"Wir streiten zu viel, so geht das nicht weiter!" Das ist die häufigste Klage, mit der Paare in die Therapie kommen. Noch nie habe ich erlebt, dass ein Paar kommt und klagt: "Wir streiten zu wenig!" Obwohl das durchaus angebracht wäre, denn dann hätten die jetzt schier unüberwindbaren Verteidigungsanlagen gar nicht gebaut werden müssen, hinter denen sich die Partner verschanzt haben. Man hat sich, beispielsweise, angesichts von aufkommenden Differenzen im Bedürfnis nach Zärtlichkeit oder Sex nicht gestritten, sondern gewartet und gewartet, während die Entfremdung immer tiefer wurde.
Die Erwartung an den Paartherapeuten ist entsprechend: Er soll darauf hinwirken, dass weniger gestritten wird. Ich versuche dann so humorvoll wie möglich darzulegen, dass nicht der Streit in einer Beziehung das Problem ist, sondern seine Eskalation in Perioden der Versöhnungslosigkeit. Je stärker sich dieser beleidigte Rückzug ausprägt, desto wahrscheinlicher ist auch, dass in dem betroffenen Paar auch liebevolles Verhalten über längere Zeit hin entwertet und bestraft wird. Es macht die Beziehung einfach nicht besser, wenn die Seite, die den lieblosen Zustand schlechter erträgt, nur mit dem bitteren Beigeschmack zur Versöhnung aufrufen kann, klein beizugeben, sich zu erniedrigen, zu Kreuze zu kriechen.
Wolfgang Schmidbauer
Der bei günstiger Gelegenheit ausgetragene, aber ohne nachhaltige Beleidigung geführte Streit bedeutet für die Liebe das Gleiche wie ein Saunagang oder eine kalte Dusche für das Immunsystem. Ich werde aus meinem lauen Behagen herausgerissen und einem Reiz ausgesetzt, der erst einmal nicht angenehm ist. Wer die Zone seiner Bequemlichkeit grundsätzlich nicht verlässt, versäumt es auch, die körpereigene Abwehr zu trainieren.
Die unbekannten Erfinder des Sprichworts "Was sich liebt, das neckt sich" haben es auf den Punkt gebracht. Dauernde Harmonie ist schön und gut. Aber wer kann sicher sein, dass sie auf einem festen Fundament ruht und nicht auf Selbstverleugnung und Überanpassung? Sie bringt die Gefahr mit sich, dass grundsätzlich jede Disharmonie als gefährlich erlebt und vermieden wird.
Menschen sind nun einmal verschieden. In der modernen Gesellschaft sind alle gefordert, Persönlichkeit zu haben, unverwechselbar zu sein. So wachsen die Reibungen mit der Nähe. An sich müsste ein Paar an der Schwelle zu mehr Nähe und Bindung auch einen kleinen Kurs hin zu mehr Streitkunst machen, um sie unbeschadet zu überschreiten.
Solange wir uns nur am Wochenende sehen, gelingt es vielleicht noch, das fassungslose Staunen oder den keimenden Ärger zu beschweigen, wie wenig selbstverständlich mein Selbstverständliches für die Person ist, mit der mich das Konglomerat "Liebe" verbindet.
Wenn Liebe wichtig ist und die Fähigkeit zur Liebesbeziehung von höchster Bedeutung für das eigene Selbstgefühl, dann wird sich in einer Leistungsgesellschaft der Wettstreit entspinnen, wer mehr, besser, stärker, gescheiter liebt. Diese Rivalität bringt das oft zitierte "Semmelpaar" dazu, die jeweils begehrte Hälfte abzugeben, um nicht egoistisch zu scheinen. Nach Jahren entdeckt das Paar, dass jede(r) von ihnen die bevorzugte Hälfte des Frühstückbrötchens weggegeben hat. Der eingestandene Egoismus, der riskierte Streit ließe zwei Gewinner zu. Der verleugnete Egoismus produziert zwei Verlierer.
Wir werden älter, schwindet damit auch die Lust? Ein chrismon-live-Webinar über Erotik im Alter
Zwei Professoren der Universität Greifswald, der Pharmakologe Hugo Paul Friedrich Schulz und der Psychiater Rudolf Arndt, entwickelten um 1899 eine vielfach (aber nicht durchweg) gültige Regel: Schwache Reize fachen die Lebenstätigkeit an, mittelstarke Reize fördern sie, starke hemmen sie, stärkste heben sie auf. Für den Streit in der Liebe gilt das auf jeden Fall: Er belebt in kleiner Dosis und lähmt, wenn nach dem Kampf die Versöhnung ausbleibt. Dem romantischen Ideal ganz und gar gerecht zu werden, ist hoffnungslos und darf deshalb nicht ernst genommen werden.
Ohne Humor ist der Widerspruch zwischen Reibung an der Differenz und Sehnsucht nach Verschmelzung nicht zu bewältigen. Ich habe kein Problem mit dir, denn ich liebe dich so, wie du bist – schön wär’s, aber ich habe doch ein Problem, wenn du schnarchst oder schmatzt, wenn du für Unsinn Geld ausgibst, wenn du trödelst, wenn du deine Socken auf dem Teppich liegen lässt und deine Schamhaare in der Dusche . . .
"Streit verträgt sich schlecht mit Geschrei und gar nicht mit körperlicher Gewalt"
Die Kunst des Streitens läuft darauf hinaus, beides in der Schwebe zu halten, die Liebe und die Störung, den Konflikt weder zu leugnen noch so anwachsen zu lassen, dass er zerstört, was doch halten sollte, vertreibt, was bleiben müsste.
Belebender Streit zeigt, dass ich aufmerksam bin für mein Gegenüber und Freude daran habe, mich an ihm zu reiben. Er darf unbehaglich sein, aber nicht bedrohlich, er verträgt sich schlecht mit Geschrei und gar nicht mit körperlicher Gewalt. Er muss nicht kränkungsfrei sein, das kann nicht funktionieren. Aber belebend ist der Streit nur, wenn er dem Paar auch hilft, genauer einzuschätzen, wie der oder die andere die Kränkung verarbeitet. Und immer muss die Bereitschaft, um Entschuldigung zu bitten und sich zu versöhnen, stärker sein als die Neigung, sich beleidigt zurückzuziehen und zu schmollen.
Lesetipp: kleine Liebesgeschichte von Schriftstellerin Julia Schoch
Das setzt voraus, dass der Beziehungspapst abgeschafft wird, der exkommunizieren und so den Gang nach Canossa erzwingen kann. Wenn es einem der Streitenden zu viel ist, wird jede Bitte um Frieden erfüllt, aber auch nicht nach einem Angreifer gesucht, der die Schuld am Streit auf sich nehmen soll. Wer um Verzeihung gebeten wird, sollte sie gewähren, ehe es Nacht wird. Liebende können einander nicht passend formen, aber sie können sich kennenlernen und herausfinden, wo die Reibungspunkte sind.
Diese Punkte brauchen Aufmerksamkeit, denn sie sind ein wichtiges Übungsfeld. Kluge Paare ahnen das und nutzen sie, um herauszufinden, wie sie Differenzen einerseits zulassen, auf der anderen Seite aber auch überbrücken können. Die Phase der Verliebtheit zu Beginn unserer erotischen Bindungen ist riskant, weil in Überschwang und grenzenloser Bewunderung geblähte Liebesgefühle wie eine Seifenblase platzen, wenn die Illusion grenzenloser Harmonie nicht mehr funktioniert.
Lesetipp: "Wie die Kinder" - Wolfgang Schmidbauer interpretiert die Bibel
Wer sich aus Verlustangst verbietet, über solche Enttäuschungen zu sprechen, ist auf einem gefährlichen Weg. Wenn er oder sie sich genötigt fühlt, jede kleine Schwäche abzulegen, um die Harmonie nicht zu stören, gerät die Liebe unter wachsenden Druck. Es gibt dann keine harmlosen Liebesfehler mehr, sondern nur noch Katastrophen.
Wenn der kleine Ärger ausgedrückt werden kann, lernen Partner, dass es auch in der Liebe Ärger gibt. Sie verarbeiten die Krise und finden mehr Sicherheit in ihrer Beziehung, denn sie erfahren, dass ihre Zuneigung stärker ist als der eine oder andere Konflikt. Das Paar, das nie streitet, ist unterirdisch mit dem Paar verbunden, das nur streitet – denn dieses kann nicht aufhören zu streiten, weil jede Seite absolut überzeugt ist, ganz genau zu wissen, wer die Paarharmonie kaputt macht und die Schuld daran zu tragen hat, dass nur noch Vorwürfe zirkulieren.
Tiere und Kinder sind ein für erwachsene Liebende kaum erreichbares Vorbild, was die Vereinbarkeit von Liebe und Streit angeht. Wenn der Wolf der Wölfin zu nahe kommt, knurrt sie und zeigt die Zähne. Sie sagt nicht, dass er uneinfühlsam oder sexsüchtig ist. Wie oft habe ich meinen zwei Jahre älteren Bruder angeheult, dass ich nie wieder mit einem so hundsgemeinen Kerl spielen will – und am nächsten Morgen doch wieder mit ihm gespielt.
Paare können viel von Wolf oder Kind lernen. Oft erleben sie eine Zurückweisung in der Liebe als Vorwurf und Hinweis auf einen Mangel an Anziehungskraft, vor allem, wenn die Zurückweisung mit Werturteilen begründet wird. Also beschließen sie stumm, von nun an ihr Gegenüber wochen- oder monatelang ebenso abblitzen zu lassen, wie es soeben ihnen passiert ist. Am Ende wird dann nicht gestritten, aber auch nicht mehr geliebt.
Eine erste Version des Textes erschien am 20. Juli 2021.