Manchmal tauchen in der öffentlichen Debatte neue Begriffe auf und werden nach wenigen Monaten bereits inflationär verwendet. So ging es einem mit dem "Narrativ". Zuvor ein eher exotischer Begriff der Kulturwissenschaften, scheint er plötzlich in jedem zweiten Zeitungsartikel aufzutauchen: Die Rechtspopulisten entwickeln ein "alternatives Narrativ", dem das "liberale Narrativ" von Demokratie und Marktwirtschaft gegenübersteht.
Es gibt das Narrativ vom Aufstieg Chinas, und der Klimawandel könnte den Bezugspunkt für ein neues Narrativ liefern, das mit den klassischen Denkfiguren der menschlichen Hybris und der nötigen Umkehr in eine geläuterte Zukunft arbeitet. "Narrativ" heißt dabei zunächst nichts anderes als "Erzählung", also die Geschichte, die Story, die erzählt wird.
Weitet man den Blick, entdeckt man in der Gegenwart überall solche Narrative. Auch Unternehmen bemühen sich um ein Storytelling für ihre Marken und Waren, ob es um Restaurants oder um Automarken geht. Städte müssen im überregionalen Attraktivitätswettbewerb ebenfalls an ihrer Erzählung arbeiten: Das Ruhrgebiet beispielsweise versucht, sich als eine Region darzustellen, die den Wandel von der Industrie- zur Wissenskultur geschafft hat. Auch Schottland oder Katalonien entwickeln im politischen Diskurs ihre eigenen Herkunftsgeschichten. Schließlich versuchen die Individuen, ihre Biografie in eine in sich stimmige Geschichte zu bringen.
Andreas Reckwitz
Dieser Aufstieg der Narrative hängt eng mit der "Gesellschaft der Singularitäten" der Gegenwart zusammen: Man erwartet von Menschen, Dingen, Orten oder Gemeinschaften, dass sie auf ihre besondere, einzigartige Weise attraktiv, dass sie singulär sind – und dies gelingt ihnen über identifikationsstarke Erzählungen.
Allerdings hat die Rede von den Narrativen mittlerweile häufig einen distanzierten Unterton. Das sind ja nur Geschichten! Die Erzählung als geschickt verpackte Lüge, als Inszenierung des bloßen Scheins – die Fakten als Wahrheit, auf diese Gegenüberstellung könnte man leicht verfallen. Man denke nur an den früheren "Spiegel"-Redakteur, der Teile seiner Reportagen schlichtweg erfunden hatte.
Allein: Eine Abwertung des Erzählens wäre zu einfach. Informationen und Erzählungen sind zwei ganz verschiedene Formen, sich mit der Welt auseinanderzusetzen. Fakten können Erzählungen nicht ersetzen. Kultur bildet sich über Narrative, nicht über bloße Informationen, so dass eine Gesellschaft ohne Erzählungen nicht denkbar ist.
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Von Beginn an haben sich Menschen Geschichten erzählt. Die Mythen, die Kosmologien, die Religionen waren komplexe Narrative, sie stellen Sinnzusammenhänge zur Verfügung, um Geburt, Tod, Katastrophen, Freude, Kriege nachvollziehen zu können. Es sind Geschichten des Aufstiegs und Niedergangs, des Leidens und Standhaltens, des Triumphs und der wunderbaren Wendungen.
Die moderne Gesellschaft, die in Europa mit der Aufklärung, den technischen Revolutionen und der Industrialisierung einsetzte, hat sich die kritische Zerstörung der alten Menschheitserzählungen auf die Fahnen geschrieben. Die Moderne proklamiert stattdessen die Herrschaft des Wissens und der Fakten und wertet die alten Erzählungen als vermeintliche Fragen des Glaubens ab. So wurden viele alte Narrative verdrängt – aber zugleich neue Erzählmuster dominant.
Das ist nicht überraschend: Die moderne Wissenschaft mag noch so viele Informationen vermitteln, doch den einzelnen Fakten fehlt der sinnhafte Zusammenhang. Ja, gerade in der Moderne hat man einen ungeheuer großen Bedarf an sinnstiftenden Geschichten: Denn nie zuvor haben die Menschen so intensiv über ihr eigenes Leben nachgedacht, wie wir es heute tun. Die Frage lautet also nicht, ob wir ohne Narrative auskommen, sondern auf welche Erzählmuster wir zurückgreifen, um unser Leben wie die Gesellschaft als ganze zu verstehen.
Die fundamentale Erzählung, die uns die Moderne zur Verfügung stellt, ist nun die des Fortschritts. Wir wachsen selbstverständlich damit auf – im Geschichtsunterricht, in der politischen Debatte, in der Wirtschaft oder in den psychologischen Ratgebern. Uns wird suggeriert, es sei normal, dass die Entwicklung von Gesellschaften dem Muster eines "Besser" und "Mehr" folgt und stetig voranschreitet zu mehr Gesundheit und mehr technischem Komfort, zu mehr Wirtschaftswachstum, zu mehr Lebensqualität und mehr Emanzipation.
Das Deutungsmuster des Fortschritts prägt auch das Selbstverständnis der Individuen: Ob im Mythos des Selfmademan oder im Alltag der Selbstoptimierung – der moderne Mensch geht davon aus, dass es in seinem Leben vorangeht, dass er gewinnt, nicht verliert.
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Doch die Erzählung vom Fortschritt ist überraschend dünn. Drückt sie nicht den naivsten nur möglichen Glauben aus, nämlich dass sich alles zwangsläufig zum Positiven entwickelt? Ein solch simples Erzählmuster kann nicht die Komplexität der menschlichen Erfahrungen in ein nachvollziehbares Muster bringen. Das ist in den vergangenen Jahrzehnten immer deutlicher geworden. Der Klimawandel zeigt, dass das Wachstum an Wohlstand seine eigenen Grundlagen untergräbt.
In Zukunft wird man auf manche liebgewordenen Gewohnheiten und Anblicke – von der Autofahrt über windräderfreie Landschaften bis zum Fleischverzehr – verzichten müssen.
Zudem hat der Strukturwandel von der industriellen zur postindustriellen, globalisierten Gesellschaft Verlierer hervorgebracht. Durch die Deindustrialisierung, die Digitalisierung und die Konzentration auf die Metropolregionen sind Arbeitsplätze und Sicherheiten weggefallen, kleinstädtische und ländliche Regionen in Deutschland, Frankreich und den USA drohen "abgehängt" zu werden. Europa und Nordamerika hatten sich daran gewöhnt, an der Spitze des Fortschritts zu stehen und dessen Gewinne einzuheimsen. Nun ist der Westen offenbar dabei, diesen Status im globalen Wettbewerb an Ostasien zu verlieren.
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Wie schal der Glaube an den Fortschritt ist, wird jedem auch in der eigenen Biografie immer wieder bewusst: Wer kann schon behaupten, sein Leben sei eine einzige Erfolgsgeschichte? Allem medizinischen Fortschritt zum Trotz sind viele Zivilisationskrankheiten nur bedingt heilbar. Auch die hohen Ansprüche an Partnerschaften und Familien bringen Enttäuschungen mit sich. Und beruflich fördert der Wettbewerb und der ständige Vergleich mit den Erfolgen der anderen nicht die Zufriedenheit.
Doch wohin mit den Enttäuschungen, wenn überall Fortschritt gepredigt wird? Die Potenzierung von Aggressionen im "Zeitalter des Zorns", wie es der indische Schriftsteller Pankaj Mishra formuliert, lässt sich auch als Ausdruck der Frustration verstehen angesichts von Fortschrittsversprechen, um die man sich betrogen fühlt. Allzu schnell hantieren etliche dann mit dem anderen Extrem, der katastrophischen Erzählung vom gesellschaftlichen Niedergang.
Die Anforderung an die Gegenwartskultur lautet deshalb: Welche Narrative können wir entwickeln, um in reifer und erwachsener Weise auch mit Verlusten umzugehen? Wie können wir Enttäuschungen, Katastrophen und Rückschritte in Erzählungen einbetten, die Sinn ergeben? Wir müssen an neuen Erzählmustern arbeiten, die auch auf ambivalente Erfahrungen und Widersprüche Antworten geben.
Traditionelle Kulturen waren hier manchmal klüger als der moderne Fortschrittsmythos: Religionen haben ausgefeilte Erzählmuster entwickelt, um mit Verlusten und Enttäuschungen umzugehen. Und in der Volkskultur haben selbst die Märchen erstaunlich komplexe Weisheiten in scheinbar einfache Geschichten gepackt. Die säkularen Gesellschaften werden nicht einfach darauf zurückgreifen können, aber die Herausforderung wird darin bestehen, auch in der verwissenschaftlichten Welt komplexe und negative Erfahrungen auf konstruktive Weise narrativ einzubetten. Wie wir mit den Folgen des Klimawandels umgehen, ist der in dieser Hinsicht wahrscheinlich wichtigste Prüfstein.
Eine erste Version des Textes erschien am 20. Dezember 2019.
Das Ende der Illusion
Zitat: "Die Moderne predigt den Fortschritt. Doch er treibt uns in die Erschöpfung und zerstört die Umwelt. Höchste Zeit für ein neues Narrativ".
Da ist nachzuhaken. Fortschritt war schon immer. Er ist keine Frage und Folge der Moderne. Was das Narrativ "Moderne" auch immer sein mag, der Fortschritt ist der bisher „erfolgreiche“ Teil der Evolution unserer Zivilisation. Bisher ist aber nicht immer. Die Entwicklung hat vermutlich einen naturgesetzlichen Charakter. Leben beutet nicht nur die Vernichtung unserer Lebenszeit, sondern auch den Verbrauch von Ressourcen. Davon sind am wenigsten die natürlich nachwachsenden Rohstoffe betroffen. Reicht aber deren Vervielfältigung, deren Produktion nicht mehr ökologisch sinnvoll zur Versorgung der durch die Folgen der Zivilisation erhöhten Zahl der Bedarfsempfänger aus, geht das zwangsläufig an die Substanz. Das Narrativ der unverbesserlichen Ökonomen besteht in dem Glauben dran, dass es durch noch nicht denkbare Erfolge von Naturwissenschaften und Technik möglich sein wird, ein stetes Wirtschaftswachstum als Garantie für ein weltweites Konsumparadies zu generieren. Diese imaginäre Aussicht beflügelt auch die Parteien zu ihren Wahlversprechen und die Wähler zu der irrigen Annahme, dass alles durch die richtige Wahl der Ideologien und Parteien möglich ist. Die Endlichkeit aller Ressourcen wird dabei geflissentlich ausgeblendet. Es könnte stören. Dass aber, um Schlimmeres zu vermeiden, auch der Rückschritt ein Fortschritt sein könnte, fällt allen nicht ein. Ob dieses Narrativ, wenn es denn eine allgemeine Anerkennung finden sollte, dann auch demokratiefähig ist, darf bezweifelt werden.
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