für die beiden, dann werde man dort "Gott für das Geschenk dieser ­Liebe danken". Es gibt ein Foto von der Garagen­trauung: das Paar in Jeans und T-Shirt, auf Barhockern sitzend, sehr fröhlich, vor ihnen die Pfarrerin mit Mikro, draußen vor der ­Garage die jubelnde Hochzeitsgesellschaft.

Oder Kindstaufen. "Die sind für viele Leute nicht so niedrigschwellig, wie wir als Kirche denken", sagt Pfarrerin Scholl. Viele wollten sich nicht im Sonntagsgottesdienst vor der ganzen Gemeinde präsentieren – schon gar nicht als Familie, die nicht der Hochglanz­foto-Norm entspricht, die Scholl so beschreibt: ­"Vater, Mutter, Kind und Trampolin im Reihen­hausgarten". Vielleicht will die Kindsmutter auch lieber die beste Freundin und die Schwes­ter am Taufbecken dabeihaben als den Ex, mit dem sie okay ist, aber zum Familiensegen soll er nicht nach vorn kommen. Große Tauffeste für viele Täuflinge gleichzeitig sind eine neue gute Möglichkeit. Eine weitere, ­während der Corona-Zeit entwickelt: Tauffeste ohne Gemeinde, oft samstags.

Aber manchmal brauche es auch noch einen kleinen Stups. So postete sie auf Facebook das fröhliche Foto einer Familie, mit der sie gerade Taufe gefeiert hatte, und fragte: "Noch irgendwo kleine und große Menschlein in Großauheim, die getauft werden wollen? Eure Pfarrerin wäre gerade im Flow . . ." Da wurden ihr gleich sechs Kinder zur Taufe angemeldet.

So flexibel wie kommerzielle Hochzeitsfirmen

Bei Taufen ist die Kirche konkurrenzlos, bei Hochzeiten nicht. Selbst Kirchenmitglieder lassen sich mittlerweile ihre Hochzeit von freien Ritualbegleiterinnen und -begleitern gestalten. Der Gründe sind viele. Man weiß nicht, zu welcher Gemeinde man gehört; man würde eh nicht wagen, nach einer Trauung zu fragen, weil man doch auch sonst nicht in den Gottesdienst geht. Dazu kommt: Die kommerziellen Anbieter zeigen sich äußerst flexibel bei Musik, Ort, Zeit und Symbolhandlungen.

Könnte die evangelische Kirche nicht genauso flexibel werden? So präsent im Internet und in den sozialen Medien? Und vom Sound her ebenso einladend? Deswegen gründen sich nun mehr und mehr kirchliche Servicecenter. Vier gibt es bereits, und sie sorgen für Wirbel: das Segensbüro in Berlin, st. moment in Hamburg, Segensreich im Kirchenkreis Lübeck-Lauenburg und die ­Segen.Servicestelle in Bayern.

Kind taufen, auch wenn die Eltern nicht in der Kirche sind

So hört sich das an, wenn das Segensbüro in Berlin-Neukölln zum Pop-up-Tauffest einlädt: "Anmeldezeitraum verpasst? Keine Lust auf Formulare? Alles zu kompliziert? Komm einfach spontan vorbei."

Niedrigschwellig, das bedeutet dann auch: Erwachsene Täuflinge müssen keinen Taufkurs machen; und ein Kind kann auch dann getauft werden, wenn die Eltern keine evangelische Patin, keinen Paten in ihrem Umfeld finden. Dafür hätten sie die Rückendeckung der kirchlichen Leitung, sagt Pfarrerin ­Su­sann Kachel vom Segensbüro.

Außerordentlich ist vor allem: Keins der Elternteile muss Kirchenmitglied sein. ­Sogar ausgetretene Eltern lassen ihre Kinder ­taufen. "Die klassische Kirchengemeinde würde ­irritiert fragen: ,Äh, und warum ­wollen Sie dann Ihr Kind taufen lassen?‘", erzählt ­Susann Kachel, "aber genau das ist doch die spannende Frage: Welche Hoffnung steht ­hinter diesem Taufwunsch?" Die Pfarrerin findet, man ­müsse sich nicht extra "würdig erweisen" für eine Taufe. "Die Taufe will doch gerade aussagen, dass Gott dich liebt, ­genau so, wie du bist. Die Erfahrung zeigt, die ­Menschen sind voller Ernst dabei."

Ein Segen für die Beziehung? Ja bitte!

Aber was heißt "niedrigschwellig" bei Hochzeiten? Das Berliner Segensbüro hat es mit seinen Pop-up-Hochzeitsfestivals vorgemacht, und einige Orte haben das nachgemacht. Das Besondere: Es sind alle Paare ­eingeladen, die sich einen Segen für ihre Beziehung ­wünschen. Daher der Begriff "Segenshochzeit". War das Paar schon auf dem Standesamt und ist wenigstens eine Person Kirchenmitglied, kann die Trauung auch in die Kirchenbücher eingetragen werden. Stimmung und Gemeinschaft muss man nicht selbst her­stellen, alles schon da.

Sogar eine angehende Pfarrerin ließ sich hier dieses Jahr trauen, neben 60 anderen ­Paaren. Katharina Prinz hatte im Jahr vor Corona standesamtlich geheiratet; eine kirchliche Trauung wünschte sie sich eigentlich auch, "aber der große Traum in Weiß, überhaupt die ganzen gesellschaftlichen Erwartungen, das war ich nie", dank Corona konnte sie sich um eine Entscheidung herumdrücken, doch die Sehnsucht nach einem Segen blieb. Sie und ihr Mann standen zuletzt im Endstress ihrer Ausbildungen, dazu die zwei ­kleinen Kinder, "wir verlieren schnell den Blick füreinander, eigentlich sind wir total ­segensbedürftig".

Und dann ploppte in ihrem Instagram-Feed das Pop-up-Hochzeitsfestival auf. Jo, passt doch, sagte ihr Mann. Echt? Ja, lass uns ­machen. Und schon standen sie in all dem Trubel und fühlten sich wie rausgezoomt. "Der Segen im Zenit der familiären Belastung, das war ein Geschenk." Zwanglos und feierlich, das schätzen die Paare an diesem An­gebot, wie eine Befragung ergab.

Kirche und zwanglos - geht doch

Zwanglos muss es zugehen, sonst wagt man keinen Kontakt mit der Kirche. Die Menschen seien unsicher und hätten eine Menge ­Fragen, das ist die Erfahrung von ­Pastorin Meike Barnahl, Leiterin der Agentur st. ­moment in Hamburg. "Darf ich der Mensch bleiben, der ich bin? Darf ich meine Wünsche äußern? Oder muss ich mich an die kirchliche Kultur anpassen?" Mal wird eine besondere Musik gewünscht, mal ein bestimmter Ort – im Kern geht es darum, das Eigene, das Vertraute mit dem Fremden, dem Kirchlichen zu verbinden. Das Team von st. moment berät bei der ­Gestaltung der Feier.

Die Agentur prescht aber auch selbst vor – mit religiösen Festen in "weltlichen" Feierlocations: etwa mit der spontanen Kiezhochzeit in der Kultkneipe "Zum Windjammer" nahe der Reeperbahn. "Man braucht ja Menschen, denen man von Gott erzählen kann, also geht man dahin, wo sie sind", erklärt Pastorin ­Meike Barnahl. "Den Drink zum Anstoßen spendieren dann wir", hieß es in der ­Einladung. Zum "Wir" gehörten auch die von der Aktion begeisterte katholische Wirtin Izi, Pas­torin Angelika Gogolin, der Popular­kirchenmusiker Jan Keßler und eine Sängerin.

In der Kultkneipe nahe der Reeperbahn

Auch Ungetaufte und Nichtmitglieder kamen für einen Hochzeitssegen. Bei Sina und Daniel, beide 27, stand die ­standesamtliche Trauung auf den Ehe­namen Hökendorf kurz bevor, ebenso eine freie Trauung mit einem Freund, der Trau­redner ist. "Der würde sonst 1000 Euro kosten", sagte Daniel. Von der Kiezhochzeit hatten sie gelesen und spontan entschieden, dass das gut sein könnte. Warum? "Wir ­finden grundsätzlich Kirche und den Gemeinschaftsgedanken sinnvoll", so Daniel, "aber wir möchten uns nicht dran binden." Und Sina: "Gott kann ­Liebe sein, Gemeinschaft, Kraft. Da gehe ich auch mit. Ich finde es toll, dass die Kirche hier so was macht."

Die Schranke in Hanau ist oft lange ­unten. Die ­Pfarrerinnen Margit Zahn und Katharina Scholl über­reichen ­Wartenden einen Schokoriegel und eine ­Anleitung zur Mini-­Meditation

Nach einem viertelstündigen Gespräch ­segnete Pastorin Meike Barnahl das Paar, und alle in der rappelvollen Kneipe waren still. "Gott ist dabei, stärkt euch und ist die Liebe, die eure Liebe trägt." Sina und Daniel sagten "Amen". Ungewohnt und schön war das, ­fanden sie. Das erlebt Pfarrerin Meike ­Barnahl öfter: "Die Menschen sagen erst mal: Mit ­Kirche haben wir gar nichts zu tun. Aber im Gespräch erzählen sie dann von ihrer Vorstellung, dass eine göttliche Kraft sie begleitet."

Sollte es vielleicht neue Formen von Mitgliedschaft in der evangelischen Kirche geben – zum Beispiel eine Mitgliedschaft zur Probe oder auf Zeit oder phasenweise? Also eine eher lose Verbundenheit je nach aktueller Bedürfnislage? Über solche Fragen denken Kirchenleute derzeit nach.

Vielleicht sind Sonntagsgottesdienste heute "Unfug"

Es wird sogar darüber nachgedacht, wie wichtig die Sonntagsgottesdienste zukünftig sein sollen. "Ich liebe Gottesdienste", sagt Pfarrerin Meike Barnahl von der Agentur st. moment – "aber ganz ehrlich, wir legen eine wahnsinnige Ressource in die Sonntagsgottesdienste, in ein Standardprogramm zu einer Zeit, die 90 Prozent der Bevölkerung überhaupt nicht anspricht. Das ist aus meiner Sicht Unfug."

Was die Menschen sich dagegen wirklich wünschten: eine kurze, aber bedeutsame Begleitung an den Schnittstellen des Lebens. Und dabei denkt Meike Barnahl nicht nur an die Klassiker Hochzeit, Taufe, Bestattung, sondern hat noch ganz andere Anlässe für eine ­feierliche Begleitung und Segnung im Auge: den Übergang vom Berufsleben in die Rente oder wenn die Kinder aus dem Haus gehen, wenn man umzieht, wenn sich eine Patchworkfamilie zusammenfindet, bei Trennungen.

Oder wenn Menschen sich verabschieden von Lebensentwürfen. An st. moment hatte sich zum Beispiel ein Paar gewandt, das sich von seinem Kinderwunsch verabschieden musste und das auch mit einem Ritual tun wollte.

Den Pfarrerinnen vom Segensbüro in ­Berlin fallen noch mehr Wendepunkte ein, die segenswert sind: der Beginn von Studium oder Ausbildung, die Menopause, der Tod eines Haustieres . . . "In welcher Situation wünscht ihr euch Stärkung und Unterstützung durch Gottes gute Kraft", schreiben sie auf der Homepage, "traut euch und schickt uns eure Anfragen." Und ja, es kommen Anfragen. Ein Ehepaar nach der Krise, ein Kind vor der Kita-Eingewöhnung, ein Mann vor Beginn der Chemo, eine Person, die Arbeit sucht . . .

Das Segensbüro Berlin bietet auch von sich aus Aktionen an, einen Tag vor der Zeugnisvergabe einen "Scheiß-auf-Noten-Segen" zum Beispiel. Absichtlich provokativ, sagt Susann Kachel, weil sie den Kindern sagen wollen: "Du bist wertvoll und wichtig – unabhängig von dem, was du leistest." Die Kinder ­wurden auf einem Sieger­treppchen gesegnet und ­fotografiert. Anschließend konnten sich ­Eltern und Kinder gemütlich in Liegestühlen sitzend sagen, was sie aneinander freut. Ein Beratungsangebot der Diakonie für Eltern und Kinder mit ernstlicher Zeugnissorge gab es aber auch.

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Und wenn der Hund nicht zum Knochen geht, geht der Knochen halt zum Hund!!! An dem Knochen ändert sich aber nichts. Der Knochen bleibt Knochen!

Antwort auf von Wolfgang (nicht registriert)

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KIRCHE und Glaube to go. Warum denn nicht gleich Gebetsmühlen, Lohnbeter und bezahlte Anbetungsbesucher? Gibt der Glaube und dessen Ziele so wenig her, dass man mit Werbung und "Zuckerguß" in der Fussgängerzone Remmidemmi machen muss?

Antwort auf von Wolfgang (nicht registriert)

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So ist es. Anbiedern macht lächerlich. Wenn ein Glaube die profane Werbung braucht, stellt er sich auf die gleiche Stufe wie LIDL, ALDI oder einen Möbelprospekt. New Age durch die EKD. Der Glaube in Konkurrenz zu den Werbelügen. An jedem Montag ist der Glaube billiger, bis er umsonst und auch noch vegan und queer ist. Gott schaut zu und befiehlt sein Volk in die Hölle.

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Liebes Chrismon-Team,

ich lese jede Ausgabe, mal früher, mal später, aber jeden Artikel.

Mit der aktuellen Ausgabe habt ihr einige Nägel auf den Kopf getroffen und der o.a. Artikel hat mich sehr berührt und zu mancher Träne geführt. Ein toller Bericht. Weiter so.

Eure treue Leserin
Brigitta Nowak

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Mit einigem Befremden nehme ich das Titelbild von Chrismon wahr! Eine Pfarrerin mit Regenbogenschal! Das finden Sie als Redakteure dieses Heftes wohl ganz toll?! Warum nur muss die evangelische Kirche jedem, aber auch jedem noch so absurden Meinungstrend der veröffentlichten queeren Medien nachlaufen? So zum Beispiel der unsinnigen Behauptung, dass es nicht nur zwei Geschlechter gäbe und jeder Mensch das Recht habe, sein Geschlecht selbst zu bestimmen, da doch sowieso keine Unterschiede auszumachen seien.

Das wirft sofort die Frage auf, warum setzt sich diese merkwürdige queere Gesellschaft nicht dafür ein, dass „Frauen“ (mit Ausnahme der Mütter kleiner Kinder) aus dem ukrainischen Kriegsgebiet der Flüchtlingsstatus verwehrt wird und sie statt dessen für ihr Land kämpfen sollen wie es doch die „Männer“ müssen?
Im Übrigen schüttelt der schlichte Christenmensch nur ungläubig den Kopf und wendet sich von der Kirche ab.

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Sehr geehrte Damen und Herren,
ich habe den Artikel mit Interesse, aber wachsender Skepsis, gelesen. Ich begrüße es, wenn Kirche bereit zur Veränderung ist und auf Menschen zugeht, auch in unkonventioneller Weise. Dazu gehört dann aber auch, dass sich Kirche nicht nur als Dienstleister versteht, der auf Wunsch segnet oder Gottes Liebe zum Menschen verkündigt. Es gehört zwingend die klare Aussage dazu, dass Gottes Liebe eine Antwort vom Menschen erwartet, die sich auf sein Leben auswirkt. Ein unverbindliches Christentum ist ein billiges Trostpflaster, dass auf Dauer weder den Menschen noch der Kirche hilft.
Ich erinnere mich, dass ich vor etlichen Jahren einen Artikel von Bonhoeffer gelesen habe, der besagte, dass Gottes Gnade zwar ein Geschenk sei, dieses Geschenk aber ohne Lebensnachfolge keine Auswirkungen habe.
Wenn die Kirche nicht das Vertrauen hat, dass Christus die Kirche auch in Veränderungen und Schrumpfen begleitet und nicht den Mut hat, auch die unbequemen Forderungen von Christus zu verkündigen, sollte sie vielleicht überlegen, ob sie dann noch relevant ist.

Mit freundlichen Grüßen Beate Hille

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Ich bin ein alter Pastor im Ruhestand.79 Jahre alt ,und lebe mit meiner Frau in Lüneburg. Gleich um die Ecke gibt es eine Kneipe. " Cafe Klatsch".Dort gehe ich abends hin.
Nun habe ich natürlich Chrismon 11 mit in die Kneipe genommen.
Das fanden viele lustig.
Euer Leitartikel ist hervorragend und hochaktuell .
Ich lobe Euch mit herzlichen Grüßen.

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In dem Artikel "Huch, die sind von der Kirche" sind auf vier Abbildungen fünf Pfarrerinnen zu sehen (kein Pfarrer). Alle tragen einen schwarzen Talar. Ist dieser Rückgriff auf Berufskleidung von Akademikern des 16. Jahrhunderts angemessen, wenn Kirche versucht, in bunten Kontexten des 21. Jahrhunderts auf kirchenferne Mitmenschen zuzugehen?

Dr. Reinhard Dietrich

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Sehr geehrte Damen und Herren,
oft habe ich mich gefragt, ob es sinnvoll ist, dass die Kirche so viel Geld für das Monatsmagazin "vergeudet". Als Beilage der Rheinischen Post landen doch ganz bestimmt mehr als 50% direkt im Altpapier, ohne dass ein Leser überhaupt mal in das Heft reingeguckt hätte.
Ich gehöre zu den anderen 50% und lese den Inhalt. Und ich gebe das Heft auch weiter an Menschen, die über den Tellerrand hinaussehen.
Der Artikel über die Pfarrerinnen und Pfarrer, die in die Kneipen und den öffentlichen Raum gehen, um Menschen anzusprechen, zuzuhören, für sie da zu sein. Ich denke, dass das genau der richtige Weg ist, aus der Amtskirche herauszutreten und dorthin zu gehen, wo die Menschen sind. Jesus hat wohl nie jeden Sonntag - oder Sabbat - um 10 Uhr eine Ansprache auf dem Berg, am See oder dem Marktplatz gehalten. Er war da, wo die Menschen waren, um sich ihren Nöten und Sorgen anzunehmen.
Macht sich "die Kirche" wirklich keine Gedanken über den sonntäglichen Gottesdienst? Die Pfarrer und Pfarrerinnen werden monatlich bezahlt, mit garantierter Pension, ob 2 oder 20 Besucher in der für 200 vorgesehenen Kirche sitzen. Es gibt keine Erfolgskontrolle, kein Qualitätsmanagement, bis zur Rente ....
Wie großartig die mutigen Pfarrerinnen und Pfarrer, die rausgehen und sich stellen, sich kümmern, zuhören, anpacken und helfen, wo es nötig ist. Ich bin wirklich begeistert und freue mich darüber. Ich wünsche und hoffe, dass derartige Initiativen überall angegangen werden. Nur auf diese Art wird "die Kirche" eine Überlebenschance haben.
Mit freundlichen Grüßen
Matthias Koch
Düsseldorf

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Ich stehle nicht, ich töte nicht und ich glaube nicht. Mein Leitsatz.

Warum sollte ich an einen Gott glauben, unsichtbar und schon längst tot, falls er gelebt haben sollte? Jeder Mensch stirbt nach
spätestens 100 Jahre und ein zu Mensch gewordener Gott soll uralt sein? Also immer noch frisch dreißig mit Kenntnissen vor
2000 Jahren? Und wenn, interessiert er sich für den Menschen, die sich gegenseitig abschlachten, belügen und betrügen? Dein Reich komme, nein, es ist schon längst da, das Schlachtfeld.

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