Gedenken an die Opfer des Anschlags vor der Johanniskirche in Magdeburg
Gedenken an die Opfer des Anschlags vor der Johanniskirche in Magdeburg. Im Vordergrund die Skulptur "Mutter mit Kind" des Bildhauers Heinrich Apel
John Macdougal/AFP/Getty Images
Seelsorge nach dem Anschlag in Magdeburg
Seid nicht nur besonnen!
Nach Terrorakten rufen Politiker und Kirchen meist schnell zur Mäßigung auf. Dafür gibt es gute Gründe. Aber brauchen traumatisierte Menschen nicht erstmal Orte, an denen sie auch wütend sein dürfen?
(Berlin) 11.02.16; Dr. Johann Hinrich Claussen, Portraet, Portrait; Kulturbeauftragter des Rates der EKD, Leiter des EKD-Kulturbueros, evangelischer Theologe Foto: Andreas Schoelzel/EKD-Kultur. Nutzung durch und fuer EKD honorarfreiAndreas Schoelzel
03.01.2025
4Min

Nicht selten habe ich Mitleid mit denen, die sich sofort nach einem großen Unglück öffentlich äußern müssen (oder meinen, es zu müssen). Was sollen sie von sich geben außer Floskeln? Auch jetzt ist es eigentlich noch zu früh, um über das zu sprechen, was in Magdeburg geschehen ist. Ich versuche es trotzdem mit drei Gedanken.

Auf den ersten Gedanken hat mich vor vielen Jahren Hans Magnus Enzensberger gebracht. In einem Essay stellte er die These auf, dass im Herzen des Terrorismus – nichts ist. Natürlich werde jede Gewalttat, die die Öffentlichkeit in Schock versetzen will, mit einer Ideologie umkleidet: linken Utopien einer gerechten Gesellschaft, rechten Träumen einer einheitlichen Nation, islamischen Verheißungen eines Gottesstaates.

Doch davon sollte man sich nicht täuschen lassen, denn das, was im Herzen dieser besonderen Form von entgrenzter Gewalt liegt, ist eine eigentümliche Leere, ein brutalisiertes Garnichts. Nach allem, was man über den Attentäter von Magdeburg weiß, könnte dies eine hilfreiche Spur sein. Allerdings ist Enzensbergers These immer noch schwer auszuhalten. Denn wie soll man mit solch einem Nichts umgehen, es durchdenken oder gegen es anarbeiten? Man steht vor einer absoluten Irrationalität des Bösen. Viele der ersten Reaktionen auf das Attentat wirken deshalb wie hilflose Versuche des Rationalisierens. Verzweifelt und vergeblich sucht man nach Gründen, um die schreckliche Sache irgendwie gedanklich in den Griff zu bekommen.

Auf einen zweiten Gedanken brachte mich ein Kollege, der sich sehr viel besser als ich in der Notfallseelsorge auskennt. Er brachte mir ein neues Wort bei: "Politicodizee". Was ist damit gemeint? Früher, in stärker religiös geprägten Zeiten, wurde nach Katastrophen die Theodizee-Frage gestellt: Wie konnte Gott, der doch allmächtig, gerecht und barmherzig sein soll, solch ein Übel zulassen?

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Heute wird eher danach gefragt, warum der Staat eine Gewalttat nicht verhindern hat. Manchmal ist diese Frage berechtigt, etwa wenn ein Gewalttäter in Haft sitzen oder außer Landes sein sollte. Manchmal aber geht diese Frage ins Leere, weil der Staat, anders als die immer noch sehr staatsgläubigen Deutschen meinen, eben keineswegs allmächtig ist. Doch wirkt es befremdlich, wie schnell die öffentliche Debatte den nackten Schrecken hinter sich lässt und sich dem üblichen politischen Streit zuwendet. Dann rechtfertigen die einen Staat und Regierung, während andere ihr Ende beschreien. Ein Gutes aber hat diese Wende zur Politicodizee für den Glauben. Er wird nicht mehr dazu benutzt, um Unerklärliches zu erklären, sondern er kann Menschen zusammenbringen, ihnen einen Ort für ihre Trauer geben und ihre Seelen stärken. So wie es in und vor dem Magdeburger Dom geschehen ist.

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Mit der Politicodizee hängt ein dritter Gedanke zusammen, der mich umtreibt. Zunehmend irritiert mich, dass politische, journalistische und kirchliche Stimmen nach einem solchen Terrorakt sofort, wie instinktiv, zur Besonnenheit mahnen. Natürlich gibt es dafür gute Gründe. Rechtsextreme warten allzu sprungbereit darauf, aus jedem Unglück Kapital zu schlagen und gegen Minderheiten zu hetzen. So ist es auch in Magdeburg gewesen.

Mir selbst ist die Besonnenheit eine besonders liebe Tugend. Sie hilft mir, mich in Konflikten oder Katastrophen an ihr zu orientieren. Aber gegen meine persönliche Neigung und pastorale Grundeinstellung frage ich mich, ob die Aufforderungen zur Besonnenheit nicht zu oft und zu schnell kommen und letztlich bloß der Politicodizee dienen, aber die Betroffenen übersehen.

Ein Trauma, eine akute Trauer lässt sich nicht so leicht domestizieren. Es geht hier um einen Lebensbruch und einen radikalen Kontrollverlust. Wer dürfte es den Betroffenen da verdenken, wenn sie mit jäher Angst, wildem Schreien, unstillbaren Tränen, heißem Zorn und sogar Rachegedanken reagierten? Oder haben die Verantwortungsträger Angst vor Betroffenen, die sich emotional nicht kontrollieren lassen? Dabei wäre die Irrationalität ihrer Trauer, Verzweiflung und Wut doch eine angemessene Antwort auf die Irrationalität der terroristischen Gewalt. Inzwischen überlege ich, ob man sich mit solchen Aufrufen zu Mäßigung und Beruhigung nicht eine Weile zurückhalten sollte.

Denn damit diese guten bürgerlichen Tugenden wieder im Mittelpunkt stehen, dauert es seine Zeit. In der akuten Trauer und Traumatisierung dagegen braucht es Orte, in denen Betroffene sich aussprechen und auch ausschreien können. Es wäre gut, wenn dafür nicht nur rechtsextreme Demonstrationen bereit stünden. Die Kirchen sollten auch ein Ort für derart weniger erbaulichen Gefühle sein.

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Kolumne

Johann Hinrich Claussen

Auch das Überflüssige ist lebens­notwendig: Der Autor und Theologe Johann Hinrich Claussen reist durch die Weiten von Kunst und Kultur